Ohne eine sozialistische Lösung ist kein Ende des Konflikts in Sicht
Vorbemerkung: Dieser Artikel wurde am 6. Oktober auf der Webseite socialistworld.net im englischen Original veröffentlicht. Er verarbeitet daher die am 10. Oktober verkündete Waffenruhe zwischen Aserbaidschan und Armenien nicht.
Das jüngste Aufflackern des langjährigen Konflikts zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Berg-Karabach begann vor etwas mehr als einer Woche, am 27. September. Inzwischen sind in und um die Enklave Dutzende getötet und Hunderte verwundet worden, während der Konflikt bereits überregionale und sogar globale Dimensionen angenommen hat.
Von Clare Doyle, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI – socialistworld.net)
Die so genannte “autonome Enklave” mit weniger als 150.000 Einwohner*innen liegt hoch oben in den Bergen des Kaukasus, umgeben von aserbaidschanischem Staatsgebiet. Ein heftiger Konflikt entwickelte sich 1988 um die Kontrolle über das Gebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan, als Präsident Gorbatschow seine Reformen – “Glasnost” (Offenheit) und “Perestroika” (Umstrukturierung) – einführte, die den Zusammenbruch der Sowjetunion verhindern sollten.
Zu dieser Zeit schrieb Peter Taaffe, Chefredakteur der britischen Zeitung Militant, einen Artikel mit dem Titel “Spaltungen an der Spitze, Umwälzungen von unten”. In Armenien hatte es zwei Demonstrationen gegeben, an denen eine Million Demonstrant*innen teilnahmen – mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Die Androhung eines Generalstreiks und ein tatsächlicher Streik in Berg-Karabach von mehr als einem Monat führten dazu, dass Gorbatschow versprach, eine riesige Geldsumme in die Wirtschaft dieser “kleinsten der 15 Republiken der ‘Sowjetunion'” zu investieren. “Zugeständnisse”, schrieb Peter Taaffe, “mögen die Armenier vorübergehend besänftigen, aber sie werden die zentrale Verweigerung des demokratischen Rechts der Bevölkerung von Berg-Karabach, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, nicht lösen”.
Es folgten fünf Jahre der Kämpfe mit über 30.000 Toten und einer Million Vertriebenen – die Mehrheit davon Aseris. Ein Friedensabkommen, das von einer Reihe europäischer Mächte vermittelt wurde, wurde schließlich 1994 in Minsk unterzeichnet. Rechtlich sollte die Kontrolle über Berg-Karabach an Aserbaidschan übertragen werden, aber die armenische Mehrheit in der Enklave verwaltete sie weiterhin, und auch einige aserbaidschanische Gebiete zwischen der Enklave und Armenien selbst wurden besetzt.
Berg-Karabach ist auch einer der ältesten sogenannten “frozen conflicts” [„eingefrorene Konflikte“ A.d.Ü.] der Welt. Sporadische Kämpfe können jederzeit ausbrechen. Ein Fünftagekrieg im Jahr 2016 forderte Hunderte von Toten. Im Juli diesen Jahres wurden mindestens 16 Menschen getötet, darunter ein aserbaidschanischer General.
Der genaue Anlass für den gegenwärtigen Ausbruch bleibt unklar, ebenso wie Einzelheiten darüber, welche Flugzeuge und Panzer von wem zerstört wurden. Der armenische Botschafter in Russland, mit dem sein Land einen “Sicherheitspakt” geschlossen hat, behauptete, die Türkei habe 4000 Söldner aus Syrien entsandt, um an der Seite ihrer (der aserbaidschanischen, A.d.Ü.) Streitkräfte zu kämpfen. Der türkische Präsident Erdogan, der das überwiegend turkische Aserbaidschan unterstützt, bestreitet dies, behauptet aber, auf seinem Territorium “eine große Anzahl ethnisch armenischer Söldner” getötet zu haben. Beide Länder haben das Kriegsrecht ausgerufen und Truppen mobilisiert, wobei die armenische Regierung behauptet, aus Selbstverteidigung zu handeln.
Am Sonntag, dem 4. Oktober, gab es Berichte über schwere Luftangriffe auf die Hauptstadt Berg-Karabachs, Stepanakert, mit dem Einsatz von Präzisionslenkflugkörpern und Drohnen, während aserbaidschanische Streitkräfte versuchten, die Enklave von Armenien (mit der sie keine gemeinsame Grenze hat) abzuschneiden. Ein aserbaidschanischer Kommentator sagte gegenüber dem Nachrichtendienst Al Jazeera, dass Armenien darauf aus sei, Aserbaidschan in einen umfassenden Krieg hineinzuziehen.
Strategische Bedeutung
Berg-Karabach, im Armenischen als Artsakh bekannt, und früher auch von Kurd*innen bevölkert, ist nicht nur ein landschaftlich reizvolles Gebiet für Urlauber*innen. Es ist inzwischen von großer strategischer Bedeutung für die Energieversorgung von Russland nach Europa. Durch sein Territorium verlaufen mehrere Gas- und Ölpipelines.
