Revolution und Konterrevolution in Ostdeutschland
Vor 30 Jahren stürzten Massenproteste in der DDR die stalinistische SED-Herrschaft. Die Möglichkeit eines Weges jenseits von Stalinismus und Kapitalismus lag in der Luft. Heute wird in fast allen bürgerlichen Dokumentationen und Artikeln nur davon gesprochen, dass es damals für die Entwicklung der DDR keinen anderen Weg gab, als die Vereinigung mit der BRD und die Einführung der Marktwirtschaft.
von René Henze, Rostock
So einfach, wie die Bürgerlichen heute die Geschichte des Herbstes ’89 für sich und ihr System interpretieren, war es nicht. Geschichte ist nicht festgeschrieben – besonders wenn die Massen die Bühne betreten.
Die Bewegung begann pro-sozialistisch
Im Gegensatz zur Darstellung in der heutigen pro-kapitalistischen Berichterstattung, begann die DDR-Revolution pro-sozialistisch. Westberlins damaliger Regierender Bürgermeister Walter Momper (SPD) erkannte die zu diesem Zeitpunkt vorherrschende Stimmung: „Die Demokratiebewegung in der DDR hat ihre Freiheit nicht durchgesetzt, um unter das Patronat eines gesamtdeutschen Staates gestellt zu werden. Die kritischen und oppositionellen Gruppen wollen vielmehr soziale Demokratie und den dritten Weg eines demokratischen Sozialismus.“ (Neues Deutschland, 17. 11. 1989) Die größte und prominenteste Oppositionsgruppe, Neues Forum, erklärte am 1. Oktober 1989: „Für uns ist die ‚Wiedervereinigung‘ kein Thema, da wir von der Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgehen und kein kapitalistisches Gesellschaftssystem anstreben.“ In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau am 15 November 1989 erklärte einer der führenden Köpfe des Neuen Forums, Professor Jens Reich, „dass die Mehrzahl unserer Anhänger gegen eine kapitalistische Gesellschaft ist. Sie hätten lieber einen Wiederaufbau, eine Reform des Sozialismus, so dass er für die Mehrheit der Bevölkerung akzeptabel ist“. Und selbst die konservativere Oppositionsgruppe „Demokratischer Aufbruch – DA“, die sich später der CDU anschloss, verlautbarte am 2. Oktober, jetzt würden „Reform und Erneuerung des sozialistischen Systems in der DDR unvermeidlich.“ Bis in den November hinein war diese Stimmung bei den unzähligen Demos und bei den Oppositionsgruppen vorherrschend.
Die Ausgangslage
Der russische Revolutionär und Stalingegner, Leo Trotzki fragte in seinem Buch über den Aufstieg des Stalinismus, “Verratene Revolution”, 1936: „Wird der Beamte den Arbeiterstaat auffressen, oder der Arbeiter den Beamten bezwingen?“
Ende der 1980er zeigte sich im ganzen Ostblock, dass die stalinistische Bürokratie mit ihrer totalen Kontrolle die geplante Wirtschaft zerfressen hatte. Die Produktion stagnierte, ökonomische, soziale und ökologische Probleme nahmen zu. Als dann am 7. Mai 1989 die regierende SED die Kommunalwahlen fälschte. brach sich der Unmut Bahn. Zu offensichtlich war diese Fälschung. Oppositionelle Gruppen, die die Stimmenauszählung heimlich kontrollierten, wiesen nach, dass nur circa 75 Prozent der Stimmen an die SED-Liste gegangen waren, statt der offiziellen 98,85 Prozent.
Für heutige bürgerliche Parteien wären 75 Prozent grandios, nicht aber für die regierenden Stalinisten. Es wäre ein Ermutigung für oppositionelle Stimmen, die unkontrollierte und allmächtige Alleinherrschaft der Stalinisten in Frage zu stellen. Die Wahlfälschung war ein Wendepunkt.
Knapp einen Monat später lobte die SED-Spitze die militärische Niederschlagung der chinesischen Reform- und Protestbewegung am 4. Juni 1989. Vier Tage nach dem blutigen Massaker auf dem Tien’anmen-Platz in Peking verkündete im DDR-Parlament, der Volkskammer, der SED-Abgeordnete Ernst Timm unter Beifall: „Die Abgeordneten der Volkskammer stellen fest, dass in der gegenwärtigen Lage die von der Partei- und Staatsführung der Volksrepublik China beharrlich angestrebte politische Lösung innerer Probleme infolge der gewaltsamen, blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Elemente verhindert worden ist. Infolge dessen sah sich die Volksmacht gezwungen, Ordnung und Sicherheit unter Einsatz bewaffneter Kräfte wieder herzustellen. Dabei sind bedauerlicherweise zahlreiche Verletzte und auch Tote zu beklagen.“
Das war eine mehr als deutliche Warnung an die Opposition: Reformen und Zugeständnisse wird es nicht geben!
