Für eine organisierte Gewerkschaftslinke!

Über die Notwendigkeit einer kämpferischen Opposition in den Gewerkschaften

Kolleg*innen von Thyssen-Krupp mit Rauchfahnen und roten Westen protestieren gegen den Stellenabbau, die NGG macht in der Systemgastronomie mobil für einen Mindestlohn von zwölf Euro, zudem stehen Tarifrunden für mehr als zehn Millionen Beschäftigte an. Wie können die Gewerkschaften 2020 in die Offensive kommen? 

Von Angelika Teweleit

Seit dem Mauerfall, wo die Gewerkschaften kurzzeitig einen Rekord-Mitgliederstand von über elf Millionen hatten, sind die Mitgliederzahlen drastisch zurück gegangen. 2017/18 lagen sie sogar erstmals in der Nachkriegszeit knapp unter sechs Millionen. Dazu kommt, dass gewerkschaftliche Strukturen in vielen Bereichen eingebrochen sind. Die Gewerkschaften haben generell damit zu kämpfen, den Organisationsgrad zu erhöhen und ehrenamtliche Aktive zu finden. Einzelne kämpferische aktive Kolleg*innen erledigen neben ihrer normalen Tätigkeit teilweise eine Herkulesaufgabe und opfern einen großen Teil ihrer freien Zeit und Energie, um Kolleg*innen zu organisieren, Versammlungen vorzubereiten, dort zu reden, Vorschläge zu machen und sich mit den Arbeitgebern in endlosen Sitzungen herumzuschlagen. Dazu kommen häufig frustrierende Erfahrungen mit Teilen der Gewerkschaftsbürokratie, wenn Kämpfe blockiert werden. Durch neue hauptamtliche Funktionär*innen, die aus sozialen Bewegungen und linken Organisationen kommen, gibt es auch in einzelnen Bereichen oder lokal durchaus Gewerkschaftssekretär*innen, die versuchen, mit neuen Organising-Ansätzen Strukturen aufzubauen und Kampagnen zu führen. Diese Ansätze haben in vielen Kämpfen der letzten Jahre eine wichtige und unterstützende Rolle gespielt. 

Häufig wurden auch Organising-Firmen eingesetzt, bei denen teilweise Aktive aus bestehenden linken Organisationen mitarbeiten. Da sie Erfahrungen aus der politischen Arbeit mitbringen, machen sie oft eine gute Arbeit, im Gespräch in den Betrieben und bei der Rekrutierung von neuen Mitgliedern und Aktiven. Trotzdem ist die Ausgliederung oder auch Privatisierung von gewerkschaftlicher Organisierung vom Prinzip her abzulehnen. Stattdessen sollte ein Kampf darum geführt werden, dass diese Aufgabe als wichtiger Bestandteil der gewerkschaftlichen Arbeit, gerade auch der bezahlten hauptamtlichen Sekretär*innen mehr Raum bekommt. 

Bewegung und Programm

Auf der gewerkschaftlichen Linken wird seit geraumer Zeit diskutiert, dass es vor allem nötig sei, Kolleg*innen in Betrieben zu organisieren anstatt zu versuchen, den Kurs der Gewerkschaften zu ändern, weil man mit innergewerkschaftlichen Debatten um Resolutionen nichts ändern könne. Das klingt  logisch. Was nützen schließlich Beschlüsse auf dem Papier, wenn es keine konkreten Kämpfe gibt? Schon Rosa Luxemburg hat ja den berühmten Satz gesagt, dass ein Gramm Praxis mehr wiegt, als eine Tonne Theorie. Man muss allerdings auch sagen, dass sie allen voran auch immer einen harten Kampf um ein marxistisches Programm geführt hat. Luxemburg wäre nie auf die Idee gekommen, die Bedeutung der Programmatik gegenüber der Bewegung herunterzuspielen oder das eine gegen das andere zu stellen. Im Kampf gegen den Revisionismus hat sie gegen Bernstein argumentiert, der meinte, die Bewegung sei alles und das Ziel nichts. Leider gibt es auch heute wieder viele Linke, die sagen, es sei nicht so wichtig, was gefordert wird, Hauptsache es wird mobilisiert. Und deshalb sei auch nicht entscheidend, einen Kampf in den Gewerkschaften um eine andere Ausrichtung zu führen, solange man im Kleinen Kämpfe organisiert.

