Trotzkismus Heute

A picture dated 18 August 2010 shows a reproduction of a portrait of Leon Trosky during a speach in his study at the now House/Museum of Leon Trosky, in Mexico City, Mexico. The Russian revolutionary Leon Trotsky died on August 20, 1940 in Mexico victim of an attack. Photo: Susana Gonzalez.

Die Bedeutung der Ideen Leo Trotzkis für das 21. Jahrhundert

Hat sich die Bedeutung der Ideen Leo Trotzkis mit dem Zusammenbruch des Stalinismus vor dreißig Jahren erschöpft? Gibt es folglich keinen Grund eine politische Bewegung aufzubauen, die sich als trotzkistisch versteht? Bedeutet das Festhalten am Trotzkismus gar rückwärtsgewandte Politik, Dogmatismus und eine Barriere für die Schaffung sozialistischer Einheit?

Diese Haltung nehmen nicht nur GegnerInnen von Trotzki und seinen Ideen ein, sondern auch so mancher frühere Trotzkist, wie zum Beispiel der Franzose Alain Krivine, der eine Rolle dabei spielte die sich als trotzkistisch verstehende Ligue Communiste Revolutionnaire (LCR) mit der Gründung der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) aufzulösen. Dieser Artikel soll erklären, warum sich der Trotzkismus nicht nur durch seinen antistalinistischen Inhalt definiert und auch im 21. Jahrhundert die beste Anleitung zur Entwicklung einer sozialistischen Politik und Perspektive ist.

von Sascha Staničić

Trotzki gehört zweifellos zu den größten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Neben Lenin war er der wichtigste Führer des bedeutendsten Ereignisses in der bisherigen Menschheitsgeschichte: der russischen Oktoberrevolution. Allein diese Rolle würde ihm einen Platz im Olymp der Arbeiter*innenbewegung sichern. Aber er war nicht nur ein revolutionärer Führer, Redner, Organisator, er hat nicht nur die Rote Armee aus dem Nichts geschaffen und zum Sieg im Bürgerkrieg gegen die konterrevolutionären und imperialistischen Truppen geführt. Er hat vor allem den entscheidenden Beitrag im 20. Jahrhundert geleistet, den Marxismus auf eine sich verändernde Welt anzuwenden.

Trotzkismus als marxistische Methode

Nichts anderes ist Trotzkismus: die Anwendung der marxistischen Methode in modernen Zeiten. In einigen der wichtigsten neuen Fragen, die sich der Arbeiter*innenbewegung im 20. Jahrhundert stellten, hat Trotzki die klarsten Antworten formuliert – und das früher als jeder andere. Er hat die Texte von Marx, Engels und Lenin nicht als in Stein gemeißelte Dogmen verstanden, sondern die ihnen zugrunde liegende Denkweise angewendet und somit den Marxismus entscheidend weiter entwickelt. Auf dogmatische Marxist*innen angesprochen soll Marx selber einmal gesagt haben, er sei kein Marxist. Trotzki würde sicher ähnlich reagieren, wenn er sehen könnte, wie einige seiner selbst ernannten Erb*innen nur seine Worte wiederholen, anstatt seine Methode anzuwenden. Die Ideen Trotzkis, die in unzähligen Büchern, Artikeln und Briefen formuliert wurden und bis heute leider keine Zusammenfassung in einer kompletten Werkausgabe gefunden haben, müssen auch heute als Leitlinie aufgefasst und weiter entwickelt werden. Sie formulieren aber gleichzeitig zentrale Erkenntnisse und Prinzipien des Marxismus, die verteidigt werden müssen. Manche dieser Ideen waren neue Antworten auf neue Situationen, andere waren weitgehend die Verteidigung marxistischer Prinzipien gegen deren Aufgabe in den dominierenden Strömungen der Arbeiter*innenbewegung, der reformistischen Sozialdemokratie und dem, in seiner Politik nicht minder reformistischen, Stalinismus.

Es können einige wesentliche Ideen benannt werden, die den Trotzkismus ausmachen und heute weiterhin von großer Bedeutung sind.

Die bahnbrechenden Beiträge Trotzkis zum Marxismus sind erstens die Analyse des Stalinismus und daraus ableitend Grundsätze einer sozialistischen Demokratie und zweitens die so genannte Theorie der Permanenten Revolution, die höchste Aktualität für die Aufgaben der Arbeiter*innenbewegung in Afrika, Asien und Lateinamerika hat. Darüber hinaus sind folgende wichtigen Merkmale des Trotzkismus zu nennen: Drittens Trotzkis Faschismusanalyse und seine Vorschläge zum antifaschistischen Kampf. Viertens seine Analyse der so genannten Volksfronten, der Regierungsbündnisse von Arbeiter*innenparteien mit bürgerlichen, pro-kapitalistischen Parteien. Fünftens das Übergangsprogramm und die diesem zugrunde liegende Methode ein Programm auszuarbeiten, das eine Brücke zwischen dem heutigen Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse und der sozialistischen Revolution darstellt. Sechstens das Organisationsverständnis, die Notwendigkeit revolutionäre, marxistische Organisationen aufzubauen. Siebtens der Internationalismus, sowohl im Sinne der Notwendigkeit einer internationalen sozialistischen Revolution als Teil der Theorie der Permanenten Revolution, als auch als internationalistisches Organisationsprinzip – der Schaffung einer marxistischen Internationale.

Antibürokratischer Marxismus

Ab den frühen 1920er Jahren war Trotzkis Leben vom Kampf gegen die Bürokratisierung der jungen Sowjetunion und den aufkommenden Stalinismus geprägt. Dies war ein völlig neues historisches Phänomen, das von den großen marxistischen Lehrmeistern nicht voraus gesehen werden konnte. Es ist Trotzkis größtes theoretisches Verdienst eine marxistische Analyse des Stalinismus entwickelt zu haben, die in jeder Hinsicht den Test der geschichtlichen Ereignisse bestanden hat.

