Die Russische Revolution: Ein Meilenstein für die LGBTQ-Community

Mitglieder eines privaten „Gay-Clubs“ in Petrograd 1921, Foto: Public Domain

Rezension des Buchs „Homosexual Desire in Revolutionary Russia“ von Dan Healey

von Edmund Schluessel, „Sosialistinen Vaihtoehto“ (Schwesterorganisation der Sol und Sektion des CWI in Finnland)

Die sozialistische Oktoberrevolution von 1917 führte zu fundamentalen und kompromisslosen Veränderungen in der russischen Gesellschaft. Im größten Land der Erde genossen Millionen von Menschen plötzlich viel mehr Freiheiten als sie unter dem despotischen und antisemitischen Zaren, den Einschränkungen der Kirche und der Brutalität des russischen Kapitalismus und Großgrundbesitzertums je zu träumen gewagt hätten. Neben der Tatsache, dass die Arbeiterklasse die Kontrolle über die Wirtschaft des Landes übernahm, führte die Russische Revolution auch zu beispiellosen Fortschritten, was die Befreiung der Frau und der Angehörigen der LGBTQ-Community angeht. In seinem neuen Buch „Homosexual Desire in Revolutionary Russia: The Regulation of Sexual and Gender Dissent“ (dt.: „Homosexuelle Wünsche im revolutionären Russland – der Umgang mit abweichender sexueller Neigung und Geschlechterzugehörigkeit“; im Taschenbuchformat für 47,41€ bisher nur in engl. Sprache erhältlich; Anm. d. Übers.) untersucht der aus Wales stammende Oxford-Professor Dan Healey den Kampf der LGBTQ-Community in der Russischen Revolution, die historischen Errungenschaften, die unter Lenin und den Bolschewiki erreicht werden konnten, sowie die später einsetzende Umkehr unter Stalin mit der Rückkehr zu staatlicher Verfolgung und einem sexistisch-homophoben Moralismus.

Große Fortschritte

Am bekanntesten ist sicherlich, dass die Russische Revolution für Homosexuelle das Ende der Strafverfolgung einläutete. Dafür sorgte ein Gesetz, das in Europa bis heute beinahe einzigartig ist und für ein Land, in dem damals in vielen Gebieten noch halb-feudale Strukturen herrschten, erstaunlich fortschrittlich war. Schließlich gehörten religiös begründete Hierarchien in den besagten Regionen Russlands über Jahre und Jahrhunderte hinweg zu den Grundpfeilern staatlicher Gewalt. Healey informiert über längst in Vergessenheit geratene und sogar verheimlichte Fakten, die für noch wesentlich weiter reichende Fortschritte stehen. So war die frühe Sowjetunion der erste industrialisierte Staat, der die gleichgeschlechtliche Ehe anerkannt hat. Was die operative Geschlechtsumwandlung angeht, war die UdSSR neben der „Weimarer Republik“ einen kurzen Zeitraum lang weltweit führend. MedizinerInnen aus der Sowjetunion, die mit Transsexuellen zusammenarbeiteten, begannen damit den Ansatz zu untersuchen, wonach es sich bei der Frage nach dem Geschlecht nicht um die bloße Unterscheidung von Mann und Frau sondern vielmehr um ein breiteres Spektrum handelt.

Selbst als reformistische SozialistInnen wie die AnhängerInnen von Karl Kautsky am Anfang des 20. Jahrhunderts konservative Ansichten bezüglich der Sexualität vertraten, drängten die Bolschewiki in Russland weiter voran. Der Grund dafür war, dass sie sich auf eine Bewegung gründeten, die von unten nach oben aufgebaut war. Die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe war nahezu als organische Entwicklung entstanden: Zwei Menschen des auf rechtlicher Ebene als gleich geltenden Geschlechts wollten heiraten, und als Folge der Russischen Revolution kamen die örtlichen Gerichte und BeamtInnen rasch zu der Schlussfolgerung, dass es keine Grundlage dafür gibt, einen solchen Wunsch zu verwehren.

Healey beschäftigt sich sehr ausführlich mit dem Fall einer der beiden Personen, die in diesem Fall die Hauptrolle gespielt haben. So war der als „Jewgeni Fjodorowitsch M.“ Bezeichnete bei seiner Geburt für weiblich erklärt worden. Bis zur Russischen Revolution kämpfte Jewgeni Fjodorowitsch mit seiner sexuellen Identität und der mangelnden Unterstützung seiner Familie. Erst durch die Russische Oktoberrevolution erhielt er die Möglichkeit, als Mann zu leben. Als politischer Referent, weit entfernt von seinem Geburtsort arbeitend, ging er schließlich vor Gericht und heiratete eine Frau, die als „S.“ bezeichnet wird und mit der er eine Familie gründete. Tragischer Weise führte die Abordnung von Jewgeni Fjodorowitsch in einer andere Stadt zur Trennung der beiden. Aufgrund eines psychischen Leidens, verfiel er später dem Alkoholismus.

Revolutionäres Umdenken hinsichtlich Geschlechter- und Gender-Zugehörigkeit

Die Gespräche, die Jewgeni Fjodorowitsch mit sowjetischen PsychiaterInnen geführt hat, bildeten die Grundlage für eine revolutionäre politische Analyse über Begriffe wie biologisches Geschlecht und soziales Geschlecht. Im sechsten Kapitel seines Buches beschreibt Healey, wie sich die Haltung gegenüber gleichgeschlechtlichen Beziehungen in Russland von der Revolution bis zum ersten Fünf-Jahres-Plan (1932) sehr schnell verändert hat: von der Negation der Annahme, gleichgeschlechtliche Beziehungen seien „pervers“, über die Medikalisierung bis hin zur Erklärung des Biologen Nikolai Konstantinowitsch Kolzow, der sagte: „[…] es gibt kein Zwischen-Geschlecht sondern vielmehr eine unendliche Anzahl an Geschlechtern“.

