Wie weiter für die Massenproteste gegen Rassismus in den USA?

Zur Frage der Gewalt und dem Umgang mit der Polizei

Massenproteste, Plünderungen und brennende Gebäude: Die USA erleben die größte Welle antirassistischer Unruhen und Aufstände seit dem tödlichen Attentat auf Martin Luther King im Jahr 1968. Wichtige Fragen stellen sich für Sozialist*innen und all jene, die Rassismus und das auf Unterdrückung und Ausbeutung beruhende kapitalistische System überwinden wollen.

von Tom Hoffmann, Berlin

Der Mord an George Floyd durch Polizisten des Minneapolis Police Department war kein Einzelfall. Nicht-weiße Menschen werden nicht erst seit Trumps Präsidentschaft von den Behörden schikaniert, misshandelt und immer wieder umgebracht – nur meistens geschieht das nicht vor laufender Kamera wie im Falle Floyds. Die Gefahr bei Polizeieinsätzen getötet zu werden, ist für schwarze Menschen fast dreimal so hoch,  wie für weiße Menschen. Für Latinos und Hispanics ist sie doppelt so hoch. Die Polizist*innen kommen in den allermeisten Fällen ungeschoren davon. Dass Floyds Mörder Derek Chauvin nun auf einmal doch so zügig des Totschlags und auch die drei anderen anwesenden Polizisten der Beihilfe angeklagt wurden, ist allein auf den Druck der Massenbewegung zurückzuführen. Das ist ein erster Erfolg, den die Bewegung erkämpft hat. Doch klar ist auch, dass ein ganzes System rassistischer Unterdrückung überwunden werden muss, damit Schwarze und nicht-weiße Menschen in Sicherheit leben können. 

Kapitalismus = Rassistisches System

In den USA entlädt sich die angestaute Wut über Verhältnisse rassistischer Unterdrückung und Ausbeutung von schwarzen und nicht-weißen Menschen, die auf dem nordamerikanischen Kontinent über 400 Jahre seit dem Beginn der Sklaverei zurückreichen. Diese Unterdrückung ist nicht zu trennen von der ursprünglichen Entwicklung des “modernen” Kapitalismus, der die schwarzen Sklav*innen aus Afrika als Arbeitskräfte für seine Ausdehnung brauchte. Karl Marx sagte, das Kapital kam “von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend” zur Welt. Bis heute, wo dieses System sich mittlerweile als vollständig unfähig erweist die Gesellschaft voranzubringen, kann der Kapitalismus nicht ohne strukturelle Gewalt, noch kann er wirkliche Gleichstellung umsetzen. Die Auswirkungen zeigen sich nicht zuletzt in der Corona-Pandemie und der durch sie ausgelösten Wirtschaftskrise, von der die schwarze und nicht-weiße Bevölkerung überproportional getroffen ist.

Riots

Immer wieder kommt es aufgrund dieser Unterdrückung zu gewaltsamen Aufständen und Unruhen (“Riots”) in den USA. Die Riots nach dem Mord an Martin Luther King erfassten 1968 über 110 Städte. 1992 kam es in Los Angeles zu Unruhen, als vier Polizisten von einem Gericht freigesprochen wurden, nachdem sie den Schwarzen Rodney King brutal zusammengeschlagen hatten. Auch in den letzten Jahren kam es immer wieder zu Protesten und Unruhen in Folge rassistischer Polizeigewalt: 2014 in Ferguson nach dem Mord an Michael Brown oder 2015 in Baltimore nach dem Mord an Freddie Gray. In Minneapolis, wo George Floyd ermordet wurde, kam es bereits 2015 nach dem Mord an Jamar Clark und 2016 im angrenzenden Saint-Paul nach dem Mord an Philando Castille zu Protesten. Die heutigen Massenproteste sind jedoch deutlich verbreiteter als die der letzten Jahre und umfassen mittlerweile alle Bundesstaaten. Und sie finden inmitten einer gewaltigen Krise des kapitalistischen Systems statt, welche bereits 42 Millionen Menschen in den USA ihren Job gekostet hat. Diese Bewegung ist somit auch Vorbotin der massiven gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe der kommenden Monate und Jahre.

Wer plündert wen? 