Heute stellen bürgerliche Historiker Trotzki als den Verlierer eines persönlichen Machtkampfes dar und auch Anarchist*nnen behaupten, wäre Trotzki erfolgreich gewesen, wäre er an Stalins Stelle zum Diktator geworden. Trotzki selber hat diese Thesen politisch und praktisch widerlegt. In seiner unvollendeten Stalin-Biographie schrieb er: “Weder Stalin noch ich sind zufällig in unsere heutigen Positionen geraten. Wir haben diese Positionen nicht erschaffen. Jeder von uns ist in dieses Drama als Vertreter bestimmter Ideen und Prinzipien hineingezogen worden. Diese Ideen und Prinzipien wiederum sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben tiefe soziale Wurzeln. Deshalb muss man nicht von der psychologischen Abstraktion von Stalin als Menschen ausgehen, sondern von seiner konkreten historischen Persönlichkeit als Führer der sowjetischen Bürokratie. Man kann die Taten Stalins nur verstehen, wenn man von den Bedingungen der Existenz der neuen privilegierten Schicht ausgeht, die gierig nach materiellem Komfort, besorgt um ihre Positionen, ängstlich vor den Massen ist und jede Opposition tödlich hasst.”

Aus dem Verständnis, dass die Bürokratie Ausdruck der sozialen Entwicklungen in der Sowjetunion war, lehnte Trotzki es ab, seinen Einfluss in der Roten Armee für ein militärisches Vorgehen gegen Stalin und seine Gefolgsleute zu nutzen. Er war sich bewusst, dass nur die unabhängige Aktion der Arbeiter*innenklasse die Bürokratie schlagen könnte und wollte nicht einen Beitrag dazu leisten, die Parteibürokratie durch eine Militärbürokratie zu ersetzen.

Einschränkungen demokratischer Freiheiten, die Trotzki während und kurz nach dem Bürgerkrieg mitgetragen hatte, wurden von ihm, Lenin und den Bolschewiki als vorübergehende Notmaßnahmen zur Verteidigung des jungen und schwachen Arbeiter*innenstaates verstanden, nicht als kommunistische Prinzipien. Deshalb stellte er in den Mittelpunkt des Kampfes gegen die Bürokratie die Forderung nach freier Debatte in der Kommunistischen Partei und nach der Wiederbelebung der Räte als Organe der Arbeiter*innendemokratie.

Seine Opposition gegen den Stalinismus fußte auf einem Klassenstandpunkt. Er verteidigte die durch die Oktoberrevolution erreichten Errungenschaften – die Verstaatlichung der Wirtschaft, die ökonomische Planung und das Außenhandelsmonopol. Er argumentierte dafür, dass Staat und Wirtschaft wieder unter die Kontrolle und Leitung der Arbeiter*innenklasse geraten. Dies war, spätestens ab Beginn der 1930er Jahre, nur durch einen revolutionären Sturz der herrschenden Bürokratie möglich, die eine politische Konterrevolution – die politische Entmachtung der Arbeiter*innenklasse – durchgeführt hatte. Trotzki sagte voraus, dass ohne eine solche politische Revolution, die eine sozialistische Entwicklung der Sowjetunion hätte einleiten können, eine Wiederherstellung des Kapitalismus drohe, die das Land weit zurück werfen würde. Später als vorhersehbar war, hat sich diese Perspektive 1989 bis 1991 bestätigt. Die Restauration des Kapitalismus stellte und stellt für die russischen Massen und die Bevölkerungen in den anderen ehemals stalinistischen Staaten eine soziale Katastrophe dar.

Trotzkis Stalinismusanalyse ist nicht nur von historischem Interesse. Abgesehen davon, dass sie auf die heutige Situation in Kuba anwendbar ist, bietet sie auch eine Leitlinie in Bezug auf die Bürokratisierung der venezolanischen Gesellschaft zuerst unter Hugo Chávez und dann unter Nicolás Maduro, auch wenn dort die kapitalistischen Verhältnisse nicht abgeschafft wurden. Vor allem aber gibt sie eine Vorstellung von der sozialistischen Demokratie, die Marxist*innen anstreben. Sie führt zur Unterstreichung sozialistischer Prinzipien, die in der Pariser Kommune und der Oktoberrevolution ausgearbeitet wurden und wichtige Grundpfeiler für eine Arbeiter*innendemokratie darstellen müssen: die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit von Funktionär*innenen, die Begrenzung von Funktionär*innengehältern auf einen durchschnittlichen Arbeiter*innenlohn, die Rotation von Ämtern, den Aufbau demokratisch strukturierter bewaffneter Staatsorgane (Milizen als Umsetzung der klassischen sozialistischen Forderung nach Volksbewaffnung) statt eines von der Gesellschaft abgehobenen stehenden Heers. Heute würden Marxist*innen aufgrund der Erfahrungen mit dem Stalinismus eine grundsätzliche Opposition gegen einen Ein-Parteien-Staat hinzufügen und das Recht zur Bildung von freien Gewerkschaften und Parteien fordern – selbstverständlich mit Ausnahme solcher faschistischer und konterrevolutionärer Parteien, die mit Waffengewalt gegen einen Arbeiter*innenstaat vorgehen wollen.

Permanente Revolution im 20. und 21. Jahrhundert

Trotzki entwickelte aus den Erfahrungen der Russischen Revolution von 1905 und einer Analyse der russischen Gesellschaftsstruktur die These, dass in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung nicht die nationale Kapitalistenklasse die offenen Aufgaben der bürgerlichen Revolution lösen kann, sondern nur die Arbeiter*innenklasse dies erreichen kann. Diese könne aber in einem revolutionären Prozess nicht bei den bürgerlichen Aufgaben verharren, sondern müsse zur Festigung ihrer Macht und zur Durchsetzung ihrer Interessen unmittelbar an die Aufgaben der sozialistischen Revolution gehen (siehe dazu den Artikel von Sebastian Förster auf Seite 3). Diese Revolutionskonzeption ist als Theorie der Permanenten Revolution bekannt geworden und wurde von Trotzki später verallgemeinert auf ökonomisch unterentwickelte Länder angewendet. Sie ist auch heute noch zutreffend.