Natürlich müssen gewerkschaftliche Strukturen aufgebaut werden, wo es sie nicht gibt und wo sie schwach sind, müssen sie gestärkt werden. Doch auch hier ist der Erfolg abhängig davon, welche Forderungen aufgestellt werden. Kolleg*innen treten vor allem dann in den Kampf, wenn es sich lohnt. 

Jegliches Programm wird erst durch praktische Umsetzung zur Realität. Doch wenn zum Beispiel die EVG und jetzt auch ver.di, IG Metall, NGG und andere in der Frage der Arbeitszeit nicht eine radikale Verkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich fordern, sondern stattdessen die Wahlmöglichkeit von mehr Lohn oder weniger Arbeitszeit, dann hat dieses Programm konkrete Auswirkungen. Viele Kolleg*innen nehmen zur Zeit die kürzere Arbeitszeit in Anspruch, weil die Belastung zu groß ist. Andere würden das gerne tun, können es sich aber nicht leisten. Das allein führt zu einer Spaltung. 

Aber es bedeutet auch, dass sich die Sichtweise durchsetzt, es sei nicht möglich eine Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen, wenn dabei nicht auf Lohn verzichtet wird. Damit wird dem Rückgang im Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse, und der allgemeinen Logik, man dürfe den Bossen nicht zu viel abverlangen, Vorschub geleistet. Leider gibt es zur Zeit eine sichtbar werdende Rechtsentwicklung, von denen immer mehr Linke erfasst werden. Auch die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung nach vollem Lohn- und Personalausgleich, für die noch in den 1970er und 1980er Jahren argumentiert und gekämpft wurde, wird inzwischen sogar unter Linken als utopisch abgetan und belächelt. Vor diesem Hintergrund mag es zunächst schwierig erscheinen, sozialistische Positionen aufrecht zu erhalten und zu verteidigen. Aber es ist notwendiger denn je. Denn die Schlussfolgerung aus dem Nachgeben der Positionen ist in der Konsequenz, Verzicht zuzustimmen. 

Die Haltung von einigen Linken in den Gewerkschaften, die Frage des Programms nicht als zentral zu erachten und der Verzicht auf das Aufstellen von Forderungen bedeutet in Folge eine Anpassung an das bestehende Programm, welches derzeit von den Gewerkschaftsführungen propagiert wird – das der Sozialpartnerschaft. Mit diesem Programm können aber die Interessen der Arbeiter*innenklasse nicht konsequent verteidigt werden. 

Situation der Arbeiter*innenklasse

Für die Arbeiter*innenklasse in Deutschland hat es in den letzten Jahren trotz wirtschaftlichem Aufschwung abgesehen von steigenden Beschäftigungszahlen nicht viele positive Entwicklungen gegeben. Zwar hat es seit 2009 wieder einen leichten Anstieg der Lohnquote gegeben, aber die Schere zwischen Arm und Reich wächst trotzdem. Während die Dax 30-Unternehmen Rekordgewinne einfuhren, und die dreihundert reichsten Deutschen ihre Vermögen zwischen 2009 und 2019 um 65 Prozent steigern konnten, das reichste Zehntel zwei Drittel des Vermögens besitzen, verfügt die untere Hälfte über ganze 2,4 Prozent des Vermögens. 

Gleichzeitig ist die Arbeitsbelastung kontinuierlich angewachsen. Im Bericht des DGB-Index „Gute Arbeit“ von 2019 heißt es: „53 Prozent aller Befragten fühlen sich bei der Arbeit (sehr) häufig gehetzt. Jede/r Dritte musste – verglichen mit dem Vorjahr – deutlich mehr Arbeit bewältigen ohne jedoch mehr Zeit zur Verfügung zu haben.“ (siehe index-gute-arbeit.dgb.de). Besonders spürbar ist es für die Kolleg*innen in den Bereichen, in denen der Umgang mit Menschen eine zentrale Rolle spielt. Die Situation in der Altenpflege und den Krankenhäusern ist dramatisch, auch an den Schulen stehen viele Lehrer*innen und Erzieher*innen am Rande der Belastungsgrenze. 

