Türkei: Erdoğans Herrschaft, kapitalistische Krise und politische Repräsentation der Arbeiter*innenklasse

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Plattform des CWI Türkei

Vorbemerkung: Während die Weltwirtschaft mit dem Ausbruch von COVID-19 in eine tiefere Krise als die der Finanzkrise von 2007/2008 gerät, lässt die herrschende Klasse in der Türkei, angeführt vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die Arbeiter*innenklasse schon jetzt für die Krise bezahlen. In dem verzweifelten Versuch, die Profite der Großunternehmen zu schützen, weigert sich die Regierung, einen vollständigen Lockdown durchzusetzen. Das bedeutet, dass die Arbeiter*innen immer noch auf Baustellen, in Fabriken, Kohlebergwerken und an anderen Arbeitsplätzen – oft unter beengten Bedingungen – im ganzen Land arbeiten und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren. Ein Gesetz wurde zu Gunsten der Bosse verabschiedet, das ihnen erlaubt, unbezahlten Urlaub zu verhängen und gewerkschaftliche Betätigung einzuschränken. Trotz der Bemühungen der Regierung, die gewerkschaftliche Organisationsmacht weiter einzudämmen, organisieren Beschäftigte jedoch wegen grausamer Arbeitsbedingungen in vielen Betrieben Arbeitsniederlegungen und die Zahl dieser Aktionen wird wahrscheinlich noch zunehmen.

Vor diesem Hintergrund veröffentlichen wir dieses Dokument, das von Mitgliedern des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (Comittee for a Workers‘ International, CWI) in türkischer und englischer Sprache verfasst wurde, um einen Beitrag zur Beantwortung zentraler Fragen zu leisten – wie der Frage nach politischer Repräsentation der Arbeiter*innenklasse und dem Aufbau der sozialistischen Bewegung in der Türkei.

Das CWI wurde 1974 gegründet und ist eine internationale sozialistische Organisation, die sich auf ein trotzkistisches Programm der Arbeiter*innenklasse stützt. Die größte Sektion des CWI, die Socialist Party in England und Wales (ehemals Militant Tendency), baute erfolgreich eine Massenkampagne gegen die Tory-Kürzungen in Liverpool auf und war ab 1983 die treibende Kraft innerhalb der gewählten Labour-Fraktion im Liverpooler Stadtrat. Zwischen 1983 und 1987 wurden unter der Führung von Militant Tausende von Häusern für Menschen aus der Arbeiter*innenklasse sowie Sportzentren gebaut, was Tausende neue Arbeitsplätze schuf. Trotz des Drucks des kapitalistischen Establishments wurden Massenversammlungen, Streiks und Demonstrationen organisiert, um die Kürzungen zu bekämpfen. Nicht nur aber auch aufgrund dieser Errungenschaften hatte Militant eine Massenbasis in der Liverpooler Arbeiter*innenklasse. Nur wenige Jahre später führte Militant auch eine Massenboykottkampagne, die nicht nur die Kopfsteuer besiegte, sondern auch die Grundlage für den Sturz von Maggie Thatcher legte.

Unser Ziel ist es, auf der Grundlage dieser und vieler anderer Erfahrungen des CWI – insbesondere des Programms und der Methoden, die diese Errungenschaften ermöglicht haben – einen Beitrag zur Arbeiter*innenbewegung in der Türkei zu leisten, indem wir unsere Ideen vorstellen. Dieses Dokument, das kurz vor der Covid-19-Pandemie verfasst wurde, gibt einen kurzen Überblick über die letzten zwanzig Jahre und enthält Vorschläge, was zu tun ist.

CWI Türkei (İEK Türkiye – Devrimci Sosyalist Sol)

Niedrige Löhne, schlechte Wohnverhältnisse, lange Arbeitszeiten und die Verletzung der meisten demokratischen Grundrechte sind in dem von der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) – der rechts-kapitalistischen Partei unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan – geschaffenen Regime zur Norm geworden. Angesichts der Dringlichkeit der Situation, in der sich die Arbeiter*innenklasse in der Türkei befindet, ist es wichtig, die notwendigen Methoden und das notwendige Programm zu diskutieren, um dieses Regime aus den Angeln zu heben und es durch eine demokratische, sozialistische Gesellschaft zu ersetzen, die von den Arbeiter*innen gelenkt wird. Es folgt eine Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse.

Vor der Wahl Erdoğans zum Ministerpräsidenten der Türkei im Jahr 2002 fiel die türkische Wirtschaft nach einer Finanzkrise, die 2001 explodierte und zu einer Währungsabwertung und Inflation führte, in eine Rezession. Dies war eine der größten Wirtschaftskrisen in der Geschichte der Türkei: Die Inflation lag bei 70 Prozent, das Finanzsystem brach fast zusammen und der Lebensstandard der Mehrheit verschlechterte sich rasant. Kurz nach der Krise ersuchte die Koalitionsregierung den IWF um eine massive Kreditsumme zur “Rettung” der Wirtschaft. Als Gegenleistung für das Darlehen verordnete der IWF eine Reihe von Strukturreformen, die Kürzungen und Privatisierungen beinhalteten.

Erdoğan passte sehr gut zu diesem Rettungsplan. Endlich, so folgerte die Kapitalist*innenklasse, könne ein zuverlässiger Vertreter der Kapitalist*innenklasse neoliberale Politik umsetzen, ohne auf irgendeine parlamentarische Hürde zu stoßen. Das liegt daran, dass Erdoğans Partei (obwohl sie 34 Prozent der Stimmen erhielt) über eine ausreichende Mehrheit im Parlament verfügte, um eine eigene Regierung zu bilden. Er wurde von der EU und den Liberalen in der Türkei unterstützt. Sie stellten Erdoğan als eine Figur dar, die die Wirtschaft retten und das Land demokratisieren könnte, indem er die kemalistische Bürokratie abschaffen würde.