Die ehemals koloniale Welt befindet sich heute in einem Zustand wirtschaftlicher Abhängigkeit von den imperialistischen Staaten und ihren Institutionen, wie IWF und Weltbank. Der klassische Kolonialismus wurde von einem Neokolonialismus abgelöst, der zwar formelle Unabhängigkeit bedeutet, aber real nur eine neue Form der Abhängigkeit eingeführt hat. In Ländern wie Pakistan, Nigeria oder Kolumbien gibt es keine stabilen bürgerlichen Demokratien, es herrschen weiterhin halbfeudale Zustände auf dem Land, die nationale Frage ist (wo sie existiert) ungelöst. Offensichtlich haben sich die Kapitalistenklassen in diesen Ländern als zu schwach, unfähig und unwillig zur Lösung der Aufgaben der bürgerlichen Revolution gezeigt. Das hat seine Gründe in der enormen wirtschaftlichen und militärischen Dominanz der imperialistischen Staaten, aber auch darin, dass Kapitalistenklassen und Großgrundbesitzer in solchen Ländern weitgehend eine Personalunion bilden. Die Kapitalisten haben auf dem Land investiert und die Großgrundbesitzer haben in der Industrie investiert. Es gibt kein Interesse der Kapitalisten die Landfrage zu lösen. Mehr noch: die Angst vor der Arbeiter*innenklasse hält das schwache Bürgertum in diesen Ländern davon ab, an die Lösung dieser Fragen heranzugehen. Denn würde die Arbeiter*innenklasse mobilisiert, gäbe es für sie keinen Grund bei den bürgerlichen Aufgaben stehen zu bleiben. Sie würde ihre sozialen Interessen zur Geltung bringen und ihre eigenen Forderungen nach höherem Lohn, menschenwürdigen Arbeitsbedingungen, freien Gewerkschaften, Streikrecht, Sozialversicherungen etc. aufstellen und dafür kämpfen. Das würde sie in einen unüberbrückbaren Widerspruch zu den Interessen der einheimischen Kapitalisten bringen und die Frage der sozialistischen Revolution auf die Tagesordnung setzen. Genau das konnte man in vielen revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts beobachten.

Als die iranischen Massen 1978/79 gegen die Diktatur des Schah Reza Pahlavi aufbegehrten, spielte die Arbeiter*innenklasse durch einen wochenlangen Generalstreik die entscheidende Rolle, das verhasste Regime zum Sturz zu bringen. In ihren Mobilisierungen gegen den Schah stellte sie aber nicht nur demokratische Forderungen auf, sondern auch soziale. Räte entstanden und Forderungen nach Verstaatlichung, zum Beispiel der Ölindustrie, wurden erhoben. Eine „Republik der Armen“ wurde gefordert, die nur erreichbar gewesen wäre, wenn die Revolution den bürgerlich-kapitalistischen Rahmen verlassen hätte. Um das zu verhindern, musste der Kapitalismus Zuflucht zu den Islamisten um Ayatollah Khomeini nehmen, der die Revolution von innen zerstören und die Arbeiter*innenbewegung unterdrücken konnte. Ähnliche Phänomene konnte man in Indonesien in den 1960er Jahren oder in der portugiesischen Nelkenrevolution 1974 beobachten. Eine künstliche Beschränkung der sozialen Kämpfe auf bürgerlich-demokratische Forderungen entspricht nicht der gesellschaftlichen Situation und der Dynamik der Arbeiter*innenkämpfe. Die Politik der an verschiedenen Schattierungen des Stalinismus orientierten Kräfte, auf Bündnisse mit bürgerlichen Kräften zur Erkämpfung einer kapitalistisch-demokratischen Etappe zu setzen, war zum Scheitern verurteilt. Diese auf der so genannten Etappentheorie basierende Politik verkennt, den schwachen und abhängigen Charakter des Bürgertums in diesen Ländern und schreibt diesem ein revolutionäres Potenzial zu, was es nicht hat.

Tatsächlich hat sich die Theorie der Permanenten Revolution auch in den Ländern bestätigt, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg der Kapitalismus abgeschafft wurde – wenn auch in verzerrter Form. In China, Kuba und anderen Ländern entwickelten sich aufgrund der Politik der die Arbeiter*innenbewegung dominierenden stalinistischen und kleinbürgerlichen Kräfte zwar keine klassischen Arbeiter*innenrevolutionen nach dem Vorbild der Oktoberrevolution, aber die Tatsache, dass der Kapitalismus unfähig war, diese Länder sozial und ökonomisch zu entwickeln, führte zu einem Vakuum, in das die Guerillas von Mao und Castro hinein stoßen konnten und das diese dazu zwang weiter zu gehen, als sie ursprünglich vor hatten (denn Mao war ein Anhänger der Etappentheorie und Castro nicht mehr als ein kleinbürgerlicher Demokrat) und die kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse zu überwinden und Staaten nach dem Vorbild der stalinistischen Sowjetunion zu schaffen.

In den letzten zwanzig Jahren haben wir gesehen, wie revolutionäre Bewegungen in Nepal, Venezuela, Nordafrika oder dem Sudan in die Sackgasse geraten können, wenn sie nicht bereit sind, die Grenzen des Kapitalismus zu sprengen. Die Politik der Maoisten in Nepal, die zum Sturz der Monarchie in eine bürgerliche Regierung eintraten, zeigte keine Perspektive auf, die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen und musste zu einer Entfremdung der Massen mit ihnen führen. 

In Venezuela hatte Chávez eine Zeit lang einen positiven Bezug auf Trotzki und die Permanente Revolution propagiert, seine Ideen aber tatsächlich entstellt. Trotz einer Reihe zu unterstützender Sozialreformen und einiger Verstaatlichungen war die die Politik der venezolanischen Regierungen von Chávez und Maduro nie auf einen Bruch mit dem Kapitalismus ausgerichtet. Das führte in den letzten Jahren nicht nur zu einer Reduktion der Sozialprogramme aufgrund der Auswirkungen der kapitalistischen Krise, sondern auch zu einem Rückgang der Unterstützung für die Regierungen in der Bevölkerung. Insbesondere die stark gewachsene staatliche Bürokratie führt zu großem Unmut. Auch die Revolutionen in Ägypten und Tunesien führten zu keiner grundlegenden Verbesserung der Lebenssituation der Massen, weil zwar die Diktatoren Ben Ali und Mubarak gestürzt wurden, die grundlegenden kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse aber unangetastet blieben – auch weil Gewerkschaften und Linke auf Bündnisse mit „demokratischen“ bürgerlichen Kräften statt auf eine unabhängige sozialistische Klassenpolitik setzten. Eine marxistische Politik für Venezuela,  Nepal und Nordafrik ahätte die selbständige Organisierung der Arbeiter*innenklasse in den Mittelpunkt gerückt und für ein Programm der Verstaatlichung der entscheidenden Wirtschaftsbereiche und der Bildung einer auf Fabrik- und Nachbarschaftskomitees basierenden Arbeiter*innenregierung gekämpft.