Gerade in diesen Bereichen, die bisher zu den nicht so gut Organisierten gehörten, haben sich in den letzten Jahren wichtige einzelne Kämpfe und Bewegungen entwickelt, wie der Kampf für mehr Personal in Krankenhäusern, der mit dem mutigen Streik an der Charité begann und dann viele Nachahmer*innen vor allem an Uniklinika in der ganzen Republik fand. Im Bereich Sozial- und Erziehungsdienst gab es 2015 die Kampagne für eine Aufwertung. In dieser traten bundesweit Kolleg*innen in einen vierwöchigen Streik, der gut befolgt wurde. Doch die ver.di-Führung führte den Kampf nicht konsequent fort und argumentiert aktuell dafür, die Fortsetzung der Aufwertungskampagne nochmals zu verschieben.

Verschärfte Ausbeutung

Konzerne wie Amazon und McDonald’s, die ihre Profite auf Grundlage von Niedriglohn und hohem Arbeitsdruck erwirtschaften und die deshalb eine harte Anti-Gewerkschafts-Politik in ihren Standorten fahren, Kolleg*innen einschüchtern und Aktive gern mit Mobbing raus drängen, bekommen Gegenwind, weil Kolleg*innen den Mut haben, sich trotzdem zu organisieren und sogar zu streiken. Auch in vielen ausgegliederten Tochterunternehmen, sei es im Bereich der Reinigung an Schulen und in Krankenhäusern, Physiotherapie, Kantinen und vielen mehr ist die Lage der Beschäftigten oft von Tariflosigkeit geprägt. In all diesen Bereichen hat es in den letzten Jahren mutige Kämpfe gegeben, in denen viele Kolleg*innen trotz der Einschüchterungsversuche des Managements zum ersten Mal eine Streikweste anzogen, und sich gemeinsam mit ihren Kolleg*innen organisierten.  Bei Amazon sind die Kolleg*innen nun seit knapp sieben Jahren dabei, einen Kampf für die Bezahlung nach Tarifvertrag zu führen. Unter dem Druck der Streiks musste das Unternehmen an einigen Stellen Zugeständnisse machen. Doch leider haben die Gewerkschaftsführungen und auch der DGB es bisher verpasst, den Kolleg*innen in diesen Bereichen ausreichend der Rücken durch effektive Solidaritätskampagnen zu stärken oder auch Kämpfe zusammenzuführen, um so eine größere Schlagkraft zu erreichen.

Kernbereiche der Industrie

2018 gab es die Warnstreiks mit 24-stündigen Arbeitsniederlegungen der IG Metall, an denen sich insgesamt mehr als 1,5 Millionen Kolleg*innen beteiligten. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass die IG Metall flächendeckend für mehr als ein paar Stunden Kolleg*innen vor die Werkstore rief. Diese Mobilisierung hat deutlich gemacht, dass es nicht so ist, wie viele in der breiteren Linken es oft darstellen, nämlich dass es den Kolleg*innen in der Metallindustrie zu gut gehe und sie nicht kämpfen wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Vielerorts haben sich in den letzten Wochen tausende Kolleg*innen an Protesten gegen Stellenabbau beteiligt, sei es bei Thyssen-Krupp, dem Zulieferbetrieb Zf, Bosch, Osram, Continental. Auch in Ostdeutschland gibt es Druck für eine Mobilisierung für die immer noch nicht vollzogene Angleichung an die 35-Stundenwoche und entsprechenden Unmut, weil die IG Metall-Führung diesen Kampf nicht führen will. 