Erdoğan war auch bei einigen Teilen der Arbeiter*innenklasse und Kleinbürger*innen mit der von ihm vertretenen Politik beliebt. Erdoğan, der sich selbst als eine “Anti-Establishment”-Figur darstellte, versprach, Armut und Korruption auszurotten. Viele Muslim*a, die sich aufgrund der zunehmenden politische Einmischung des kemalistischen Militärs von Politik und Gesellschaft ausgeschlossen fühlten, zogen den falschen Schluss, dass Erdoğan die Probleme der muslimischen Arbeiter*innen lösen könne. Aber von Anfang an war es sonnenklar, dass Erdoğan keine Politik im Interesse der Beschäftigten verfolgen würde. Er würde nur Brotkrumen an die Armen verteilen und gleichzeitig eine Politik für Großkonzerne umsetzen. Unter Erdoğans Herrschaft vergrößerte sich die Schere zwischen Arm und Reich.

Wie vom IWF-Programm diktiert, hat die AKP Dutzende von Unternehmen und Industriezweigen privatisiert. Um nur einige zu nennen: In den ersten Jahren der AKP-Regierung wurden die türkische Telekom, der Tabak- und Alkoholkonzern TEKEL und Schwerindustrien wie die Stahlindustrie privatisiert. Aus Berichten geht hervor, dass 88 Prozent aller Privatisierungen in der Geschichte der Türkei während der Erdoğan-Ära durchgeführt wurden.

Durch die von der AKP-Regierung durchgeführte Politik gelang es zunächst, die Inflation nach ihrer Regierungsübernahme deutlich auf unter 10 Prozent zu senken. Zwischen 2002 und 2007 wuchs die Wirtschaft des Landes mit einer jährlichen Rate von 7,2 Prozent. Erdoğans Partei veranlasste zudem den Bau von Großprojekten wie Flughäfen, Brücken, Autobahnen und luxuriösen Wohnungen – Projekte, deren Nutzung sich die Arbeiter*innenklasse kaum leisten kann. Aber all diese vermeintlichen Erfolge, mit denen sich Erdoğan während seiner gesamten Herrschaft brüstete, fanden vor dem Hintergrund einer zunehmenden Prekarisierung und massiven Kreditausweitung statt.

Darüber hinaus nutzte Erdoğan die Gesetzgebung effektiv dazu, Arbeiter*innenrechte zu untergraben. Durch Gesetze, die die Vergabe von Verträgen an Subunternehmen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor förderten, wurde den Beschäftigten jegliche Arbeitsplatzsicherheit genommen. Die im Parlament verabschiedeten Gesetze gegen Gewerkschaften führten zu einem beträchtlichen Rückgang der Gewerkschaftsmitgliedszahlen. Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern zählt die Türkei zu den Ländern mit dem niedrigsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad (8,6 Prozent der Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert). Noch düsterer ist die Situation, wenn man den Prozentsatz der Arbeiter*innen betrachtet, die unter Tarifverträge fallen: In der Türkei sind nur 7,02 Prozent der Beschäftigten von Tarifverträgen erfasst, im Vergleich zu 26,30 Prozent in Großbritannien.

Obwohl die Spitzen der Arbeiter*innenbewegung in der Türkei nicht bereit waren, es mit Erdoğan aufzunehmen, um diese Politik zu stoppen, gab es zahlreiche militante Streiks und Proteste, die von Beschäftigten organisiert wurden. Dies ist zum Teil das Erbe der Kämpfe und sozialistischen Traditionen der Arbeiter*innenklasse. Es ist noch nicht lange her, als mehr als 100.000 Menschen aus der arbeitenden Bevölkerung in Zonguldak – angeführt von Bergarbeiter*innen, die 1990/91 die Schließung von Zechen stoppen wollten – einen stadtweiten Streik gegen die neoliberale Regierung von Turgut Özal organisierten. Seine Regierung ergriff damals Maßnahmen zur Liberalisierung der Wirtschaft durch die Abschaffung von Zöllen und die Umsetzung anderer wirtschaftsfreundlicher Reformen.

In ähnlicher Weise erschreckte die Auseinandersetzung um TEKEL auch die herrschende Klasse in der Türkei. Dieses Mal war es nicht Özal, sondern Erdoğan, der sich kämpferischen Arbeiter*innen gegenüber sah. Im Dezember 2009 kündigte die Regierung in Folge der Privatisierung von TEKEL an, dass 12 TEKEL-Fabriken schließen würden. Die 10.000 Beschäftigten sollten in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes in prekären und befristeten Verträgen unterkommen und Lohnkürzungen von bis zu 40 Prozent hinnehmen. Das löste einen Arbeitskampf aus und 12.000 Beschäftigte organisierten einen Sitzstreik vor der AKP-Zentrale in Ankara, der 78 Tage andauerte. Im Februar 2010 beteiligten sich Zehntausende von Arbeiter*innen an einem von der Gewerkschaft Türk-İş ausgerufenen, eintägigen Generalstreik. Nahezu 100.000 Menschen nahmen an einer Demonstration in Ankara teil. Die Türk-İş-Führung versuchte während des gesamten Konfliktes, die Erwartungen zu dämpfen, aber der Druck der TEKEL-Beschäftigten zwang die Gewerkschaft zum Handeln. Dieser gewaltige Streik war der letzte Massenkampf in der Türkei, der von der Arbeiter*innenklasse geführt wurde.

Der TEKEL-Konflikt ist ein Indiz für den Grad der Kampfbereitschaft in der türkischen Arbeiter*innenbewegung. Dieser Streik und die anderen Streiks, die in den letzten Jahren organisiert wurden, unterstreichen die enorme Bedeutung eines vereinigten Massenkampfes, der von der Arbeiter*innenklasse geführt wird, um Erdoğan zu stürzen.

Neben diesen Arbeitskämpfen spielen die Kämpfe von Frauen, des kurdischen Volkes, der Umweltschützer*innen, der LGBTQ-Aktivist*innen und anderer Gruppen eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung breiter Schichten der Gesellschaft. Die Gewalt gegen Frauen erreicht unter der Herrschaft von Erdoğan Rekordhöhen: Im Jahr 2019 wurden 474 Frauen ermordet. LGBTQ-Aktivist*innen organisieren eindrucksvolle Demonstrationen gegen Gewalt und Diskriminierung. Das CWI setzt sich für die Verteidigung aller Frauen, des kurdischen Volkes, der LGBTQ-Personen und anderer unterdrückter Gruppen ein, die vom Regime heftig angegriffen werden. Aber anstatt nach Abkürzungen zu suchen – insbesondere in einer Zeit, in der einige sozialistische Organisationen Zugeständnisse an die Identitätspolitik und an reformistische Führer*innen machen – müssen Marxist*innen die Kämpfe aller Beschäftigten für den Aufbau einer Massenbewegung der Arbeiter*innenklasse und für die Schaffung einer Gesellschaft, die frei von Ausbeutung und Unterdrückung ist, zusammenführen. Dies verpflichtet die Marxist*innen dazu, sich in den Betrieben und Verwaltungen zu organisieren und die Gewerkschaften in demokratische und kämpferische Organisationen zu verwandeln, die die Interessen der Arbeiter*innenklasse vertreten. Das bedeutet auch, eine Massenpartei der Arbeiter*innen aufzubauen, welche Arbeiter*innen, Jugendliche und Aktivist*innen zusammenbringt, um klare Klassenforderungen zu erheben und ein sozialistisches Programm zu entwickeln.