Trotzkis Faschismustheorie und antifaschistische Taktik

Trotzki erkannte wie kein Anderer die Gefahr, die in den 1920er und 1930er Jahren von den faschistischen Bewegungen für die Arbeiter*innenklasse und die ganze Menschheit ausging. Immer wieder versuchte er auf die deutsche Arbeiter*innenbewegung Einfluss zu nehmen, um die drohende Katastrophe abzuwenden.

Zwei Gedanken standen bei ihm im Mittelpunkt. Erstens, dass der Faschismus keine normale Form der bürgerlich-kapitalistischen Reaktion war. Mittels seiner Massenbasis im Kleinbürgertum (kleine Gewerbetreibende, Bauern, Beamte etc.) bauten die Faschisten eine terroristische Bewegung auf, deren Ziel die völlige physische Vernichtung jeglicher Formen von Arbeiter*innenorganisationen war. Deshalb sah er im Kampf gegen Hitler die höchste Priorität für die deutsche und internationale Arbeiter*innenbewegung. Er wies die Haltung der Kommunistischen Partei zurück, die den Faschismus-Begriff inflationär benutzte und ihn sowohl auf die halb-bonapartistischen Regierungen vor Hitler (Brüning, Papen, Schleicher) als auch auf die Sozialdemokratie anwendete. Damit wurde die besondere Gefahr, die von den Nazis ausging, relativiert und die Arbeiter*innenklasse nicht auf die nahende Entscheidungsschlacht vorbereitet. Zweitens erkannte Trotzki, dass der Faschismus nur an die Macht gelangen kann, wenn die Kapitalistenklasse ihm dazu verhilft – wenn die Bosse und Bänker also auf die totale Vernichtung der Arbeiter*innenbewegung setzen, um ihre Profitaussichten zu sichern und die drohende sozialistische Revolution abzuwenden. Daraus schlussfolgerte er, dass der Kampf gegen die Nazis auf einer proletarischen Klassenbasis und mit einer sozialistischen Perspektive geführt werden musste. Tatsächlich war die historische Alternative im Deutschland der frühen 1930er Jahre Sozialismus oder Faschismus . Darauf aufbauend argumentierte er für eine Einheitsfront der Arbeiterorganisationen zur Abwehr der Nazis (siehe Artikel auf Seite 19) und lehnte zum Beispiel ab, sich auf die Institutionen des bürgerlichen Staates, wie die preußische Polizei, im Kampf gegen Hitler zu verlassen.

Was können wir daraus für den heutigen Kampf gegen AfD, NPD und Nazi-Kameradschaften lernen? Natürlich ist die heutige Situation in vielerlei Hinsicht nicht mit den 1930er Jahren zu vergleichen. Weder steht der Kapitalismus kurzfristig vor der Notwendigkeit (noch wäre er dazu in der Lage) zu brutalen diktatorischen Herrschaftsmethoden zu greifen, noch besteht heute eine vergleichbare soziale Basis für eine faschistische Massenbewegung, denn das Kleinbürgertum ist in Deutschland heute viel kleiner als damals. Die Nazis haben dementsprechend keine aktive Massenbasis und erreichen in der Regel nur dann beachtliche Wahlerfolge, wenn sie ihre tatsächlichen Ziele verstecken und sich ein demokratisches Mäntelchen umlegen. Tatsächlich ist daraus das Phänomen rechtspopulistischer Parteien wie der AfD entstanden, die zwar extrem rassistisch und nationalistisch sein können, aber keine einer faschistischen Bewegung vergleichbare physische Bedrohung für die Arbeiter*innenbewegung darstellen. Dass eine solche auch durch kleinere Nazi-Organisationen besteht, zeigen aber Angriffe auf GewerkschafterInnen, die NSU-Mordserie und andere Anschläge auf Migrant*innen und Linke. Und doch sind wichtige Gedanken Trotzkis auf heute anwendbar. Zum einen der Gedanke, dass der Faschismus keine normale Form der bürgerlichen Reaktion ist und deshalb auch nicht mit normalen Mitteln bekämpft werden kann. Daraus ergibt sich eine Politik der Konfrontation der Nazis: für die Verhinderung ihrer Aufmärsche und Versammlungen. Ihnen sind demokratische Rechte zu verwehren, weil sie diese nur dazu ausnutzen, Terror zu verbreiten und die Abschaffung demokratischer Rechte vorzubereiten. Zum anderen der Gedanke, dass der Faschismus nicht gemeinsam mit den Vertreter*innen des Kapitalismus zu bekämpfen ist. Nazis und auch Rechtspopulisten ziehen ihre Unterstützung aus dem Image, die Interessen des kleinen Mannes zu vertreten. Sie präsentieren sich als Gegner des Establishments, der Politikerkaste und oftmals auch des kapitalistischen Systems. Wie soll es da möglich sein, gemeinsam mit Vertreter*innen dieses Establishments Menschen, die sich wegen genau dieser Ablehnung von den Rechten angezogen fühlen oder bereit sind, ihnen eine Chance zu geben, gegen diese zu mobilisieren? Nur wenn der Kampf gegen Nazis und Rechtspopulisten mit einem Kampf gegen die gesellschaftlichen Ursachen, die ihr Wachstum ermöglichen, verbunden wird, kann er auch dauerhaft erfolgreich sein.