Ein Teil der Arbeiterklasse der DDR sah nur einen Weg: Flucht über Ungarn in den Westen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die ungarischen Stalinisten, aus Sorge vor Protesten im eigenen Land und und um die Versorgungslage zu verbessern, engere Wirtschaftsbeziehungen mit Österreich und der BRD aufgenommen und im Gegenzug die Grenze zu Österreich geöffnet. Hunderttausende DDR-Bürger*innen nutzten diesen Weg, um sowohl den trüben und leeren Ladenregalen, der tristen Perspektive und der Allmacht der SED zu entkommen.
Montagsdemos
Doch die Mehrheit der DDR-Bevölkerung wollte nicht in ein für sie fremdes Land abhauen. Es sollte sich hier etwas bessern! Es sollte freier werden, über Versorgungsprobleme gesprochen werden und legale Reisemöglichkeiten geben.
Doch die SED-Führung bunkerte sich ein und als der Staats- und Parteichef Erich Honecker Anfang August von westdeutschen Reportern auf die Massenflucht über Ungarn angesprochen wurde, fragte er auf welche Massenflucht sie anspielen.
Gleichzeitig mit dem Erstarken des Unmuts in der Bevölkerung trat auch die Opposition offener auf. Überall tauchte der Ruf “Wir bleiben hier!” auf. Und mit dem “Wir sind das Volk” war kein völkischer Gedanke verbunden, sondern das zielte darauf, den Stalinisten die Legitimation zu nehmen, für und über die DDR-Bevölkerung hinweg zu sprechen.
Da die DDR-Opposition lediglich in den Kirchen Unterschlupf und Duldung fand, war es kein Wunder, dass die erste Demonstration in Leipzig nach einem Montagsgebet begann. Rund vierhundert Demonstrant*innen folgten am 4. September dem Transparent „Für ein offenes Land mit freien Menschen“. Da angesichts der international renommierten “Leipziger Messe” viel ausländische Presse im Zentrum Leipzigs war, sah man am Abend in ausländischen und westdeutschen Nachrichten, wie die allseits anwesende Staatssicherheit und Polizei vor laufenden Kameras Transparente herunterriss und die Demo aufzulösen versuchte. Zum ersten Mal erschallte laut der Ruf: „Stasi raus!“ Rund einhundert Personen wurden verhaftet – doch der Bann war gebrochen! Zwei Wochen später gingen schon 1500 auf die Straße. Am 25. September waren es 8000, eine Woche später 10.000 und am 9. Oktober schon 130.000.
Inzwischen setzte diese Bewegung der Montagsdemo auch in anderen Städten ein. Auch hier wuchsen von Montag zu Montag die Teilnehmer*innenzahlen. Doch Leipzig toppte alles. Denn dort waren es am 23. Oktober 300.000 und dann am 6. November eine halbe Million.
Die größte Demo fand allerdings am 4. November 1989 in Ost-Berlin mit rund einer Million statt.
Das Regime hängt in der Luft
Ein Stasi-Offizier gab am Beispiel Leipzig später zu Protokoll: „Am 9. Oktober überstieg ja erstmals die Zahl der Demonstranten alles, was man erwartet hatte. Selbst das, was wir nach den Berliner Ereignissen
[gemeint ist die Demonstration am 7. Oktober mit über 10.000
Teilnehmer*innen, R.H.]
im Ministerium für Staatssicherheit erwartet hatten, wurde auf eine eindrucksvolle, für uns damals beängstigende Art und Weise übertroffen. Noch nie sah man in der DDR so viele Menschen mit einer so eindeutigen Ausrichtung gegen das Herrschaftssystem.“
Schon 1936 schrieb Trotzki in seiner „Verratenen Revolution“ über einen möglichen Sturz der stalinistischen Machtclique: „Bei energischem Druck der Volksmassen und in diesem Fall unvermeidlicher Zersetzung des Regierungsapparats kann der Widerstand der Herrschenden sich als viel schwächer erweisen, als es heute scheinen möchte.”