Die Nachwirkungen des Putsches von 2016

Die jüngsten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die die Stabilität des AKP-Regimes ernsthaft in Frage stellen, schaffen neue Voraussetzungen für einen massenhaften Kampf der Arbeiter*innenklasse, um Erdoğan loszuwerden. Die Ereignisse nach dem Putschversuch 2016 – das harte Durchgreifen gegen oppositionelle Aktivist*innen, die Massenunterdrückung in kurdischen Städten, die arbeiterfeindlichen Erlasse und die Wirtschaftskrise – sind alles Anzeichen für die Notwendigkeit, eine unabhängige Arbeiter*innenbewegung aufzubauen, die im Interesse der Arbeiter*innenklasse und der unterdrückten Schichten in der Gesellschaft handelt.

Der gescheiterte Putschversuch im Jahr 2016, der von einer rechts-religiösen Gruppe mit dem Namen Gülen-Bewegung und ihrer Fraktion innerhalb der türkischen Armee angeführt wurde, war ein bedeutender Wendepunkt, weil er den Boden für ein massives Durchgreifen gegen die Opposition, einschließlich Gewerkschafter*innen, Beamt*innen, kurdische Aktivist*innen und Lehrer*innen, bereitete. In der Tat nutzte Erdoğan genau die Methoden der Gülen-Bewegung, um nicht nur Menschen festzunehmen, die er als Bedrohung seiner Herrschaft ansah, sondern auch, um eine größere Kontrolle über den Staatsapparat zu erlangen. Die Gülen-Bewegung, die seit den 1990er Jahren enge Beziehungen zu allen hochrangigen Politiker*innen und Bürokrat*innen aufgebaut hatte, war enge Partnerin der AKP, bis es zu einem Interessenkonflikt kam.

Mit der Ausrufung des Ausnahmezustands kurz nach dem Putschversuch institutionalisierte Erdoğan in der Praxis die von ihm lange geplante Alleinherrschaft. Es gelang ihm, die Staatsbürokratie, die Medien und die Armee stärker in den Griff zu bekommen. Dies war aus der Sicht Erdoğans ein wichtiger Schritt. Denn das beeindruckende Wirtschaftswachstum, mit dem sich Erdoğan stets brüstete, ging zurück, und in der Gesellschaft kam es zu einer wachsenden Polarisierung zwischen den Anhängern Erdoğans und der Opposition.

Seit dem Putsch hat Erdoğan die linken Führer*innen der HDP, Selehattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, festgenommen und sie beschuldigt, Propaganda für PKK-Kämpfer*innen zu verbreiten. Er hat mehrere andere HDP-Abgeordnete und Aktivist*innen festgenommen. Auch die demokratisch gewählten Bürgermeister*innen mehrerer kurdischer Städte wurden willkürlich ihres Amtes enthoben und durch Regierungsvertreter*innen ersetzt. Der Staat eskalierte den Kampf gegen die in der Türkei lebenden Kurd*innen, was den Tod von Hunderten von Zivilist*innen zur Folge hatte. Einige kurdische Städte in der Türkei wurden durch die wahllosen Bombenangriffe der türkischen Armee buchstäblich zerstört.

Diese heftigen Angriffe gegen alle Oppositionsaktivist*innen legten die Grundlage für die Verfassungsänderung im Jahr 2017 – ein Jahr nach dem gescheiterten Putschversuch — um das Präsidialsystem zu errichten, welches Erdoğan eine beispiellose Machtbefugnis über die Türkei verlieh. Dieses System beseitigt die meisten grundlegenden bürgerlichen Rechte, wie die Gewaltenteilung, und ermöglicht es dem Präsidenten, die Auflösung des Parlaments zu autorisieren. Durch Dekrete könnte der Präsident wichtige Entscheidungen ohne Zustimmung des Parlaments durchführen, einschließlich der Aussetzung von Streiks.

Obwohl kapitalistische Kommentator*innen ihre Opposition gegen diese neue Verfassung zum Ausdruck brachten, machte Erdoğan in einer Rede vor einem mit Geschäftsleuten gefüllten Saal deutlich, dass die neue Verfassung ihm die Macht gegeben hat, Streiks auszusetzen, und er brüstete sich auch damit, wie das von ihm geschaffene Regime die Macht der Arbeiter*innenbewegung erfolgreich zurückgedrängt hat. Und um es klar zu sagen: Aus Sicht der Kapitalist*innen ist das von Erdoğan geschaffene, undemokratische Regime mit dem Kapitalismus vereinbar, solange dieses Regime das Privateigentum verteidigt und die Profite steigert.

Die politische Blockade durchbrechen

Die Abwesenheit einer Massenarbeiter*innenpartei während der 18-jährigen Regentschaft Erdoğans ermöglichte es ihm, ein neoliberales Programm umzusetzen, die Kurd*innen anzugreifen und seine Kontrolle über die Staatsbürokratie durch antidemokratische Maßnahmen zu festigen. Hätte es eine solche Massenarbeiter*innenpartei mit einem kämpferischen sozialistischen Programm gegeben, wäre Erdoğan immer wieder mit seinen Versuchen gescheitert, den türkischen Nationalismus als Deckmantel für Angriffe auf die Arbeiter*innen zu nutzen. Er hätte es nicht geschafft, sich selbst als einen “Mann des Volkes” darzustellen. Im Gegensatz zum neoliberalen Programm Erdoğans würde ein klares sozialistisches Programm die politische Situation in der Türkei im Interesse der Arbeiter*innenklasse umkehren.