Für unabhängige Arbeiter*innenpolitik

Trotzkis Verdienst war nicht zuletzt die Verteidigung von Prinzipien, die die marxistische Arbeiter*innenbewegung über viele Jahrzehnte von Kämpfen und Debatten entwickelt hatte. Rosa Luxemburg führte schon um die Jahrhundertwende den Kampf gegen den so genannten Millerandismus – die Beteiligung von Sozialist*innen an bürgerlichen, pro-kapitalistischen Regierungen. Das Mitglied der französischen Sozialistischen Partei Millerand war damals als Minister in die dortige Regierung eingetreten. Luxemburg erklärte, dass man als Mitglied einer Regierung Mitverantwortung für das gesamte Handeln der Regierung übernimmt und es nicht die Aufgabe von Sozialist*innen sein kann, an der Verwaltung des Kapitalismus teilzunehmen. Die Bolschewiki verfolgten im Revolutionsjahr 1917 dieselbe Politik als sie sich weigerten in die Provisorische Koalitionsregierung aus bürgerlichen Kadetten, Sozialrevolutionären und Menschewiki einzutreten und diese auch nicht von außen unterstützten. Dieses Prinzip fußte auf der Einschätzung eines unüberbrückbaren Interessengegensatzes zwischen Kapitalistenklasse und Arbeiter*innenklasse und der Unfähigkeit des Kapitalismus, auch bei so genannten Mitte-Links-Regierungen, eine dauerhafte fortschrittliche Entwicklung im Interesse der Masse der Bevölkerung zu ermöglichen. In pro-kapitalistischen Regierungen mussten die Arbeiter*innenparteien zwangsläufig Kompromisse eingehen, die sie ihres sozialistischen und revolutionären Charakters berauben mussten, schließlich stand die Geschäftsgrundlage einer solchen Regierung im Widerspruch zum Sozialismus. Deshalb war eine unabhängige Organisierung und Politik der Arbeiter*innenklasse notwendig und die Arbeiter*innenparteien sollten eine solche betreiben und propagieren, nicht zuletzt um die Massen zu einem Klassenbewusstsein zu erziehen und eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft vorzubereiten.

Die stalinisierte Kommunistische Internationale brach dieses Prinzip nachdem ihre ultralinke Politik der so genannten Dritten Periode in der nahezu widerstandslosen Machtergreifung der Nazis geendet war. Nun schüttete sie das Kind mit dem Bad aus und propagierte im Kampf gegen den Faschismus die Bildung von Koalitionsregierungen mit bürgerlich-demokratischen Parteien zur Verteidigung der kapitalistischen Republik. Die bekanntesten Beispiele für solche Regierungen entstanden in Frankreich und Spanien und wurden Volksfront-Regierungen genannt. Sie spielten eine direkte Rolle bei der Verhinderung einer sozialistischen Revolution. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg traten Kommunistische Parteien in Westeuropa in bürgerliche Koalitionsregierungen ein und leisteten einen Beitrag zu Konsolidierung des Kapitalismus nach der Katastrophe des Kriegs, die in vielen Ländern zu starken revolutionären Bewegungen führte. Grund für diese konterrevolutionäre Politik der stalinistischen Parteien waren die Interessen der Moskauer Bürokratie. Diese sah in einer Arbeiter*innenrevolution in einem anderen Land eine Bedrohung ihrer Machtposition, denn die Entwicklung von Arbeiter*innenräten und sozialistischer Demokratie hätte auch für die sowjetische Arbeiter*innenklasse ein Beispiel sein können.

Trotzki führte einen erbitterten Kampf gegen diese Volksfrontpolitik. Er erkannte, dass eine Beschränkung des antifaschistischen Kampfes in Zeiten der sozialen Revolte auf die Verteidigung der kapitalistischen Republik, und damit der kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse, diesen nicht stärkt, sondern schwächt und prophezeite im Fall Spaniens, dass dies zur Niederlage der Republik führen würde. Und er betonte den konterrevolutionären Charakter solcher Volksfrontregierungen und warb für einen Bruch der Arbeiter*innenparteien mit diesen.

Nun befinden wir uns heute nicht in einer revolutionären Periode, wie im Spanien oder Frankreich der 1930er Jahre. Die Frage der Regierungsbeteiligung von linken bzw. Arbeiter*innenparteien mit bürgerlichen, pro-kapitalistischen Parteien ist aber brandaktuell. In Italien führte die Beteiligung der Partido Rifondazione Comunista (Partei der Kommunistischen Neugründung) an der pro-kapitalistischen Prodi-Regierung zum Niedergang der Partei, weil sie mitverantwortlich für den Sozialabbau war, von ihr als kommunistischer Partei aber eine grundlegend andere Politik erwartet wurde. Heute gibt es in Italien keinen sozialistischen oder kommunistischen Parlamentsabgeordneten – in dem Land, das einstmals die stärkste Kommunistische Partei Westeuropas vorweisen konnte!

In Deutschland ist die Partei DIE LINKE in Berlin, Thüringen und Bremen in Koalitionsregierungen mit der SPD und den Grünen und verwaltet den Kapitalismus, statt alle Kraft darauf zu verwenden Selbstaktivität und Selbstorganisation der arbeitenden Bevölkerung gegen Privatisierungen und Stellen- und Sozialabbau zu fördern. Eine solche Politik, auch wenn sie mit der Motivation betrieben wird, schlimmeren Sozialabbau zu verhindern, ist mit einer sozialistischen Perspektive unvereinbar, entfremdet die bewusstesten Teile der Arbeiter*innenklasse von der LINKEN und schwächt den Aufbau einer Gegenbewegung gegen den Kapitalismus. Sie schwächt früher oder später auch DIE LINKE, wie die Erfahrungen der Wahlergebnisse der PDS nach den ersten Regierungsperioden in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zeigen.