Genau das passierte im Herbst 1989: Sobald die Massen auf die Straßen gingen, hing die stalinistische SED-Bürokratie buchstäblich in der Luft. Denn im Unterschied zu den Unternehmern im Kapitalismus, die materielle und gesellschaftliche Wurzeln haben, hatten die stalinistischen Funktionäre ihre Macht nur Kraft ihres Partei- und Staatsamtes – und das auch nur solange die Massen still hielten.
Räte, Gewerkschaften, Bürgerkomitees
Auch in den Betrieben entstanden unabhängige Initiativen. Im Rostocker Klinikum bildete sich beispielsweise ein „Klinikrat“, ein Zusammenschluss von Ärzt*innen, Schwestern und Pfleger*innen, weil sie „ein[en] Vertrauensverlust der Mitarbeiter zur Betriebs-, Gewerkschafts- und Parteileitung“ feststellten (Erklärung des Klinikrates Oktober 1989). Initiativen zur Gründung von Betriebsräten, die sich eher an dem westdeutschen Betriebsräte- und Mitbestimmungsmodell orientierten, entstanden, aber auch unabhängige Gewerkschaften, zum Beispiel südlich von Berlin, beim LKW-Hersteller „IFA“ und den Zulieferbetrieben.
Am weitesten jedoch gingen diese Prozesse im Tierpark und bei Bergmann-Borsig in Berlin, in einigen Leipziger Großbetrieben und im Rostocker Klinikum. Dort entstanden Ansätze zu „Arbeiterräten“, die in Richtung demokratische Kontrolle und Leitung der Betriebe gingen. Ebenso gründeten Berliner Auszubildende in ihren Betrieben „Lehrlingsräte“ und suchten diese stadtweit zu vernetzen.
Schüler*innen gründeten ebenfalls Rätestrukturen und erkämpften über diese DDR-weit den schulfreien Samstag. Aber auch an den Universitäten entstanden solche “Räte” und noch heute heißen in Ostdeutschland viele studentische Vertretungen “Student*innenRat”.
Selbst bei Teilen der Staatsorgane entstanden Komitees. Zum Beispiel wurden beim Stasi-Elite-Regiment, „F. Dziershinsky“ in Berlin die stalinistischen „Hardliner“ abgesetzt und eine Vertretung aus der Mannschaft gewählt. Im Januar 1990 wurde ein DDR-weiter Soldatenrat gegründet.
Desweiteren gab es unzählige Bürgerkomitees gegen Korruption, Machtmissbrauch, Stasi etc. In den Stadtteilen traten sogenannte Ortsräte der Einwohner*nnen zusammen, um lokale Entscheidungen mitzugestalten.
Fast alle Zutaten für eine sozialistische Demokratie waren vorhanden. Es ging um die unmittelbare Entstalinisierung und Demokratisierung der DDR-Gesellschaft und die Beibehaltung der „volkseigenen“ Betriebe.
Vorwärts zu Sozialismus…
Die Massen auf der Straße hatten zwar die SED-Herrschaft ins Wanken gebracht und reihenweise traten Hardliner wie der Staats- und Parteichef Erich Honecker ab – aber noch hatte die SED alles unter Kontrolle. Das einzige Zugeständnis waren die Runden Tische, an denen ab November Oppositionsvertreter*innen teilnahmen. Doch während dort geredet wurde, schalteten und walteten die Stalinisten in den entscheidenden Positionen weiter und keine der Oppositionsgruppen hatte den Mut – und das Verständnis – die Bürokratie komplett von der Macht zu verjagen.
Dazu wäre ein Aufruf an die Bevölkerung nötig gewesen, die verschiedenen Ansätze der Initiativen, Komitees, Räte, Gewerkschaften etc. DDR-weit zu vernetzen und in den Betrieben, Ämtern, Schulen, Unis etc. die Stalinisten von der Macht zu verdrängen und Vertreter*innen aus den Initiativen, den Beschäftigten und der Bevölkerung zu organisieren.
So hätte man nicht nur die DDR wirklich demokratisieren können, sondern auch den Weg für eine Reorganisation der Wirtschaft auf verstaatlichter Basis öffentlich und demokratisch entwickeln können.