Wenn in den letzten Jahren (oder besser Jahrzehnten) keine großen Mobilisierungen stattgefunden haben, liegt das nicht an den Kolleg*innen in den Betrieben, sondern an der Politik der IG-Metall-Führung. Seit Jahren setzt sie auf Co-Management und Verzicht im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit. In der letzten Krise von 2007 bis 2009 hat diese Orientierung, mit der dann über Kurzarbeiterregelungen zumindest in den großen Betrieben Entlassungen verhindert wurden, einen befriedenden Effekt gehabt und es sieht für viele so aus, als ob dieses Rezept deshalb auch richtig sei. In Wirklichkeit bedeutet Kurzarbeit auch, dass der Staat für die Kosten der Krise aufkommt. Die Gewinne und Polster der Konzerne werden nicht angetastet. Aus der letzten Krise sind die großen Autokonzerne relativ unbeschadet herausgekommen. Jetzt hat die weltweite Überproduktionskrise auch Deutschland erfasst und täglich gibt es Ankündigungen von Stellenabbau. Noch gibt es wenige Betriebe, die mit Entlassungen oder Schließung drohen. In der Hauptsache werden weitere Zukunftssicherungsvereinbarungen getroffen, mit denen aber wiederum Beschäftigte erpresst werden. Das funktioniert schon seit Jahren – vor allem im Interesse der Bosse. 

Bilanz des Co-Managements

Doch einige Kolleg*innen bekommen schon jetzt bitter die Früchte des Co-Managements zu spüren, die permanente Zugeständnisse und Verzicht mit sich bringen – für nichts. So sieht es zur Zeit bei Conti aus. Auf ihrer Homepage führt die IG Metall unter der  Überschrift „Erst absahnen – dann Standorte schließen“ auf, wie viele Zugeständnisse an das Unternehmen gemacht wurden: „Satte 72 Millionen Euro sind an Bundesmitteln seit 2007 an die Continental AG und ihre Tochterunternehmen geflossen. Das ergab eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE an die Bundesregierung. Und damit nicht genug: Auch die Beschäftigten haben jahrelang in den Konzern investiert. Beispiel Babenhausen: Um ihr Werk zu stützen, hatten Betriebsrat, IG Metall und Beschäftigte 2013 einem Ergänzungstarifvertrag zugestimmt: Seitdem kloppen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Woche für Woche zusätzliche Stunden – unentgeltlich für den Konzern. Auch am Standort Oppenweiler machten die Beschäftigten seit Jahren über mehrere Ergänzungstarifverträge große Zugeständnisse. Und auch in Roding sieht die Sache ganz ähnlich aus…“ 

All das hat sich für Conti gelohnt, nicht aber für die Beschäftigten, die nun trotzdem mit einem massiven Sparprogramm inklusive Standortschließung konfrontiert werden. Dieselbe Erfahrung müssen nun auch Kolleg*innen bei Karstadt und Kaufhof machen, denen nach mehreren Verzichtsvereinbarungen der neue Investor Benko nun weitere Lohneinbußen von elf Prozent und mehr verordnen will. Auch bei  Daimler und vielen anderen stehen die Zukunftssicherungsverträge unter einem unsicheren Stern. Mit neuen Sparankündigungen und Stellenabbauplänen werden die Beschäftigten weiter unter Druck gesetzt. Bei Thyssen-Krupp sollen Stahlstandorte geschlossen werden und oben drauf die profitable Aufzugssparte veräußert werden. 

Die IG Metall-Führung zieht aber nicht den Schluss, deshalb den Kurs zu ändern, sondern hält ungeachtet dessen an ihrer Politik von Standortsicherung und Sozialpartnerschaft fest. Leider fehlt momentan eine klare alternative Strategie von links. Diese muss dringend formuliert werden. Ein Netzwerk von Hauptamtlichen in der IG Metall trifft sich regelmäßig, um alternative Strategien zu diskutieren. Das ist insofern gut, als dass es überhaupt einen Ansatz gibt. In einem Positionspapier dieses Kreises unter dem Titel “Transformation und offensive Gewerkschaftspolitik” heißt es: „Wir sind keine Co-Manager im Rahmen einer Transformation des Kapitalismus. Wir wollen die Veränderung hin zu einer menschengerechten Lebens- und Arbeitswelt in einer solidarischen Gesellschaft! Dazu brauchen wir eine offensive Gewerkschaftspolitik, die mitglieder-, beteiligungs-und konfliktorientiert den Betrieb zum Startpunkt nimmt, um Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. …“