Trotzkist*innen sind scharfe Gegner*innen einer solchen Politik des Klassenkompromisses und fordern den Austritt der LINKEN aus solchen Regierungen. Sollten sie zumindest, wie die Sol es tut. Wenn LINKE-PolitikerInnen, die sich als Trotzkist*nnen verstehen, eine unklare Haltung zu dieser Frage einnehmen, machen sie einen schweren Fehler, was in der Vergangenheit leider vorkam. Sol-Mitglieder sind nicht zuletzt Teil der Antikapitalistischen Linken (AKL) innerhalb der Partei DIE LINKE, weil die AKL eine grundsätzliche Opposition gegen Regierungbeteiligungen formuliert (gut zusammengefasst in dem Buch „Nach Goldschätzen graben, Regenwürmer finden . Die Linke und das Regieren, PapyRossa 201x) und nicht der Strömung „Bewegungslinke“, die explizit offen ist für Kräfte, die in solchen Regierungskoalitionen einen Weg zu gesellschaftlicher Veränderung sehen. 

Für ein sozialistisches Übergangsprogramm

Jede politische Organisation oder Bewegung definiert sich in letzter Instanz durch ihr Programm. Ein Programm hat aber nicht nur die Aufgabe politischen Ziele zu benennen, sondern beinhaltet auch eine Methode, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Programme können Lippenbekenntnisse sein, wenn sie so formuliert sind, dass ihre Zielsetzungen mit der konkreten Politik der jeweiligen Organisation wenig zu tun haben. Wer glaubt der SPD zum Beispiel, dass sie für demokratischen Sozialismus eintritt, obwohl dies Teil ihres Grundsatzprogramms ist?

Ein Verdienst Trotzkis war es zur Gründung der Vierten Internationale einen Programmentwurf vorzulegen, der nicht nur die politischen Ziele und Prinzipien der neu zu gründenden Organisation zusammenfasste, sondern auch die Herangehensweise an die Entwicklung eines marxistischen Programms, wie sie schon von den Bolschewiki 1917 und der jungen Kommunistischen Internationale zu Beginn der 1920er Jahre praktiziert wurde, zu verallgemeinern. Dabei geht es um die Propagierung so genannter Übergangsforderungen, also um das Aufstellen eines Übergangsprogramms. Das Gründungsdokument der Vierten Internationale, das den Titel „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale“ trug ging dementsprechend als das „Übergangsprogramm“ in die Geschichte ein.

Das Übergangsprogramm geht von einem Widerspruch zwischen der objektiven Reife der gesellschaftlichen Situation (Krise des Systems einerseits, hoher Entwicklungsstand der Produktivkräfte und von Wissenschaft und Technik andererseits) für eine sozialistische Veränderung und der subjektiven Unreife der Arbeiter*innenklasse (Unklarheit im Bewusstsein, Schwäche und verräterische Führung ihrer Organisationen) aus. Wie schon Rosa Luxemburg sagte, besteht die Aufgabe darin, um die Macht zu erobern, erst einmal die Massen zu erobern. Ein Übergangsprogramm soll dem Rechnung tragen und eine Brücke darstellen zwischen dem aktuellen Bewusstsein und dem bestehenden Stand der Klassenkämpfe und dem Ziel der sozialistischen Revolution. Es beschreibt dementsprechend nicht die aufzubauende sozialistische Gesellschaft, sondern die Aufgaben im Übergang zu dieser und formuliert Forderungen, die dazu dienen sollen, die Arbeiter*innenklasse von der Eroberung der Macht zu überzeugen und dafür zu mobilisieren. So heißt der Untertitel des Gründungsdokuments der Vierten Internationale: „Die Mobilisierung der Massen um Übergangsforderungen als Vorbereitung zur Eroberung der Macht“.

Was bedeutet diese Methode für die heutige Zeit? Der von Trotzki genannte Widerspruch zwischen der objektiven Reife und subjektiven Unreife für den Übergang zum Sozialismus besteht heute in noch weitaus größerer Art als 1938. Damals konnte man die Krise der Arbeiter*innenklasse in der Krise ihrer Führung zusammen fassen, aber immerhin gab es ein weit verbreitetes sozialistisches Bewusstsein unter Arbeiter*innen und es gab starke Arbeiter*innenparteien mit sozialistischem Anspruch, auch wenn sie von sozialdemokratischen und stalinistischen Apparaten besetzt waren. Heute gibt es nicht nur eine Krise der Führung der Arbeiter*innenbewegung, sondern auch eine Krise des Bewusstseins und der Organisation: es gibt in der Masse der Arbeiter*innenschaft in den meisten Ländern, sicherlich in Deutschland, kein sozialistisches Bewusstsein (wenn auch viel Sympathie für sozialistische Ideen, für Marx und große Ablehnung der Banken und Konzerne) und es gibt in den meisten Ländern keine Massenparteien der Arbeiter*innenklasse. Auf diesen Umstand muss in der Formulierung und Präsentation eines sozialistischen Programms Rücksicht genommen werden. Das darf aber nicht so weit gehen, dass dem Programm der sozialistische Inhalt genommen wird. Die zu bauende Brücke muss tatsächlich beide Enden verbinden: das derzeitige Bewusstsein und die Notwendigkeit den Kapitalismus durch eine sozialistische Demokratie zu ersetzen. Halbe Brücken führen in den Abgrund.

Leider haben in den letzten Jahren einige Linke, darunter auch solche, die sich als Trotzkist*innen verstehen, nur halbe Brücken gebaut – und dies auch noch als Übergangsprogramm bezeichnet! Führende Protagonist*innen der heutigen marx21-Strömung haben sich in der Gründungsphase der WASG (Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit – 2004 gegründete neue Partei, die 2007 mit der PDS zur LINKEN fusionierte) dadurch hervor getan, dass sie es explizit ablehnten für die WASG ein sozialistisches Programm vorzuschlagen und erklärten das mit dem fehlenden sozialistischen Bewusstsein in der Bevölkerung. Dies vergaßen sie dann ganz schnell, als im Vereinigungsprozess von WASG und PDS (so gut wie) niemand mehr in Frage stellte, dass das Parteiprogramm einen sozialistischen Bezug haben sollte. Seitdem geht es eher um die spannende Frage, was Sozialismus eigentlich ist und wie er erreicht werden kann. So mancher Linke hat in den letzten Jahren in Worten für ein Übergangsprogramm argumentiert, so der damalige LINKE-Bürgerschaftsabgeordnete in Hamburg, Joachim Bischoff, und der britische Professor und Repräsentant der dortigen Socialist Workers Party, Alex Callinicos, in seinem Antikapitalistischen Manifest von 2003. Doch beide bezeichneten ein Programm als Übergangsprogramm, das in den Grenzen keynesianischer Regulierung und Staatsintervention im Rahmen der Marktwirtschaft verharrte. Ähnliches konnte man in der Erklärung zur Euro-Krise verschiedener europäischer trotzkistischer und antikapitalistischer Organisationen im Jahr 2020 oder dem Corona-Manifest von Winfried Wolf, Christain Zeller und Verena Kreilinger aus diesem Jahr sehen. Statt unzweideutig für die Notwendigkeit der Ersetzung der Marktwirtschaft durch demokratische Planwirtschaft zu argumentieren und die Überführung der Banken und Konzerne in öffentliches Eigentum bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung zu fordern, bleiben diese meist bei Forderungen nach demokratischer Kontrolle stehen – als ob etwas demokratisch kontrolliert werden kann, das blind nach eigenen Gesetzen wütet und wenigen Privatkapitalisten und Großaktionären gehört.