Trotzki formulierte es so: “Es handelt sich nicht darum, eine herrschende Clique durch eine andere zu ersetzen, sondern darum, die Methoden zu ändern, nach denen Wirtschaft und Kultur geleitet werden. Das bürokratische Selbstherrschertum muss der Sowjetdemokratie Platz machen. Wiederherstellung des Rechts auf Kritik und einer wirklichen Wahlfreiheit ist notwendige Vorbedingung für die weitere Entwicklung des Landes. Das setzt voraus, dass den Sowjetparteien, angefangen mit der Partei der Bolschewiki, die Freiheit wiedergegeben wird und die Gewerkschaften wiederauferstehen. Auf die Wirtschaft übertragen bedeutet die Demokratie gründliche Revision der Pläne im Interesse der Werktätigen. Freie Diskussion der Wirtschaftsprobleme wird die Unkosten der bürokratischen Fehler und Zickzacks senken. Die teuren Spielzeuge – Sowjetpaläste, neue Theater, protzige Untergrundbahnen – werden zurücktreten zugunsten von Arbeiterwohnungen. Die ‘bürgerlichen Verteilungsnormen’ werden auf das unbedingt Notwendige zurückgeführt werden, um in dem Maße, wie der gesellschaftliche Reichtum wächst, sozialistischer Gleichheit Platz zu machen. Die Titel werden sofort abgeschafft, der Ordensplunder wird in den Schmelztiegel wandern. Die Jugend wird frei atmen, kritisieren, sich irren und reifen dürfen. Schließlich wird die Außenpolitik zu den Traditionen des revolutionären Internationalismus zurückkehren.“
Die Durchsetzung eines solchen Programms stand im diametralen Gegensatz zu den Interessen aller Teile der SED-Bürokratie. Ein solch völliger Machtverlust und vollständige Demokratisierung der Gesellschaft einschließlich des kompletten Verlusts aller materieller Privilegien war auch für die sogenannten „Reformer“ um Modrow in der SED eine Bedrohung. Ein solches Programm konnte sich nicht in der SED entwickeln und hätte auch nicht mit der SED (bzw. der im Dezember 1989 umbenannten „reformierten“ SED-PDS) umgesetzt werden können. Es wäre also nötig gewesen, dazu aufzurufen, dass die verschiedenen Initiativen, Räte, Komitees, Gewerkschaftsansätze und die Oppositionsgruppen sich DDR-weit vernetzen und demokratisch die Kontrolle und Leitung in den Betrieben, Einrichtungen, Städten und schließlich die Gesamt-Regierung übernehmen.
Der Autor dieser Zeilen, schrieb damals in der marxistischen Oppositionszeitung „Was tun!“, dass die Beschäftigten Betriebsversammlungen einfordern sollten, wo der SED-Parteisekretär und Betriebsleiter vor der Belegschaft offenlegen sollten, wo die Investitionen hingegangen und wie der Stand der Produktion ist. Der Sinn dieses Aufrufs war, die Unfähigkeit der meisten Betriebschefs offenzulegen und so den KollegInnen die Notwendigkeit, dass sie aus ihrer Mitte eine Leitung des Betriebes wählen müssen, darzulegen. Wir argumentierten dafür, dass die Kolleg*innen, Kontakt zu den Zulieferbetrieben, bzw. anderen Betriebsteilen im Kombinat aufnehmen sollten.
Ausgehend von einer Koordination der ArbeiterInnen schlugen wir die Erstellung von „Mängellisten“ vor. Darin sollte festgehalten werden, was alles für eine sinnvolle und reibungslose Produktion nötig ist. Mit solchen „Mängellisten“ in den Betrieben wäre auch eine „Neuausrichtung des Planes“ möglich gewesen. So hätte die Frage der vollständigen Veränderung der Machtverhältnisse konkret mit den Alltagserfahrungen und -auseinandersetzungen zusammengepasst.
… oder kapitalistische Konterrevolution
Der Revolution drohte die Konterrevolution aus zwei Richtungen. Einmal, dass die Stalinisten blutig wie in China im Juni, Prag 1968, oder 1981 in Polen mit dem Militärputsch zurückschlagen und ihre Macht wieder eisern festigen würden. Doch je weiter die Revolution ging, je mehr führende Staats- und Parteifunktionäre zurücktreten mussten, um so klarer wurde, dass die Hardliner ihr Selbstbewusstsein verloren hatten. Die Führer*innen der Oppositionsgruppen hatten jedoch kein Programm für eine Reorganisation von Wirtschaft und Gesellschaft in einer eigenständigen und sozialistischen DDR. In der breiteren Arbeiter*innenklasse sank immer mehr das Vertrauen in einen eigenständigen Weg der DDR.