Die Abwesenheit einer Massenbewegung der Arbeiter*innen wird heute aus mehreren Gründen stark wahrgenommen. Erstens wächst in der Kapitalisten*innenklasse die Sorge, dass Erdoğan die Interessen des internationalen Kapitals zuverlässig vertreten kann. Kapitalistische Kommentator*innen äußern sich skeptisch über die Unabhängigkeit der Zentralbank, da der letzte Chef der Zentralbank von Erdoğan seines Amtes enthoben wurde. Der Wirtschaft geht es schlecht und Erdoğan weigert sich, eine Einigung mit dem IWF zu schließen. Der Leitartikel, den die Financial Times nach den Ergebnissen der Wahlwiederholung in Istanbul herausgegeben hat, wirft diese Fragen auf und schlägt vor, dass die AKP sich auf Wirtschaftsreformen konzentrieren sollte, die zu nachhaltigem Wachstum und zur Schaffung von Arbeitsplätzen führen würden.

Es besteht auch die Möglichkeit, dass die neue Partei, die vom ehemaligen Wirtschaftsminister Ali Babacan und dem ehemaligen Premierminister Ahmet Davutoğlu gegründet werden soll, eine gewisse Unterstützung von Seiten der Kapitalist*innen erhalten könnte. Beide sprechen von der Notwendigkeit einer soliden Wirtschaftsführung und der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit. Aber Erdoğan genießt nach wie vor hohe Zustimmung, so dass die neue rechtskapitalistische Partei es unglaublich schwer haben wird, Erdoğan herauszufordern.

Zweitens verschlechtert sich der Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse und der Mittelschicht nach der jüngsten Finanzkrise rasant. Obwohl die offizielle Inflation im Dezember 2018 auf 25 Prozent stieg, wurde eine reale Inflation von über 40 Prozent vorhergesagt. Ein kürzlich vom Staat veröffentlichter Bericht behauptet, dass die Inflation auf den niedrigsten Stand seit fast drei Jahren gesunken ist. Für die Mehrheit der Menschen, die zunehmend Schwierigkeiten haben, grundlegendste Bedürfnisse wie Fleisch, Gemüse und Strom mit ihren Einkommen abzudecken, ist dieser Bericht lachhaft.

Die Realität sieht so aus, dass die Wut in der Arbeiter*innenklasse und in der Mittelklasse wächst. Die Arbeitslosigkeit ist innerhalb von einem Jahr um über eine Million angewachsen. Die Jugendarbeitslosigkeit hat ihre Rekordhöhe von 25 Prozent erreicht. Die weltweite Abschwächung der Wirtschaft setzt auch die türkische Wirtschaft stärker unter Druck. Weltkonzerne wie Ford und Honda bereiten sich darauf vor, ihre Automobilwerke in der Türkei zu schließen, was zum Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen führen wird. Erdoğan bereitet sich auch darauf vor, einen Angriff auf die hart erkämpften Errungenschaften der Arbeiter*innenklasse zu unternehmen, indem er Änderungen bei Abfindungszahlungen und anderen sozialpolitischen Maßnahmen vornimmt.

Die Ergebnisse der jüngsten Kommunalwahlen sind daher im Grunde ein Ausdruck der Unzufriedenheit in Industriestädten wie Istanbul, Ankara und Bursa. Die Menschen aus der Arbeiter*innenklasse hatten genug von steigenden Lebenshaltungskosten, fehlenden Arbeitsplätzen und steigenden Mieten. Berichte deuten darauf hin, dass AKP-Anhänger*innen zunehmend besorgt über die sozialen Unterschiede zwischen ihnen und den AKP-Funktionär*innen sind. Darüber hinaus kündigte der Wirtschaftsminister Berat Albayrak im September 2019 an, dass die AKP das Neue Wirtschaftsprogramm für 2020 bis 2022 einführen wird, eine Reihe von Strukturreformen. Das Programm zielt optimistisch darauf ab, ein BIP-Wachstum von 5 Prozent zu erreichen und das Inflationsniveau im Jahr 2020 auf 8,5 Prozent zu halten. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Programm der Privatisierungen, niedriger Unternehmenssteuern und der Deregulierung des Arbeitsmarktes. Es enthält keine Maßnahmen, die der Arbeiter*innenklasse zugute kommen werden.

Das Erdoğan-Regime hat auch eine berüchtigte Bilanz bei der Umsetzung von Projekten oder Gesetzen, die zur Umweltzerstörung führen – ein wichtiges Thema vor allem für die lokalen Gemeinden, was sich in der Zahl der großen Proteste widerspiegelt, die in den letzten Jahren organisiert wurden. Der Bau von Wasserkraftwerken in der Nordtürkei hat zu Protestwellen geführt, die von der lokalen Bevölkerung zur Verteidigung der Umwelt organisiert wurden. In ähnlicher Weise führte der Abriss von Hasankeyf, einer 12.000 Jahre alten antiken Stadt in Batman, anlässlich eines neuen Staudamms zu lokalen Protesten und Massenempörung in der ganzen Türkei. Erdoğan, als Vertreter des Kapitalismus, zerstört rücksichtslos alle Grünflächen und antiken Städte, um Profit für seine Schergen zu erwirtschaften.

In der Situation ist daher die Möglichkeit einer Massenrevolte gegen die neoliberale und undemokratische Herrschaft Erdoğans angelegt. Im Jahr 2013 überfluteten Millionen von Menschen den Taksim-Platz in Istanbul, um den privaten Bauplan zu stoppen, der eine Grünfläche für ein Einkaufszentrum abreißen würde. Obwohl durch diesen Aufstand einige wichtige Errungenschaften erreicht wurden – wie etwa, dass Erdoğan gezwungen wurde, einen Schritt zurückzutreten und den Forderungen der Demonstrant*innen nachzugeben – gelang es dieser Revolte nicht, Erdoğan zu stürzen. Tatsächlich wurden Erdoğans Maßnahmen noch despotischer – als Mittel zur Erhaltung seiner Herrschaft. Einer der Gründe, warum die Proteste Erdoğan nicht stürzten oder ihn allein schwächten, war der klassenübergreifende Charakter der Bewegung, die keine Führung und kein politisches Programm hatte. Hätte die Arbeiter*innenklasse die Bewegung angeführt, indem sie gestreikt und demokratische Arbeiter*innenkomitees gebildet hätte, dann hätte der Aufstand Erdoğan stürzen und sogar eine sozialistische Gesellschaft etablieren können.