Die Frage der Gewalt in den Protesten wird nun viel diskutiert. Sozialist*innen müssen dabei klarstellen: Die Gewalt geht in erster Linie vom kapitalistischen System und seinen Vertreter*innen aus. Zahlreiche Videos haben die sozialen Medien quasi geflutet, in denen massive und brutale Polizeigewalt gegen friedliche Demonstrant*innen zu sehen ist. Die Nationalgarde wurde in verschiedenen Staaten mobilisiert und setzt neben der hochmilitarisierten Polizei Tränengas, Gummigeschosse und Blendgranaten ein. Präsident Donald Trump droht offen damit, das Militär gegen die Proteste einzusetzen, während er noch vor nicht allzu langer Zeit bewaffnete Proteste von Rechts in Staaten seiner Kontrahenten unterstütze. Die Situation in den USA weist bereits Elemente eines Bürgerkriegs auf, die sich mit der kommenden allgemeineren Wirtschaftskrise noch verschärfen können.

Wenn pro-kapitalistische Politiker*innen – trotz aller angeblicher Sympathie für antirassistische Ideale – angesichts dieser Realität die “Plünderungen” und “Gewalt der Proteste” in Minneapolis und anderen Städten verurteilen, ist das heuchlerisch. Seit 400 Jahren werden nicht-weiße Menschen in den USA ausgebeutet und geplündert. Schwarze und Weiße wehren sich gegen die Gewalt eines rassistischen Staates. Erstens liegen diesen Ausbrüchen der Wut reale gesellschaftliche Probleme zugrunde, die diese pro-kapitalistischen Politiker*innen zu verantworten haben und welche sie seit Jahrzehnten nicht imstande sind zu lösen. Und zweitens ist ihre ganze Politik selbst eine Politik der “Plünderungen”. Das gilt für die zahlreichen US-Auslandseinsätze in der ganzen Welt auf der Jagd nach Öl, anderen Ressourcen und geopolitischem Einfluss, als auch für die massive Umverteilungspolitik von unten nach oben im eigenen Land, welche die Reichen reicher und die Armen ärmer macht. Egal ob Republikaner oder Demokraten: Sie machen alle Politik für die wahren “Plünderer” – darunter Kapitalist*innen wie Amazon-Chef Jeff Bezos, der während einer Pandemie um 40 Milliarden US-Dollar reicher wird, aber dessen Konzern ein Minimum an Steuern zahlt und seine Beschäftigten feuert, wenn sie für Gesundheitsschutz streiken.

Die Wut organisieren

Die Gewalt, die sich in den USA von den Protestierenden gegen die Polizei oder staatliche Gebäude richtet, ist in erster Linie wütende Reaktion von schwarzen aber auch weißen Arbeiter*innen und Jugendlichen auf einen unhaltbaren Zustand. Das vorher evakuierte Polizeirevier in Minneapolis brannte erst auf, als verkündet wurde dass die Staatsanwaltschaft keine Anklage gegen Floyds Mörder erheben würde. Diese Wut ist mehr als gerechtfertigt und es ist von großer Bedeutung, dass an der Bewegung Menschen über Hautfarben hinweg teilnehmen oder die Bewegung unterstützen. Dass 54 Prozent der US-Bevölkerung laut Befragung der Monmouth Universität die Protestaktionen, inklusive des Brandes der betreffenden Polizeistation gerechtfertigt fanden, weist auf die extrem polarisierte Stimmung in den USA hin.

Plünderungen von Supermarktkonzernen sind natürlich kein Anlass, Mitleid mit diesen Unternehmen zu haben, die ihren Beschäftigten den Mindestlohn oder Gesundheitsschutz in der Pandemie verweigern und ausbeuten und die abgesichert sind durch Versicherungen. Dennoch müssen Sozialist*innen die Frage aufwerfen, wie die Wut eine organisierte und effektive Form annehmen kann, wie sie sich hinter einem Programm sammeln kann, um die Bewegung weiterzubringen. Das heißt aber auch zu warnen: So verständlich die Ursachen von Plünderungen und Brandlegungen auch sind, so wenig werden sie einen ausreichenden und nachhaltigen Beitrag im Kampf gegen Rassismus leisten. Sie treffen die Falschen und werden kontraproduktiv, wenn sie die eigenen Nachbarschaften oder kleine Gewerbetreibende treffen. Die Gewalt wird stattdessen von den Herrschenden als Vorwand für heftige Repression genutzt. Es steht außer Frage, dass Provokateure des Staates sich unter die Proteste mischen, um genau deshalb gezielt Gewalt anzustacheln, Auto- und Ladenfenster einschlagen, usw. Im Gegensatz zu willkürlicher Gewalt muss die Bewegung die wichtigen politischen Lehren aus der Bürgerrechtsbewegung und der Black Lives Matter-Bewegung der letzten Jahren ziehen und diskutieren, wie ein politisches Programm gegen Rassismus und Polizeigewalt sowie eine Strategie zu dessen Durchsetzung aussehen muss. 