Die zweite Möglichkeit der Konterrevolution tauchte ab November mehr und mehr auf: die Wiedereinführung des Kapitalismus. Auf den Leipziger Montagsdemos wurden im Oktober und besonders im November immer mehr Deutschlandfahnen gezeigt. Das war zu diesem Zeitpunkt aber republikweit noch eine Minderheit unter den Demonstrant*innen und den Oppositionsgruppen. Doch wurde dieser Weg immer offensichtlicher.
Aber auch hier leiteten die Stalinisten selbst die ersten Schritte ein. Der erste auf diesem Weg war die Maueröffnung am 9. November 1989. Innerhalb von Tagen sahen Millionen DDR-Bürger*innen die vollen Regale im Westen und den angeblichen Wohlstand der sozialen Marktwirtschaft.
Auch wenn die stalinistische SED zu diesem Zeitpunkt schon von den Massenprotesten zu Zugeständnissen, wie zum Beispiel der Reisefreiheit, gezwungen worden war, so kam ihr dieser Schachzug sehr gelegen. Denn zu diesem Zeitpunkt wurde immer bekannter in welchem Maße Korruption, Vetternwirtschaft und Karrierismus in der SED herrschten. Nicht nur in der Spitze wurden reihenweise Partei- und Staatsfunktionäre abgesetzt und teilweise sogar aus der Partei ausgeschlossen – das ging bis hinunter in die lokalen Gliederungen und Betriebe.
Insofern war der Zeitpunkt und die Maueröffnung selbst sicher bei einem Teil der Funktionäre nicht ohne Kalkül gewählt.
Dann, am 17. November, sprach der inzwischen an die Regierung gespülte SED-“Reformer” Hans Modrow in seiner Regierungserklärung von einer “Vertragsgemeinschaft” mit der BRD zwecks ausländischer, d.h. westdeutscher Investitionen. Im Dezember wurden “Joint Ventures” zwischen den noch volkseigenen Betriebe und westdeutschem Kapital zugelassen.
Und schließlich im Februar 1990 erhob der Staats- und Parteichef der inzwischen “gewendeten” SED-PDS, Hans Modrow, die Parole “Deutschland einig Vaterland” zur Maxime und die Wirtschaftsministerin Christa Luft gründete die “Treuhand” in der alle DDR-Betriebe zusammengefasst und für die “Kooperation” mit dem westdeutschen Kapital zur Verfügung gestellt wurden. Das westdeutsche Kapital griff zu und bei den letzten Volkskammerwahlen im März 1990 siegte die “Allianz für Deutschland” unter Führung der CDU.
Die politische Revolution wurde in Richtung Wiedervereinigung gelenkt und den Preis bezahlt die ostdeutsche Arbeiterklasse bis heute bitter.
Fazit
Da die überwiegende Mehrheit der DDR-Opposition im Spätherbst 1989 keine Vorstellung entwickelte, wie ein eigenständiger und sozialistischer Weg für die DDR möglich gewesen wäre, behielten die Stalinisten das Heft des Handelns. Gleichzeitig stand mit dem westdeutschen Kapital eine stabile Wirtschaft bereit. Die westdeutsche Bundesregierung unter Helmut Kohl rührte auch immer wieder die Trommel der “Zusammenarbeit” und schließlich der staatlichen Einheit Gesamtdeutschlands. Das Vertrauen in der DDR-Arbeiter*innenklasse sank, dass unter Beibehaltung der “volkseigenen Betriebe” und der Planwirtschaft eine Zukunft für dieses Land möglich wäre.
Dieser Offensive in Richtung “Kooperation” mit dem kapitalistischen Westen hatten viele der Aktivist*innen der DDR-Opposition wenig bis nichts entgegenzusetzen. Und da die meisten eher aus Intellektuellen- oder Künstler*innenkreisen kamen und keine Orientierung auf die Arbeiterklasse hatten, fehlte ihnen der Zugang zur Arbeiterklasse. So sahen sie im Herbst ’89 ihre Rolle darin, Druck auf die weiterhin herrschende stalinistische SED zu machen. Selbst die am weitesten links stehende „Vereinigte Linke“, die sich teilweise auf Trotzkis Programm der politischen Revolution berief, rief zwar zu einer Vernetzung der verschiedenen betrieblichen Initiativen auf, aber gleichzeitig stützten sie die – durch den Druck der Massen – gewendete Modrow-Regierung von links (und ihr Vertreter trat erst aus der Regierung Modrow aus, als Modrow im Februar “Deutschland einig Vaterland” verkündete.).