Für eine solche Zielsetzung sollten aber nicht nur Gewerkschaftssekretär*innen angesprochen werden, sondern vor allem auch Kolleg*innen aus den Betrieben! Zu den Treffen werden allerdings explizit nur Gewerkschaftssekretär*innen eingeladen. In dem Papier wird, was positiv ist, an der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich festgehalten. Es wird auch von der Notwendigkeit einer Systemüberwindung gesprochen. Als Alternative wird allerdings das unklare Ziel einer “Wirtschaftsdemokratie” genannt. Damit wird nicht die Notwendigkeit des Gemeineigentums an Produktionsmitteln verbunden, sondern stattdessen gibt es die nebulöse Vorstellung, das ein Mehr an demokratischer Mitbestimmung innerhalb eines krisenhaften Kapitalismus möglich wäre. Dieses Rezept hat weder in der Vergangenheit Resultate gebracht, noch wird es unter den Vorzeichen verstärkter Konkurrenz und Handelskriegen funktionieren.

Gemeineigentum an Produktionsmitteln

Stattdessen müsste jetzt dringend die Eigentumsfrage aufgeworfen werden. Deutlich muss die Losung ausgegeben werden, dass es nötig ist, für den Erhalt aller Arbeitsplätze zu kämpfen, verbunden mit einem Programm zur Umstellung der Produktion auf ökologisch und gesellschaftlich sinnvolle Produkte. Dabei sollte erklärt werden, dass eine solche nur auf der Grundlage von Gemeineigentum an den Produktionsmitteln möglich ist. Die Forderung nach Verstaatlichung der großen Konzerne unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung sollte möglichst konkret – zugeschnitten auf einzelne Betriebe, wo Entlassungen drohen – aufgeworfen werden. Dabei kann sogar darauf verwiesen werden, dass diese Forderung Bestandteil der IG-Metall-Satzung ist. 

Innergewerkschaftliche Opposition


Wenn schon in den letzten drei Jahrzehnten die Politik der Gewerkschaftsführungen bedeutet hat, dass wesentliche Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse, vor allem die Agenda 2010 mit all ihren Folgen von Prekarisierung, Liberalisierung, Flexibilisierung und Ausdehnung des Niedriglohnsektors, nicht abgewehrt wurden und sich der Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse im großen und ganzen vor allem verschlechterte, ist vor dem Herannahen einer kapitalistischen Krise nichts besseres zu erwarten. Im Gegenteil,  dann bedeutet es Lohnverzicht, steigende Arbeitslosigkeit, wachsende Armut von immer größeren Teilen der Arbeiter*innenklasse – möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt gepaart mit verallgemeinerten Angriffen von Seiten der Regierung auf das Sozialsystem sowie gewerkschaftliche Rechte. 

Doch die Situation in vielen Betrieben und Dienststellen ist – trotz oder auch wegen der Jahre von Bescheidenheit bei gleichzeitigem obszönen Wachstum des Reichtums in den Händen von wenigen – eher vergleichbar mit einem Kessel, der beginnt zu pfeifen. Das wird immer dann deutlich, wenn es ein Angebot zum Kämpfen gibt. Meist sind Kolleg*innen bereit, vor die Tore zu gehen, zumindest, wenn es sich lohnt und wenn es nicht das Gefühl gibt, dass die Aktion nur halbherzig gemeint ist. 

In dieser Situation ist es notwendiger denn je, eine kämpferische Alternative zum jetzigen Kurs der Gewerkschaftsführung aufzuzeigen und Kolleg*innen dafür zu gewinnen, diesen Kurs mit durchzusetzen. Dazu ist es nötig, sich zu vernetzen und sich in Branchen und vor Ort zusammen zu schließen und zu organisieren. So können Vorschläge für Strategien diskutiert werden, die man in den Betrieben und gewerkschaftlichen Versammlungen hineintragen und zur Abstimmung stellen kann. Außerdem kann man gegenseitig Unterstützung in bestimmten Kampagnen organisieren. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) soll ein Ansatz dafür sein.