Wie umgehen mit der Polizei?

Der Staat und die Polizei sind im Kapitalismus nicht neutral und können es nicht sein. Sie sind Einrichtungen einer kapitalistischen Gesellschaft, deren oberster Zweck die Aufrechterhaltung der bestehenden Macht- und Eigentumsverhältnisse im Sinne einer kleinen Minderheit von Kapitalist*innen ist. Dazu gehört auch die den Herrschenden nützliche rassistische Spaltung in die Gesellschaft zu tragen, um die Arbeiter*innenklasse in Schach zu halten. Deshalb ist eine grundlegende sozialistische Veränderung der Gesellschaft nötig, das heißt die Macht der Banken und Konzerne zu brechen, indem sie in öffentliches Eigentum überführt werden und unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung die Wirtschaft durch die Arbeiter*innenklasse geplant wird. Und es heißt einen neuen, wirklich demokratischen Staat zu schaffen auf Basis der Selbstorganisation der arbeitenden Bevölkerung in Räten und der Bildung einer Arbeiter*innenregierung. In einem solchen Staat wären Mandatsträger*innen, Richter*innen jederzeit wähl- und abwählbar und würden keine materiellen Privilegien genießen. Die Polizei, wie wir sie kennen, würde ersetzt durch Einheiten aus der MItte der Bevölkerung und von dieser kontrolliert.

Das sind die notwendigen Voraussetzungen, um Polizeigewalt für immer zu beenden. 

Von den Bildern von sich jetzt mit der Bewegung in den USA solidarisierenden Polizist*innen sollten wir uns nicht täuschen lassen, auch wenn man diese differenziert bewerten muss. Sie sind sicher Ausdruck von Spaltungslinien innerhalb der herrschenden Klasse und des Staatsapparates über den Umgang mit der Massenrevolte und von Widerspruch zu Trumps Vorgehen. 

Massenbewegungen gehen aber auch an Polizist*innen nicht vorbei und wenn sie Risse im Staatsapparat hervorrufen, verbessert das ihre Erfolgschancen. Ein Kniefall ist aber noch nicht gleichbedeutend damit, dass ein Polizist sich auf die Seite der Bewegung geschlagen hat. Bei den einen drückt er sicher ehrliches Entsetzen über den Mord an George Floyd und Unbehagen über die Zustände in der Polizei aus, die “solidarischen” Worte von Polizei-Chefs und befehlshabenden Entscheidungsträgern machen sind aber wohl eher ein taktisches Manöver, um das eigene Image aufzupolieren und die Bewegung zu spalten – vor allem, wenn sie wenig später doch die Durchsetzung von Ausgangssperren und Gewalt gegen Protestierende verantworten. Solche Aktionen sollen die Bewegung auch von den tieferliegenden Ursachen des Rassismus ablenken. Sie versuchen zu suggerieren, dass es sich bei rassistischen und gewalttätigen Polizisten um (eine offensichtlich ganze Menge) “faule Äpfel” handelt. Parallel wird die Spaltung in “gute, friedliche” und “böse, gewalttätige” Demonstrant*innen betrieben, u.a. durch Ausgangssperren. Beides hat zum Ziel die Bewegung einzudämmen.

Was tun gegen Polizeigewalt?

Nicht nur deswegen müssen Sozialist*innen in den USA konkrete Forderungen in den Kampf gegen Polizeigewalt einbringen, die die Bewegung voranbringen und weitergehende Fragen wie u.a. nach der demokratischen Kontrolle solcher Institutionen aufwerfen. Die Schwesterorganisation der Sol in den USA, die Independent Socialist Group, fordert u.a.:

  • Verurteilung von Derek Chauvin und aller in den Tod George Floyds involvierten Polizisten wegen Mords
  • Ende rassistischer Polizeikontrollen und sogenannten “Stop and Frisk”-Politik (Anhalten und Durchsuchen). Entlassung rassistischer Polizeibeamter.
  • Kontrolle der Polizei und Justiz durch demokratisch gewählte Ausschüsse von Arbeiter*innen und Vertreter*innen aus der Community, mit Einstellungs- und Entlassungsbefugnis; der Befugnis, Richtlinien zu überprüfen und zu erstellen; und der Autorität, unabhängige Untersuchungen von Fällen polizeilichen Fehlverhaltens durchzuführen 
  • Entmilitarisierung der Polizei. Ende der Verschwendung öffentlicher Gelder für Militärtechnologie und Waffen für Polizeibehörden. Stattdessen Investitionen in bezahlbare Wohnungen, allgemeine Gesundheitsfürsorge, öffentliche Verkehrsmittel, öffentliche Schulen, „grüne“ Arbeitsplätze und andere soziale Programme und Dienstleistungen