Viele Elemente für eine erfolgreiche politischen Revolution gegen die stalinistische Herrschaft und für eine sozialistische Rätedemokratie waren in den Forderungen der DemonstrantInnen und verschiedenen Oppositionsgruppen zu finden. Aber niemand hat es zu einem in sich geschlossenen Programm ausgearbeitet und eine strategische Vorstellung für seine Durchsetzung entwickelt. Wirklich niemand? In verschiedenen trotzkistischen Gruppen gab es Überlegungen dieser Art. Das Komitee für eine Arbeiterinternationale und seine im Herbst 1989 in der DDR um die Zeitung “Was tun!” gegründete Gruppe ‚Marxisten für Rätedemokratie‘ machte entsprechende Vorschläge. Doch zu einer materiellen Kraft konnten diese Ideen nicht werden, weil die Kräfte des Trotzkismus zu schwach, isoliert und ohne eine Verankerung in der Oppositionsbewegung und der Arbeiterklasse waren. Zur Durchsetzung eines solchen Programms und einer solchen Strategie hätte es aber einer revolutionären, trotzkistischen Organisation bedurft, die zumindest in den wichtigsten Betrieben und Bewegungen eine starke Verankerung und ein effektives Netz von AktivistInnen hätte aufgebaut haben müssen. Nur mit einem solchen organisierten Netz von AktivistInnen hätte ein Programm der politischen Revolution gezielt in die revolutionäre Massenbewegung getragen werden können und an verschiedenen Orten die nötigen praktischen Schritte der Bildung von Räten und deren Vernetzung ergriffen werden können. Dazu wären ein Programm, eine Strategie und eine revolutionäre Führung für die Bewegung nötig gewesen. Eine solche Organisation, ein solches Netz, existierte nicht und konnte in der Hitze der Ereignisse ab Oktober 1989 auch nicht aufgebaut werden. Das bedeutet aber nicht, dass die Geschichte des Herbstes ’89 in der DDR nicht hätte anders verlaufen können.
Die Opposition hatte allerdings weder konkrete Konzepte noch wirklich charismatische Persönlichkeiten, die sie hätten vermitteln können. Stefan Heym resümiert das Dilemma folgendermaßen: „(…) die Revolution wurde von Leuten ohne Konzeption gemacht, von Dilettanten. Im Grunde hätte es in dieser Situation eines neuen Lenin bedurft, wobei ich allerdings nicht unbedingt an den Lenin der politischen Theorien denke, sondern an den Mann, der eine politische Konzeption besaß, die er klar zu formulieren wusste. Dann wäre die Geschichte anders verlaufen. Wir dagegen hatten niemanden – niemanden jedenfalls von diesem Schlag. Einen de Maizière hatten wir, der auch noch unter Druck stand, und einen Krause … Gott helfe uns! Damit ist die DDR dann wirklich zu Pott gegangen.“
Wenn statt der Bärbel Bohleys des Neuen Forums ein Kern ausgebildeter, organisierter und in der Arbeiter*innenklasse verankerter MarxistInnen an der Spitze der Oppositionsbewegung gestanden hätte, hätten der letzte DDR-Regierungschef de Maizière (CDU) und sein dubioser Unterhändler Krause (CDU) möglicherweise niemals die DDR an den kapitalistischen Westen ausverkaufen können. Dann sähe die Welt heute vielleicht anders aus. Denn eine erfolgreiche anti-stalinistische und tatsächlich sozialistische Revolution in der DDR hätte eine Kettenreaktion in Richtung der anderen stalinistischen Staaten ausgelöst und aus dem Generalstreik in der Tschechoslowakei oder dem Aufstand in Rumänien hätte sich die Grundlage für eine internationale sozialistische Entwicklung ergeben können.
René Henze ist Mitglied des Bundesvorstands der Sol. Im Herbst 1989 war er ein Aktivist der sozialistischen Opposition gegen das SED-Regime und Mitbegründer des Revolutionär Autonomen Jugendverbandes (RAJV) in Berlin. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern der ersten Gruppe des Komitees für eine Arbeiterinternationale in der DDR. Heute lebt er in Rostock.