Ein sozialistisches Übergangsprogramm muss Rücksicht auf das bestehende Bewusstsein nehmen, darf aber nicht zu einem systemimmanenten, reformistischen Programm degradiert werden. Es muss die Unfähigkeit des Kapitalismus, die Krisen und Probleme der Welt zu lösen, zum Ausgangspunkt nehmen und davon Forderungen ableiten, die an diese Ursache herangehen. In der heutigen Zeit der größten kapitalistischen Weltwirtschaftskrise seit den 1930er Jahren, der massiven Überkapazitäten und der drohenden profitgetriebenen ökologischen Katastrophe gilt das umso mehr. Deshalb hat kein Programm die Bezeichnung sozialistisch oder Übergangsprogramm verdient, das nicht die Eigentumsfrage als wesentliche Frage aufwirft und die Verstaatlichung unter demokratischer Arbeiterkontrolle und -verwaltung der Banken und Konzerne und von Unternehmen, die Massenentlassungen planen und Produktionsstätten schließen, fordert.

Doch ein Programm existiert nicht nur auf dem Papier. Es muss im Klassenkampf angewendet werden. Trotzkist*innen sind keine Hinterzimmerrevolutionär*innen. Sie bringen sich auf allen Ebenen aktiv in Bewegungen und Kämpfe ein, versuchen diese zu stärken, machen Vorschläge für erfolgversprechende Strategien und tragen in diese Kämpfe ein sozialistisches Programm und eine sozialistische Perspektive.

Revolutionäre Organisation

Nicht selten werden Trotzkist*innen belächelt, weil es relativ viele Organisationen gibt, die sich auf den Trotzkismus beziehen. Ihnen wird Sektierertum, Dogmatismus und Spaltungswut vorgeworfen. Es gibt gute und schlechte Gründe für die Aufspaltung der trotzkistischen Bewegung in viele verschiedene Verbände. Es ist nicht Aufgabe dieses Artikels diese darzulegen. Jedoch kommt in der Existenz dieser Organisationen eine Grundidee Trotzkis zum Ausdruck, die dieser wiederum von Lenin aufgenommen und verteidigt hat: die zentrale Bedeutung einer revolutionär-marxistischen Organisation mit einer klaren politischen Vorstellung, sei sie noch so klein und schwimmt sie noch so sehr gegen den Strom. Die Geschichte des Bolschewismus ist dafür der wichtigste historische Beleg.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist voll von Beispielen für die Bedeutung einer revolutionären Organisation in revolutionären Situationen – bis auf die erfolgreiche Oktoberrevolution leider Negativbeispiele. In unzähligen Situationen haben die Massen unter Beweis gestellt, dass sie Revolution „machen können“. Deutschland 1918/19, Ungarn 1919, Spanien 1936, Ungarn 1956, Iran 1978/79, Frankreich 1968, Portugal 1974, Ägypten und Tunesien 2011 – die Liste ließe sich fortsetzen. Doch Revolution machen ist eine Sache. Sie zu einem dauerhaften Erfolg führen und eine neue staatliche Ordnung schaffen und verteidigen eine andere. Die Geschichte hat gezeigt, dass dies ohne eine starke, vorbereitete und mit politischer Klarheit ausgestattete revolutionäre Organisation nicht möglich ist. Das war der entscheidende Unterschied in Russland 1917. Hier war die bolschewistische Partei in der Lage die Mehrheit in den Arbeiter*innen- und Soldatenräten zu gewinnen und diese mit einem Programm und einer Strategie zur erfolgreichen Machteroberung zu führen. Die Notwendigkeit einer revolutionären Organisation ergibt sich daraus, dass die Arbeiter*innenklasse kein monolithischer Block ist. Sie besteht aus verschiedenen Schichten mit unterschiedlichen Erfahrungen und Bewusstsein. Die Zusammenfassung der fortgeschrittensten Teile der Klasse in einer Organisation ist nötig, um ein Programm, eine Strategie und Taktik auszuarbeiten und in revolutionären Situationen zur Anwendung kommen zu lassen. Eine solche Organisation kann nicht in einer Revolution selber geschaffen werden. Ihr Kern muss vorher gebildet, geschult, vorbereitet werden. Das hat nicht zuletzt der tragische Verlauf der deutschen Novemberrevolution gezeigt, als die neu gebildete Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) zu unreif und zu schlecht organisiert war, um im Verlauf der Revolution die Mehrheit der Arbeiter*innenschaft von ihrem Programm zu überzeugen. Die Aufrechterhaltung einer marxistischen Organisation in nicht-revolutionären Zeiten dient aber nicht nur zur Vorbereitung, sondern auch zur Weiterentwicklung der marxistischen Theorie. Ohne eine marxistische Theorie, die auf der Höhe der Zeit ist, kann diese auch keine Anleitung zur Aktion in revolutionären Situationen sein. Sie muss permanent diskutiert, geprüft, getestet werden. Das ist nur in einem kollektiven Prozess der Diskussion und des Handelns möglich und kann nicht die Aufgabe von Einzelpersonen sein, mögen sie auch noch so genial sein. Auch Trotzki brauchte den Austausch mit seinen Gesinnungsgenoss*innen. In der heute noch komplexeren Welt gilt das umso mehr. Die Beteiligung am Aufbau einer revolutionär-marxistischen Organisation ist deshalb für jeden Trotzkisten und jede Trotzkistin unverhandelbare Kernaufgabe.