Diese Forderungen sollten mit den sozialen Problemen, die die Arbeiter*innenklasse unabhängig ihrer Hautfarbe betreffen, verbunden werden. Angesichts der massiven Krise und Arbeitslosigkeit in den USA muss der Kampf gegen Rassismus und Polizeigewalt Teil des Kampfes der arbeitenden Bevölkerung gegen die Abwälzung der Krisenkosten werden. Denn wenn sie Spaltungen überwindet, ist die Arbeiter*innenklasse aufgrund ihrer sozialen Stellung die Kraft, die die Gesellschaft nachhaltig und grundlegend verändern kann. Die Berichte über Solidarität von Gewerkschaftsorganisationen, wie der Transportgewerkschaft ATU in Minneapolis und der Busfahrer*innen, die Gefangenentransporte verweigerten, weisen in diese richtige Richtung. Die ISG schlägt eine koordinierte Kampagne von Protesten, Besetzungen und Streiks vor. Die Sicherheit solcher Proteste könnte durch demokratisch gewählte Ordnerinnen und Ordner sichergestellt werden. Organisierte und demokratische Strukturen könnten der Bewegung Raum geben, um über Programm und weiteres Vorgehen zu diskutieren. 

Kein Vertrauen ins prokapitalistische Establishment

Zentrale Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, heißt auch mit allen prokapitalistischen Kräften zu brechen und eine wirkliche politische Alternative zu den zwei Parteien der Reichen aufzubauen. Angesichts der Wahlen in diesem Jahr und dem vollkommen verständlichen Wunsch Donald Trump endlich loszuwerden, besteht die Gefahr, dass die Bewegung wie frühere antirassistische Proteste in eine Wahlunterstützung der Demokratischen Partei umgeleitet wird. Doch die Demokraten sind keine Alternative. Obama hat während seiner Amtszeit bewiesen, dass auch ein schwarzer, liberaler, pro-kapitalistischer Politiker nicht bereit ist, die grundlegenden Strukturen rassistischer Unterdrückung zu bekämpfen. Die Demokraten regieren gerade in den meisten Großstädten und verantworten damit auch die aktuelle Polizeigewalt. Es braucht stattdessen eine neue Arbeiter*innenpartei in den USA, die den Kampf gegen Rassismus mit dem Kampf gegen all die anderen unhaltbaren Zustände des Kapitalismus verbindet und für eine sozialistische Alternative kämpft.

Perspektiven

Niemand kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt genau sagen, wie die Bewegung weitergehen wird und welche politischen Konsequenzen sich aus ihr ergeben. Es ist nicht abzusehen, wie gefährlich sie letztlich Trump selbst werden kann. Zwar hofft er mit seinem polarisierenden Vorgehen auch seine eigene Basis zu stärken, aber auch das kann nach hinten los gehen. Umfragen deuten an, dass die spezifische Unterstützung für seine Reaktion auf die Proteste in der Bevölkerung geringer ist als seine allgemeinen Zustimmungswerte. Klar ist in jeder Hinsicht, dass diese Bewegung einen Wendepunkt seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie darstellt und eine extrem polarisierte und umkämpfte Periode in den USA einläutet. Doch beeindruckend sind nicht nur die Ereignisse in den USA sondern auch die Zehntausenden, die über Ländergrenzen hinweg auf der ganzen Welt ihre Solidarität auf die Straße tragen. Die ersten Massenproteste seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie sind da. Die nächsten Monate und Jahre werden angesichts der kapitalistischen Krise weitere hervorrufen und in allen Ländern die Unzulänglichkeiten dieses Systems unter Beweis stellen. Der Wunsch nach Überwindung von Rassismus, Armut und Krise und die Bereitschaft, sich dafür zu organisieren, wird wachsen. Die Sol will dazu einen Beitrag leisten und kämpft als Teil des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI), einer internationalen sozialistischen Organisation, für die Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau sozialistischer Demokratien. Macht mit!

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