Verschiedene sowjetische ÄrztInnen wurden in eine Expertenkommission berufen, und Ideen wie die von Kolzow fanden breite Unterstützung. Diese MedizinerInnen waren angetrieben durch die Erfahrungen aus der Praxis: Sobald in den frühen 1920er Jahren die ersten operativen Geschlechtsumwandlungen durchgeführt wurden, erstickten die praktischen ÄrztInnen förmlich vor Anfragen „einfacher“ RussInnen, die ihr ganzes Leben mit ihren eigenen Körpern in Konflikt gestanden hatten und endlich eine Lösung sahen.

Die stalinistische Reaktion

Während diese Ärzte-Kommission äußerst fortschrittliche Positionen zu den Themen Geschlecht und Geschlechter-Identität erarbeitete, konnten ihre Erkenntnisse nie zur Gänze umgesetzt werden. Mit der Machtkonsolidierung Stalins in den späten 1920er Jahren setzte eine feindselige Phase sozialer Reaktion ein. 1933 löste der Sowjetstaat die Kommission auf, und 1936 wurde Homosexualität in Russland wieder zum Straftatbestand. Das Erbe dieser Reaktion ist bis heute spürbar. Einige stalinistische Gruppierungen behandeln Themen wie Transgender-Identität, Transsexualität, Homosexualität und Bisexualität als „undialektische“ Zusammenhänge und treten sie mit Füßen.

Wie konnte es dazu kommen? Als die Arbeiterklasse nach 1917 die politische Macht übernommen hatte, begann sie so schnell wie möglich mit der umfassenden Transformation der russischen Gesellschaft. Die Befreiung der Frau von ihrer bisherigen Festlegung auf Hausarbeit stand an erster Stelle. Doch man stieß auf gewaltige Hürden, die auf die verheerenden Folgen des Ersten Weltkriegs und des sich anschließenden Bürgerkriegs zurückzuführen waren. Verstärkt wurden die Probleme dadurch, dass die Revolutionen in Westeuropa nicht siegreich waren und die Russische Revolution somit isoliert blieb. Auf diese Weise wurde einer konservativen Bürokratie Raum gegeben, und Stalin übernahm in den 1920er Jahren die Macht von der Arbeiterklasse. Die Kollektivierung der Wirtschaft wurde zwar beibehalten, doch die Bürokratie griff um sich. So entfernte man sich mehr und mehr von der Möglichkeit einer weltweiten Revolution, und in Russland bzw. der Sowjetunion versuchte man in zunehmendem Maße, die gesellschaftliche Basis des Regimes dadurch zu festigen, indem man sich auf reaktionäre Gesellschaftsvorstellungen zurückbesann. Dies galt für die Familie ebenso wie für die Rolle der Frau oder Fragen der Sexualität. Auch der russische Nationalismus wurde immer stärker angeheizt.

Schlimmer noch: Diese reaktionäre Haltung gegenüber der Sexualität macht sich das kapitalistische Russland von heute tragischer Weise genauso zu eigen. So versetzt z.B. die staatlich gedeckte Ermordung Homosexueller in Tschetschenien und eine stetig zunehmende Homophobie auf rechtlicher wie gesellschaftlicher Ebene im Russland unter Putin AktivistInnen weltweit immer wieder ins Schaudern.

Bei Healey handelt es sich übrigens nicht um einen Sozialisten. Sein Buch beleuchtet die faszinierende Geschichte der Befreiung der LGBTQ-Community in Russland/der Sowjetunion aus einem Blickwinkel, der seiner eigenen akademischen Betrachtungsweise entspricht. Ein großer Teil von Healeys Terminologie und die Art, wie er auf konventionelle Bezeichnungen zurückgreift, wirken im besten Falle überholt. Und dennoch verdienen die Personen, die er zum Gegenstand der Betrachtung macht, und die beeindruckenden Fortschritte, die auf sie zurückgehen, viel mehr als nur eine Fußnote. Gerade auch in den USA sollten wir an sie erinnern, wo einige Bundesstaaten unter der rechtsgerichteten Trump-Administration und den Mehrheiten der „Republikaner“ – trotz der bedeutenden Fortschritte, die auf die dortige LBGTQ-Community zurückgehen – wieder einmal auf eine Rechtsprechung setzen, die sich gegen die gleichgeschlechtliche Ehe ausspricht und die durch gezielte transphobische Gesetze gekennzeichnet ist, welche bis in die Intimsphäre hineinreichen.

Die besten, rationalsten und ethisch korrektesten Argumente oder Pläne zur Befreiung der LGBTQ-Community bedeuten nichts ohne eine Massenbewegung, die diese zu stützen vermag. Die historischen Errungenschaften im Bereich der Rechte der LGBTQ-Community, die nach der Russischen Revolution erreicht wurden, sind in der UdSSR unter Stalin aufgrund der konterrevolutionären politischen Ausbeutung der Arbeiterklasse tragischer Weise wieder verloren gegangen. Heute müssen sich die arbeitenden Menschen aller Geschlechter und sexueller Orientierungen bzw. Identitäten In den USA und weltweit als soziale Klasse zusammenschließen, um die rechts ausgerichteten Übergriffe zu stoppen und für volle Freiheiten zu kämpfen – nicht nur, was das Existenzrecht sondern auch was die Art zu lieben betrifft.