Die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Demokratische Partei der Völker (HDP)

Seit die AKP im Jahr 2002 ins Parlament gewählt wurde, ist die CHP die wichtigste Oppositionspartei. Die CHP hält an kemalistischen Werten wie der staatlich gelenkten Wirtschaftsentwicklung mit Raum für private Initiativen fest und ist eine offen kapitalistische Partei, die begrenzte Reformen im Interesse der Menschen der Arbeiter*innenklasse lediglich verspricht. Seit den 1970er Jahren hat sich die Partei jedoch nach Mitte-Links verlagert und eine enge Beziehung zur Gewerkschaft DISK aufgebaut. Typisch wie für jede offen kapitalistische Partei ist die Führung der CHP hauptsächlich gegen die antidemokratischen Maßnahmen Erdoğans, die die grundlegendsten bürgerlichen Rechte wie Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz von politischem Druck angreifen. Obwohl sie sich verbal gegen Privatisierungen ausspricht, wird die CHP zweifellos eine neoliberale Politik betreiben.

In jeder kritischen Phase der 18-jährigen Herrschaft Erdoğans spielte die CHP eine kontraproduktive Rolle. Die CHP-Führung befürchtet, dass eine Massenbewegung der Arbeiter*innenklasse die prokapitalistische CHP an den Rand drängen wird, was bedeutet, dass sie ihre Sitze im Parlament und in den Gemeinderäten und damit alle ihre Privilegien verlieren würde. Vielleicht war der Streik der Eisenbahner*innen in Izmir, der im Dezember 2018 organisiert wurde, ein ausreichender Beweis dafür, dass es aus der Sicht von Beschäftigten keinen wirklichen Unterschied zwischen der AKP und der CHP gibt. Angesichts des starken Anstiegs der Inflation im Sommer 2018 forderten die Eisenbahner*innen, die gemeinsam von einem CHP-geführten Gemeinderat und dem Verkehrsministerium beschäftigt wurden, eine deutliche Lohnerhöhung. Nach dem Scheitern der Gespräche traten Tausende von Beschäftigten in den Streik. Aus Angst, dass der Streik auf andere Städte übergreifen könnte, griff Erdoğan ein und setzte den Streik aus. Dies ist nicht nur ein Indiz für den Grad der Kampfbereitschaft unter Beschäftigten in der Türkei, sondern zeigt auch den tatsächlichen Klassencharakter der CHP.

Während wir das CHP-Programm kritisieren sollten, sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, dass die CHP reformiert oder in eine Kampforganisation umgewandelt werden könnte. Der Klassencharakter der CHP-Führung bedeutet, dass sie ein Hindernis im Kampf für eine sozialistische Bewegung der arbeitenden Bevölkerung gegen das Erdoğan-Regime darstellen wird. An alle Gewerkschafter*innen und Sozialist*innen in der CHP sollte ein Appell gerichtet werden, dass sie sich von der Partei lösen und stattdessen eine Alternative der Arbeiter*innenklasse zur kapitalistischen Agenda der CHP aufbauen müssen.

Die Gründung der HDP hingegen hat Millionen in der Türkei lebender Kurd*innen begeistert. Die von der HDP vertretene Politik gab einen Eindruck davon, was getan werden könnte, um die politische Situation zu verändern. Die Entscheidung, bei den Parlamentswahlen 2015 als politische Partei und nicht als unabhängige Kandidat*innen anzutreten, indem an die gesamte türkische arbeitende Bevölkerung appelliert wurde, war ein wichtiger Schritt, um den türkischen Arbeiter*innen die Hand zu reichen. Das radikale Manifest der HDP stellte einen Bruch mit der nationalistischen und prokapitalistischen Agenda aller etablierten Parteien dar und aus diesem Grund konnten sie in Städten wie Istanbul und Ankara eine mittelgroße Unterstützung erhalten. Die Tatsache, dass es der HDP seither gelungen ist, die 10-Prozent-Hürde zu überwinden, und sie ins Parlament gewählt wurde, zeigt, dass ein Appell an die türkische Arbeiter*innenklasse eine Resonanz findet. Und wir sollten bedenken, dass dieser Sieg erkämpft wurde, während Gebäude und Kundgebungen der HDP von rechtsextremen Nationalist*innen angegriffen wurden.

Aus Furcht, dass türkische und kurdische Arbeiter*innen es endlich schaffen könnten, einen gemeinsamen Kampf gegen die Regierung zu führen, wandte Erdoğan erneut die Taktik des „Teile und Herrsche“ an und startete eine blutige Offensive in den kurdischen Städten. Der Krieg zwischen der türkischen Armee und kurdischen Kämpfer*innen führte zum Tod zahlreicher kurdischer Zivilist*innen. Als Reaktion darauf führten einige kurdische Gruppen einzelne Terroranschläge durch, bei denen Dutzende von Zivilist*innen in Ankara und Istanbul getötet wurden. Diese Angriffe wurden vom türkischen Staat als Vorwand benutzt, um das kurdische Volk zu überfallen. Erdoğan schürte den türkischen Nationalismus, um die Opposition zu spalten und die HDP und seine Unterstützer*innen zu dämonisieren.

Einer der Gründe, warum es dem Erdoğan-Regime gelingt, den Nationalismus zu schüren, ist das kemalistische Erbe, das für einen Staat und eine Nation steht. Es gibt hartnäckige Vorbehalte in der türkischen Bevölkerung gegen die Schaffung eines Kurdistans und viele verteidigen die “territoriale Integrität” der Türkei. Obwohl die Kommunistische Partei der Türkei (TKP) formell das Recht auf Selbstbestimmung verteidigt, lehnen auch sie in Wirklichkeit das Recht der Kurd*innen auf Selbstbestimmung ab.