Solange der Kapitalismus weiter besteht, werden erkämpfte Reformen immer wieder zurück genommen. Sozialist*innen sollten offensiv erklären, dass der gewerkschaftliche Kampf auf einer antikapitalistischen Grundlage geführt werden muss, und offen die Perspektive einer sozialistischen Gesellschaftsveränderung aufwerfen, ohne das gegenüber Kolleg*innen als ultimative Voraussetzung für ein gemeinsames Handeln zu formulieren. Eine organisierte Gewerkschaftslinke sollte sich mindestens auf Punkte einigen wie die Ablehnung des Co-Managements und der Sozialpartnerschaft, das Ziel von Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohn- und Personalausgleich, sowie einer Demokratisierung der Gewerkschaften. Zudem sollte das Mittel des politischen Streiks als strategisches Mittel benannt werden, welches von den Gewerkschaften eingesetzt werden sollte, wenn die Situation es erfordert und die eine Mobilisierung möglich ist. Ziel einer organisierten Gewerkschaftslinken sollte sein, für eine alternative kämpferische Ausrichtung auch Mehrheiten zu gewinnen. 

Das gilt auch für einzelne Bereiche. So mangelt es zum Beispiel von Seiten der ver.di Führung an einer klaren Strategie und Vorstellung, wie der Kampf für mehr Personal in den Krankenhäusern weiter geführt werden kann. Das gleiche gilt für den Kampf von Kolleg*innen im Sozial- und Erziehungsdienst, oder auch der Behindertenassistenz. Wenn Kolleg*innen aus verschiedenen Branchen zusammen kommen, kann diskutiert werden: Was müssten die Forderungen sein (wie zum Beispiel auch zur Personalbemessung oder zu Arbeitszeiten); wie können die Forderungen an die Kolleg*innen kommuniziert werden; wie kann Unterstützung aus dem DGB und aus der Bevölkerung organisiert werden. Aber es stellen sich auch Fragen, wie man in der konkreten Auseinandersetzung die Hürden überwinden kann, die oft durch den Gewerkschaftsapparat aufgebaut werden. Es ist notwendig, sich auf Situationen vorzubereiten, in denen verallgemeinerte Angriffe kommen können. Schon jetzt sehen wir in anderen Ländern, dass dies der Fall ist, wie gerade in Frankreich. Der international verschärfte Wettkampf wird auch hier in Deutschland bedeuten, dass bestimmte Errungenschaften wieder angegriffen werden. Dann werden Forderungen an den DGB zu erheben sein sein, Widerstand zu organisieren, von der Organisation lokaler Kundgebungen oder einer Großdemonstration, Arbeitsniederlegungen und  Solidaritätsstreiks, gemeinsamen Streikkundgebungen, bis hin zum Mittel des politischen Streiks oder Generalstreiks. 

Vernetzung konkret

Zudem ist es möglich und nötig, durch konkretes Handeln schon jetzt einen Unterschied zu machen. Wenn jetzt zum Beispiel Kolleg*innen in der Systemgastronomie einen bundesweiten Kampf für eine deutliche Lohnerhöhung führen sollten, brauchen sie auch größtmöglich Unterstützung aus der Gewerkschaftsbewegung. Der DGB hat bisher versagt, in solchen Bereichen ausreichend Unterstützung zu organisieren. Eine Vernetzung von wenigen hundert Kolleg*innen kann das zunächst nicht ersetzen. Aber sie kann einen Unterschied machen, in aktiven Strukturen und Betrieben über den Kampf berichten, Solidaritätsbesuche organisieren, zu Streikposten gehen, mit den Kolleg*innen gemeinsam überlegen, ob es geeignete öffentlichkeitswirksame Unterstützungsaktionen geben kann. Damit kann ein Beispiel gesetzt werden und solche Unterstützung kann auch in anderen Bereichen funktionieren, wie für einen Metallbetrieb, in dem die Kolleg*innen sich gegen Entlassungen oder Stellenabbau wehren oder den langjährigen Kampf bei Amazon. Auch auf internationaler Ebene können Verbindungen aufgebaut werden, und internationale Solidarität organisiert werden. Diese konkrete Arbeit sollte mit strategischen Vorschlägen an den DGB oder Einzelgewerkschaften verbunden werden. 

Wir stehen vor großen Umbrüchen und Abwehrkämpfen. In diesen wird es neue Möglichkeiten geben, für einen kämpferischen Kurs in den Gewerkschaften einzutreten und diesen Kampf auch mit der Perspektive einer sozialistischen Gesellschaftsveränderung zu verbinden.

Angelika Teweleit ist Mitglied des Sprecher*innenkreises der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und gewerkschaftspolitische Sprecherin der Sol.