„Les Misérables“ von Ladj Ly
Wenn man den Namen Ladj Ly in den Suchschlitz von Google eingibt und die Registerkarte „Bilder“ wählt, erhält man in den Suchergebnissen ziemlich weit oben ein Schwarzweiß-Photo, auf dem Ladj Ly eine Kamera vor sich hält, wie ein Gewehr. Die Kamera als Waffe, das Leben als Kampf scheint das Thema seines Lebens zu sein. Und sein Leben.
Von Johannes Bauer, Köln
Er hat den Aufstand in Paris von 2005 miterlebt, als Bewohner von Clichy Montfermeil, einem der Banlieus. Mit der Kamera in der Hand. Wochenlang brannte die Stadt, nachdem zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei auf dem Gelände einer Trafo-Station verbrannten. 2007 drehte er einen Dokumentarfilm über die Gewalt die sich damals entlud. 2019 bringt er seinen ersten Spielfilm heraus, der sofort den Preis der Jury in Cannes gewinnt und für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert wird. Thema: die Gewalt in den Banlieus. Den Titel „Les misérables“ entlehnt er dem Roman von Victor Hugo. Während Hugo eine längere politische Periode im nachrevolutionären Frankreich betrachtet, fokussiert Ly die Handlung auf einen Tag und etwas mehr. Der erste Arbeitstag des Polizisten Stéphane in seinem neuen Revier bei der Spezialpolizei in Montfermeil. Die Spannung ist von der ersten Einstellung an fast unerträglich und wird über die gesamte Spielzeit nicht nachlassen. Angedeutete und vollzogene Gewalt, jede Begegnung von
Menschen ist zugespitzt auf Ausübung und Durchsetzung von Autorität, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.
Kein Klischee wird ausgelassen: Der Landbulle mit einem Rest von Idealismus trifft auf die abgefuckten Ghetto-Cops, die erwarten, dass er sich seinen Platz in der Gruppe verdient. Im Film müssen sie sich gegen die Gangs der Subkultur durchsetzen, wo sie im Namen des Gesetzes selbst Gesetze brechen. Tatsächlich nimmt der Film eine Perspektive ein, in der die Spezialpolizei die Gewalt initiiert. Die Halbwelt und Unterwelt bietet den zum Imam geläuterten Ex-Dealer, den Kriminellen, der im Knast zum Poeten wurde, den Dealer-Boss, der von den Bullen als Ordnungsmacht respektiert wird, den „Bürgermeister“, der von den verschiedenen ethnisch, religiös und kriminell definierten Gangs respektiert wird,
weil er die Gesetze des Stadt-Dschungels schnell und präzise anwendet.
Jugendliche stehen zwischen den Fronten, kopieren und verfeinern die vorgelebten Strukturen, suchen einen Weg aus ihrer Machtlosigkeit und Frustration. Mit krimineller Energie natürlich. Zwischen den Testosteronwolken spielt der schmächtige Nerd eine wichtige Rolle, in dem man Ladj Ly als Jugendlichen erkennen kann, eine Gruppe Frauen sorgt sich um Geld, eine Gruppe junger Frauen wird von den Bullen sexualisiert belästigt, eine andere Gruppe junger Frauen emanzipiert sich durch Gegengewalt und eine Frau ist angedeutet mütterlich zu sehen. Ach ja, Muhammad Alis Silhouette im Boxring, als Deko im Imbiss des geläuterten Dealers, fehlt auch nicht.
Aber Ly ist kein Holzer. Wie er den halbwüchsigen Issa in die Handlung einführt und zum verdeckten Protagonisten aufbaut, zeigt eine Befähigung zu großer Kunst. Was fehlt? Der Zuschauer kann den Schweiß riechen, den Müll, die Joints. Es fehlen die normalen Menschen, die zwischen der Gewalt ihren Alltag bestreiten müssen. Menschen, die um Menschlichkeit kämpfen. Stephane als Außenseiter in seiner Truppe kann diese Rolle
nicht ausfüllen. Bei Bedarf kann auch er alle Muster der Autoritätsausübung abrufen. Issa, der Schelm, der durch eine Verkettung von Umständen abrutscht bis zu einem katastrophalen Showdown, auch nicht. Ohne eine Alternative ist dieses Stakkato von Gewalt nur erschöpfend und perspektivlos. Gewalt, die sich aus älterer Gewalt speist. Diese Darstellung ist unhistorisch. In den Banlieus, den Ghettos aller Metropolen kulminieren die Defizite der kapitalistischen Gesellschaft und der neoliberalen Politik. Mehr als unter den offen kriminellen Gangs leiden die Menschen in den Banlieus unter der Politik Macrons und seiner Vorgänger. Doch davon ist nicht viel zu sehen.
Vermutlich gibt es Gangs, wie die hier gezeigten und Bullen, wie sie hier zu sehen sind, in den Banlieus und in den sozialen Brennpunkten von Moskau, London, Rom und Berlin. Doch überall gibt es mehr Menschen, die ohne Pathos ihr Leben leben wollen. Die einen Bogen um die Szene machen, um religiöse Fanatiker. Menschen mit Erwartungen an ihr Leben, die sich über Erfolge freuen und die aus Rückschlägen lernen, Menschen die straucheln und sich wieder fangen. Sie haben in diesem Film keinen Platz. Ladj Ly wählt das richtige Sujet und macht einen spannenden Film, aber kein großes Kino.