Die Eskalation des Krieges zwischen der türkischen Armee und den Kurd*innen hat, wie bereits erwähnt, zu einer humanitären Katastrophe geführt und die schreckliche Lage der Kurd*innen unterstrichen. Die jüngsten Angriffe auf die Kurd*innen in Rojava (Nordsyrien) – nachdem die USA beschlossen hatten, sich aus dem Gebiet zurückzuziehen – haben zum Tod zahlreicher Zivilist*innen geführt. Mehr als 100.000 Menschen mussten nach Angaben der Vereinten Nationen aus ihren Häusern fliehen. Die Wasserversorgung wurde abgeschnitten, was fast eine halbe Million Menschen betraf. Aus den jüngsten Entwicklungen könnten wir zwei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens darf und konnte es kein Vertrauen in die imperialistischen Mächte geben und zweitens konnten sich die Kurd*innen nur auf ihre eigene Selbstorganisation und Klassensolidarität verlassen. Ein vereinter Kampf gegen die Bosse und Imperialist*innen ist der einzige Weg, um die kulturellen und nationalen Rechte zu verteidigen, einschließlich des Rechts auf Selbstbestimmung. Als Teil dieses Kampfes könnte die Bildung von Massenarbeiter*innenparteien mit einem sozialistischen Programm die politische Situation in der Region verändern. Und es ist wichtig zu betonen, dass das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) im Gegensatz zur TKP das Recht des kurdischen Volkes auf Selbstbestimmung unterstützt, einschließlich – falls es dies wünscht – voller autonomer demokratischer Rechte, der Errichtung unabhängiger Staaten oder eines gemeinsamen Staates aller Kurd*innen.

Die HDP – die linke prokurdische Partei in der Türkei – hat das Potenzial, Teil des Prozesses der Gründung einer Massenarbeiter*innenpartei mit einem sozialistischen Programm zu werden. Trotz der Versuche von Erdoğan, die HDP zu kriminalisieren, spielt diese Partei in der Türkei weiterhin eine wichtige Rolle, um die Stimme der einfachen Menschen zu erheben. In ihrem Manifest verpflichtet sie sich zur Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, zur Anhebung des nationalen Mindestlohns und zur Wiederherstellung der Gewerkschaftsrechte. Diese Politik ist zwar begrenzt, hat aber das Potenzial, breite Schichten der Gesellschaft zu begeistern. Sie hat das Potenzial, als Leuchtturm für die übrige Arbeiter*innenbewegung zu fungieren, um eine Massenoffensive gegen Erdoğan aufzubauen.

Zweifelsohne hat diese Politik viele kurdische Arbeiter*nnen begeistert, die die HDP bereits unterstützen. Da die HDP als eine kurdische Partei angesehen wird, weiß ein*e türkische*r Arbeiter*in nicht, was die HDP den Beschäftigten bietet. Hätte die HDP bei jeder Wahl, bei der sie kandidiert hat, eine mutige sozialistische Politik vertreten, hätte sie nicht nur kurdische, sondern auch türkische Arbeiter*innen begeistern können. Wenn die HDP zu landesweiten Protesten mit Gewerkschaften aufruft und die Verstaatlichung von Banken und Schlüsselindustrien unter Arbeiter*innenkontrolle fordert und dies mit anderen sozialistischen Forderungen verbindet, dann könnte das die HDP in eine Massen-und Arbeiter*innenpartei verwandeln. Eine solche Partei wird alle Gewerkschafter*innen und Sozialist*innen umfassen und eine demokratische und föderalistische Struktur haben, die sich der Verteidigung der Interessen der Arbeiter*innenklasse und der unterdrückten Schichten in der Gesellschaft verschreiben würde. Wenn die HDP einen internationalistischen und sozialistischen Ansatz verfolgt und einen klaren Klassenappell an die türkischen Arbeiter*innen richtet, dann könnte eine HDP-geführte Regierung mit einem sozialistischen Programm eine echte Möglichkeit werden.

Die Führung der HDP ist jedoch weit davon entfernt, einen solchen Weg zu gehen. Nach den jüngsten Säuberungen in kurdischen Städten streben die Führer*innen der HDP ein breites Bündnis mit verschiedenen Kräften in der Gesellschaft an. Dazu gehörte leider auch ein Besuch bei der Türkischer Industrie- und Wirtschaftsverband (TÜSİAD) – einer Organisation, die die Interessen der Kapitalist*innenklasse in der Türkei vertritt. Anstatt ein Bündnis mit einem Teil der Kapitalist*innenklasse anzustreben, sollte die HDP einen Klassenappell an die gesamte Arbeiter*innenklasse richten und die Arbeiter*innen zu einem gemeinsamen Kampf gegen die rechts-kapitalistische Regierung Erdoğans mobilisieren, um Armut und Unterdrückung zu beenden. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, dafür zu kämpfen, dass die HDP Teil des Prozesses zur Bildung einer Massenarbeiter*innenpartei ist, die die Interessen der Arbeiter*innenklasse verteidigt. Eine weitere wichtige Aufgabe der Sozialist*innen ist der Kampf gegen den Einfluss der Identitätspolitik auf Programm und Methoden der HDP. Eine solche Transformation der HDP erfordert, dass kurdische/türkische Arbeiter*innen in Führungspositionen der Partei gewählt werden.

Bislang waren die Mitgliedsorganisationen der HDP (darunter auch Gruppen, die sich selbst als Marxist*innen bezeichnen) unfähig, die HDP in eine Arbeiter*innenorganisation umzuwandeln. Oft geschah das Gegenteil und sozialistische Organisationen verwässerten ihr Programm und vertedigten demokratische Rechte auf der Grundlage des Kapitalismus. Das Festhalten an der Etappentheorie, in welcher Form auch immer, ist mit dem Marxismus inkompatibel. Es kann im Kapitalismus keine dauerhaften demokratischen Errungenschaften geben. Das Versagen, diese Grundelemente des Marxismus zu erfassen, hatte zur Folge, dass sich sozialistische Organisationen in der HDP an linke reformistische Führer*innen anpassten. Dies steht im Gegensatz zum Ansatz des CWI. Das CWI setzt sich für den Kampf zur Erlangung und Verteidigung aller demokratischen Rechte ein, einschließlich der Redefreiheit, der Vereinigungsfreiheit, des Wahlrechts und des gewerkschaftlichen Organisations- und Streikrechts, wobei es anerkennt, dass der Kampf für demokratische Rechte Teil des Kampfes für den Sozialismus ist.