Der Aufbau einer solchen Organisation ist aber nicht gleichbedeutend mit Sektierertum oder Spalterei und steht nicht im Widerspruch zum Aufbau breiter Organisationen der Arbeiter*innenklasse, seien es Gewerkschaften, Aktionskomitees oder auch breite Arbeiter*innenparteien. Wir sind seit Mitte der 1990er Jahre für den Aufbau einer neuen Arbeiter*innenpartei in Deutschland eingetreten. Dies war und ist eine Anerkennung der Tatsache, dass die Arbeiter*innenbewegung nach dem Zusammenbruch des Stalinismus stark geschwächt wurde. Die Schaffung einer Massenpartei von Arbeiter*innen wäre in der heutigen Situation ein großer Fortschritt, auch wenn diese nicht auf einem klaren sozialistischen Programm basieren würde, solange sie die grundlegenden Klasseninteressen der Arbeiter*innen verteidigt. Eine solche Partei böte ein Forum zum gemeinsamen Kampf und zur Debatte über die Frage, wie ein sozialistisches Programm und eine sozialistische Politik aussehen sollen. Wir haben die WASG als einen Schritt in Richtung des Aufbaus einer solchen Partei betrachtet und deshalb haben Mitglieder unserer Organisation von Beginn an energisch die WASG mit aufgebaut. Auch DIE LINKE bietet einen Ansatz zur Schaffung einer Arbeiter*innenpartei, wenn dies auch durch den offen sozialliberalen Flügel der Befürworter*innen von Regierungskoalitionen mit SPD und Grünen verkompliziert wird. Deshalb arbeiten unsere Mitglieder in der LINKEN und ihrem Jugendverband mit und setzen sich gleichzeitig für die Bildung eines starken linken, sozialistischen Flügels als Opposition gegen den Kurs der Regierungsbeteiligung ein.

Internationalismus

Der Marxismus war von Beginn an eine internationalistische Lehre, zusammen gefasst in dem berühmtem Schlusssatz des Kommunistischen Manifests: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ Die Organisation, für die dieses Manifest verfasst wurde – der Bund der Kommunisten – verstand sich als eine internationale Verbindung. Diese Einsicht ergab sich aus der Analyse der kapitalistischen Gesellschaft, die einen Weltmarkt geschaffen hat, aber den Nationalstaat nicht überwinden kann. Sie setzt die Arbeiter*innen verschiedener Betriebe und verschiedener Länder, Stichwort „Standortsicherung“, in Konkurrenz zueinander. Nur durch die überbetriebliche und internationale Vereinigung der Beschäftigten kann dieser Versuch der Spaltung gekontert werden. Gleichzeitig kann es keinen Sozialismus in einem Land geben. Sozialismus knüpft an der höchsten im Kapitalismus erreichten Produktivkraftentwicklung an, dazu gehört die Internationalisierung von Produktion und Handel. Eine auf ein Land oder einige Länder begrenzte Revolution, das zeigt das Beispiel Sowjetrusslands, kann keinen Sozialismus erreichen. Deshalb ist der Gedanke der internationalen Revolution ein Kernbestandteil der Theorie der Permanenten Revolution. Deshalb ergriffen die Bolschewiki im Oktober 1917 die Macht mit dem Gedanken, dass sie diese nur werden halten können, wenn die Revolution auch im Rest Europas siegen würde.

Dieser Internationalismus der marxistischen Arbeiter*innenbewegung wurde von den Reformist*inneen und Stalinist*inneen verraten. Diese haben sich letztlich auf nationale Standpunkte gestellt. Die reformistischen Sozialdemokrat*innen auf den Standpunkt der eigenen nationalen Kapitalistenklasse, die Bürokratie in den stalinistischen Ländern entwickelten ebenso nationalistische Positionen, was zu Konflikten und Brüchen, zum Beispiel zwischen Moskau und Belgrad und zwischen Moskau und Peking führte.

Es waren Trotzki und die Trotzkist*innen, die am klassischen Internationalismus der Arbeiter*innenbewegung festhielten und das Erbe von Rosa Luxemburg und Lenin, für die die Schaffung einer neuen Internationale nach dem Verrat der sozialistischen Zweiten Internationale die höchste Aufgabe war, retteten.

Trotzkismus bedeutet deshalb immer internationalistische Politik und das Einnehmen einer internationalistischen Perspektive. Aber nicht nur das. Trotzkismus bedeutet auch den Kampf um die Schaffung einer Arbeiter*inneninternationale fortzusetzen. Das CWI versteht sich als ein Nukleus einer solchen Arbeiter*inneninternationale. Zu ihm gehören marxistische Gruppen und Organisationen in vielen Ländern auf der Erde. Es ist eine lebendige und demokratische internationale Gemeinschaft, die mit einem regen internationalen Austausch diskutiert, Positionen entwickelt und handelt.

Fazit

Trotzkismus ist kein Relikt der Vergangenheit, sondern nichts weiter als moderner Marxismus. Er hat sich mit dem Zusammenbruch des Stalinismus nicht überlebt, sondern bietet weiterhin die entscheidenden Ideen und Anleitungen, um den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts richtig zu analysieren und eine Strategie zu seinem Sturz auszuarbeiten. Am Trotzkismus, und auch an der Begrifflichkeit, festzuhalten ist nicht Ausdruck von Rückwärtsgewandtheit oder Dogmatismus, sondern einem Verständnis der historischen Entwicklung des Kapitalismus und der Arbeiter*innenbewegung und eine Verteidigung der in 150 Jahren erarbeiteten und in zähen Kämpfen verteidigten revolutionären und internationalistischen Grundsätze.

Sascha Staničić ist Bundessprecher der Sol und Mitglieder des AKL-Länderrats. Der Artikel ist eine aktualisierte Fassung eines Textes aus dem Jahr 2010.