Die Gewerkschaften

Mit ihren historischen Erfahrungen und Traditionen kämpferischer Gewerkschaften wird die Arbeiter*innenbewegung in der Türkei den stürmischen Ereignissen erneut ihren Stempel aufdrücken müssen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es Gewerkschafter*innen in der Vergangenheit gelungen ist, Beschäftigte auch für die Gründung politischer Parteien und unabhängiger Dachverbände zu gewinnen. Im Jahr 1961 gründeten zwölf Gewerkschafter*innen eine sozialistische Partei, die sich Arbeiterpartei der Türkei nannte – die erste Partei, die auf der Grundlage eines sozialistischen Programms ins Parlament gewählt wurde. 1967 löste sich die Führung der Metallarbeiter*innengewerkschaft zusammen mit anderen Gewerkschaften von der staatlich kontrollierten Türk-İş und gründete einen neuen kämpferischen Gewerkschaftsverband namens DİSK, um die Interessen der Arbeiter*innenklasse zu vertreten. Bis 1975 hatte die DİSK über 700.000 Mitglieder.

Die Tatsache, dass die Arbeiter*innenklasse in der Vergangenheit kämpferische, sozialistische Organisationen gebildet hat, beweist, dass sie die einzige Kraft in der Gesellschaft ist, die Erdoğan und das kapitalistische System mit ihm stürzen kann. Die Gewerkschaften werden als Massenorganisationen der Arbeiter*innenklasse die Führung im Kampf gegen das Erdoğan-Regime übernehmen müssen. Obwohl die Führung der DİSK sich selbst als Erbin eines kämpferischen Gewerkschaftswesens sieht, findet sie nicht den Mut zu Initiativen, die die Arbeiter*innenklasse und die unterdrückten Schichten der Gesellschaft mobilisieren. Besonders in einer Zeit, in der die AKP eine noch bösartigere neoliberale Politik betreibt und die Rechte der Beschäftigten angreifen wird, müssen linke Gewerkschaftsführer*innen einen massenhaften Kampf der Arbeiter*innenklasse führen, um Arbeitsplätze, Rechte und Löhne aller Beschäftigten zu verteidigen. Basismitglieder in diesen Gewerkschaften müssen Druck auf die Führung ausüben, damit die Gewerkschaften in demokratische, kämpferische Gremien umgewandelt werden können.

Auf der anderen Seite muss an die Mitglieder rechter Gewerkschaften wie der Türk-İş appelliert werden. In den letzten Jahrzehnten wurden die kämpferischsten Streiks in der Türkei von türkischen Arbeiter*innen organisiert. Die Arbeiter*innen konnten die Führung ihrer Gewerkschaften dazu bringen, in ihrem Interesse zu handeln. Selbst wenn Türk-İş in der Vergangenheit Proteste und Streiks organisiert hat, bedeutet dies nicht, dass die Führung von Türk-İş tatsächlich die Interessen der Arbeiter*innenklasse vertritt. Es handelt sich um eine rechte Gewerkschaft, die lediglich als Vermittlerin zwischen der Regierung und den Arbeiter*innen fungiert.

Die jüngsten Tarifverhandlungen zwischen der Türk-İş und der Regierung, die mehr als 500.000 öffentlich Bedienstete betrafen, haben viele Türk-İş-Mitglieder weiter frustriert. Sie waren enttäuscht von der achtprozentigen Lohnerhöhung, welche unter der offiziellen Inflationsrate liegt. In einem Artikel, den die Zeitung Evrensel nach der Vereinbarung veröffentlichte, wird berichtet, dass sich die Bergarbeiter*innen in Zonguldak auf die Gründung einer neuen Gewerkschaft vorbereiten. In der kommenden Zeit besteht daher die Möglichkeit, dass die Beschäftigten die Gewerkschaftsführung herausfordern könnten, um die Kontrolle zurückzuerlangen.

Außerdem beweisen die Dutzenden Streiks, die in den letzten Jahren von Arbeiter*innen organisiert wurden, die Entschlossenheit und Kampfbereitschaft der Arbeiter*innenklasse in der Türkei. Letztes Jahr sind Arbeiterinnen, die bei einer Kosmetikfabrik namens Flormar angestellt waren in einen wilden Streik getreten. Ihr Kampf, welchen sie schlussendlich gewannen, richtete sich gegen die Einschränkung gewerkschaftlicher Organisierung am Arbeitsplatz. Die Metallarbeiter*innen, Bergarbeiter*innen und Bauarbeiter*innen haben außerdem mehrere Streikaktionen für höhere Lohne, bessere Arbeitsbedingungen und Rentenerhöhungen durchgeführt.

Die Situation der Menschen aus der Arbeiter*innenklasse hat sich durch die jüngste Wirtschaftskrise noch verschärft. Der Lebensstandard sowohl für die Beschäftigten als auch für die Mittelschicht verschlechtert sich, während die Reichen ihren Reichtum vergrößern. Erdoğan bereitet zudem einen noch brutaleren Angriff auf die Arbeiter*innenklasse durch das Neue Wirtschaftsprogramm vor. Die Gewerkschaften müssen kämpferische Streiks und Proteste organisieren und die Arbeiter*innenklasse mobilisieren, um die Interessen der Werktätigen inmitten dieser Angriffe zu verteidigen. Solche Mobilisierungen könnten möglicherweise zu einem Generalstreik führen. Das Aufstellen klarer Klassenforderungen, wie die Verstaatlichung aller Unternehmen, die in den letzten 20 Jahren privatisiert wurden, und die Aufhebung gewerkschaftsfeindlicher Gesetze, könnte einen elektrisierenden Effekt haben, um eine Massenbewegung der Arbeiter*innenklasse mit einem sozialistischen Programm aufzubauen, welche Erdoğan hinwegfegt.

Für Sozialismus kämpfen in der Türkei und international

Das Fehlen einer Massenarbeiter*innenpartei, trotz der Existenz einer mächtigen Arbeiterklasse, ermöglichte es dem Erdoğan-Regime fast zwei Jahrzehnte lang an der Macht zu bleiben. Auch wenn es Ende der 1990er Jahre Initiativen gab, die Linke in versuchten Gründungen einer Massenpartei zu vereinen, waren dies vergebliche Versuche, da es ihnen an klaren Perspektiven fehlte, um die Interessen der Arbeiter*innenklasse zu verteidigen. Linke Parteien waren daher nicht in der Lage, sich den Herausforderungen des Erdoğan-Regimes zu stellen.

Die Wahl von Fatih Mehmet Maçoğlu in Dersim ist in dieser Hinsicht eine wichtige Entwicklung, um sozialistisches Gedankengut in einer Zeit voranzubringen, in der andere linke Parteien, mit Ausnahme der HDP, in der Wahlpolitik versagt haben. Die Errungenschaften von Maçoğlu in den vergangenen vier Jahren – wie die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Demokratisierung der lokalen Regierungsführung – haben Millionen von Menschen in der ganzen Türkei begeistert und einen Einblick in das gegeben, was Sozialist*innen erreichen könnten. Aber eine einzige Stadt mit einem sozialistischen Bürgermeister reicht nicht aus, um der Arbeiter*innenklasse dauerhafte Errungenschaften zu erkämpfen. Angesichts der Popularität von Maçoğlu in der ganzen Türkei sollte er gemeinsam mit den Gewerkschaften eine nationale Kampagne starten und diese mit einem Programm für den Aufbau von Arbeitsplätzen, Wohnungen und öffentlicher Dienstleistungen verbinden.

Die Arbeiter*innenklasse in der Türkei braucht vor allem eine politische Plattform, auf deren Grundlage sich an den Arbeitsplätzen organisiert, Arbeiter*innen und Jugendlichen zu Demonstrationen mobilisiert und bei Wahlen für ein sozialistisches Programm kandidiert werden könnte, um aus der politischen Sackgasse herauszubrechen. Neben den Gewerkschaften und der HDP könnten auch die vier größten linken Parteien in der Türkei – die Kommunistische Partei (TKP), die Partei der Arbeit (EMEP), die Linkspartei (SOL) und die neue türkische Arbeiterpartei (TİP) – die zusammen Tausende von militanten Arbeiter*innen umfassen, am Prozess der Gründung einer neuen Massenpartei der Arbeiter*innen teilnehmen. An diesem Prozess möchte das CWI mitwirken, um die alltäglichen Interessen der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten zu verteidigen und gleichzeitig diesen Kampf mit dem für den Sozialismus zu verbinden. Anders als bei früheren Versuchen, die Linke zu vereinigen, die hauptsächlich ein Zusammenschluss verschiedener Sekten und Tendenzen in der Arbeiter*innenbewegung der Türkei waren, sollte die Gründung der neuen Arbeiter*innenpartei von der organisierten Arbeiter*innenklasse geleitet werden und alle Klassenkämpfer*innen und Jugendlichen einschließen. Eine solche Front könnte potenziell Millionen von Beschäftigten und Jugendlichen dazu begeistern, einen vereinten und koordinierten Kampf gegen das Erdoğan-Regime aufzubauen, um den Lohn der Arbeiter*innen, die Arbeitsbedingungen und die demokratischen Rechte zu verteidigen. Dies wiederum könnte die Grundlage für die sozialistische Transformation der Gesellschaft legen.

Die Spaltung innerhalb der TKP nach der Gezi-Park-Revolte – die zur Bildung von zwei getrennten Parteien, der TKP und der TİP, führte – zeigt jedoch, dass diese Organisationen die Komplexität der Ära, in der wir leben, nicht begreifen, insbesondere im Hinblick auf die Bildung neuer linker reformistischer Parteien. Die TKP verfolgt einen völlig sektiererischen Ansatz, verurteilt die HDP als eine rein kapitalistische Partei und weigert sich daher, mit ihr zusammenzuarbeiten. In ähnlicher Weise distanziert sich die SOL von der HDP, aber verfolgt stattdessen eine offenkundig opportunistische Richtung, da sie nun de facto ein Bündnis mit der prokapitalistischen CHP eingegangen ist. Die Mitgliedsorganisationen der HDP verstehen zudem nicht das Potenzial der HDP, Teil des Prozesses zur Bildung einer Massenarbeiter*innenpartei zu sein, und sie neigen dazu, die Macht der Arbeiter*innenklasse zur Umwälzung der Gesellschaft zu unterschätzen. All dies zeigt den opportunistischen Druck auf sozialistische Organisationen in unserer Zeit auf.

Deshalb ist es wichtig, eine revolutionäre, trotzkistische Organisation aufzubauen, die auf den Methoden des demokratischen Zentralismus basiert, um dauerhafte Errungenschaften für die Arbeiter*innenklasse zu gewinnen. Die Erfahrungen des CWI in der Arbeiter*innenbewegung auf der ganzen Welt und besonders in Großbritannien, wo Militant eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die Kürzungen in Liverpool und in jener Massenboykottkampagne spielte, die nicht nur die Kopfsteuer, sondern auch Thatcher besiegte – diese erprobten Ideen und Methoden unserer Internationale – sind in der Lage, eine Schlüsselrolle für die Arbeiter*innenklasse in der Türkei zu spielen und den Embryo einer revolutionären Massenorganisation zu schaffen.

Die revolutionären und halbrevolutionären Umwälzungen durch die Massen im Nahen Osten – insbesondere die Massenproteste im Libanon und im Irak gegen Korruption und Armut – könnten eine ähnliche Bewegung in der Türkei befeuern. Diese Bewegungen in der Region haben gezeigt, dass ein vereinter Kampf gegen die Bosse die ethnischen und religiösen Spaltungen überwinden könnte. In einem Land wie der Türkei, in dem der Staat fast alle Minderheiten unterdrückt, ist es wichtig, die demokratischen Rechte aller Minderheiten zu verteidigen. Dies muss aber auch mit dem Kampf für den Sozialismus verbunden werden. Um den Lebensstandard der Massen qualitativ anzuheben, müssen wir die Macht der Kapitalist*innen brechen, indem wir die großen Unternehmen in der Türkei in öffentliches Eigentum und unter die Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innen bringen. Dies würde die Grundlage für die Einführung einer sozialistischen Wirtschaftsplanung schaffen, welche sich nach den Bedürfnissen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung und der Umwelt richtet. Für einen sozialistischen Nahen Osten und eine sozialistische Welt!

Dieser Text ist am 10. Mai in englischer und türkischer Sprache auf www.socialistworld.net, Webseite des Committee for a Workers‘ International (CWI), erschienen. Die Übersetzung machte Luhan Saner Güney, Sol Hamm.

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