Anfang letzter Woche kündigte der UN-Sicherheitsrat Notstandsgespräche an. Es bestünde “Angst, die Kämpfe könnten sich an neuen Fronten ausbreiten und weitere regionale Akteure verwickeln”, wie der Journalist des Guardian, Michael Safi, es ausdrückte. “Ein längerer Krieg könnte letztlich auch Russland, das Waffen an beide Länder verkauft, aber ein militärisches Bündnis mit Armenien unterhält, sowie den Iran, der ein oft angespanntes Verhältnis zu Aserbaidschan hat, mit hineinziehen“ (30. September). Russland unterhält Militärstützpunkte in Armenien, einem Land mit nur zwei Millionen Einwohner*innn (Aserbaidschan hat über zehn Millionen).
Da sich die Beziehungen zwischen dem Regime Putins und der Europäischen Union verschlechtert haben, zunächst aufgrund des Konflikt um die Ukraine, in jüngster Zeit wegen Belarus und der Vergiftung Navalnys, gewinnt die Sicherung einer Alternative zur europäischen Pipeline Nord Stream 2 für Russland an Bedeutung.
Die Financial Times (London) kommentiert: “Russland, das gemeinsam mit den USA und Frankreich die Vermittlungsbemühungen leitet, sagte, es werde ‘seinen Einfluss auf die ehemaligen Sowjetnationen nutzen, um einen Waffenstillstand anzustreben'”. (29. September).
Der armenische Premierminister Nikol Pashinyan ist jedoch gegen Friedensgespräche unter russischer Vermittlung.
Der Präsident der Türkei, Tayip Erdoğan, hat die Chance ergriffen, eine weitere Front im Konflikt mit Russland zu eröffnen, zum Teil um die Aufmerksamkeit von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten in seinem eigenen Land abzulenken. Indem er nationalistische und religiöse Gefühle ausnutzt, spielt Erdoağn auch mit der bitteren Geschichte des Konflikts mit Armenien und der westlichen Unterstützung Armeniens, insbesondere durch Frankreich. Es gibt Berichte, dass die Türkei eine große Zahl ihrer syrischen Verbündeten und Söldner zur Unterstützung der aserbaidschanischen Streitkräfte im Einsatz hat. Obwohl die Türkei Waffen aus Moskau gekauft hat, steht sie Russland bereits in Stellvertreterkriegen in Syrien und in Libyen gegenüber. Wie der Economist schreibt: “Sie laufen Gefahr, einen dritten [Krieg] im Kaukasus zu führen” (3. Oktober). Eine weitere Verwicklung der Türkei in den Krieg auf der Seite Aserbaidschans birgt ebenfalls die Gefahr dass Erdoağn sich übernimmt.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat einen sofortigen Waffenstillstand um Berg-Karabach und eine Friedenskonferenz gefordert, ebenso wie Angela Merkel. Aber beide haben nicht viel mehr vorzuschlagen als die Rückkehr zum Abkommen von 1994.
Frankreichs Präsident Macron, in dessen Land es eine große armenische Gemeinde gibt, hat zum “Dialog” bezüglich Berg-Karabach aufgerufen. Er hat der Türkei eine “kriegerische” Rhetorik vorgeworfen, die Aserbaidschan ermutigt, Berg-Karabach zurückzuerobern. Die türkischen Streitkräfte sind zweifellos aktiv beteiligt. Macron befindet sich bereits in Konflikten mit der Türkei über den libyschen Bürgerkrieg und die Rechte an den Öl- und Gasvorkommen im Mittelmeerraum.
Angesichts der Probleme im eigenen Land hat Macron wiederholt versucht, eine Rolle als internationaler Troubleshooter zu spielen – z.B. in Bezug auf den Libanon, Belarus und Libyen. In der vergangenen Woche rief er am Mittwoch Wladimir Putin und am Donnerstag Donald Trump an. Frankreich, Russland und die USA sind Ko-Vorsitzende der Minsker Gruppe von 13 Ländern, die 1992 von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eingesetzt wurde, um eine friedliche Lösung für den Konflikt um Berg-Karabach zu finden.
Der Iran hat ein Angebot gemacht, Friedensgespräche zur Beendigung des Konflikts zu vermitteln. Er grenzt sowohl an beide Krieg führenden Länder und unterhält, – angesichts der Religionszugehörigkeit vielleicht überraschend – zu Armenien bessere Beziehungen als zu Aserbaidschan.
Präsident Ilham Alijew führt im ölreichen Aserbaidschan ein diktatorisches Regime. Wie anderswo in der ehemaligen Sowjetunion ist er von superreichen Oligarchen umgeben. Er kümmert sich wenig um sein eigenes Volk, geschweige denn um das Volk von Berg-Karabach, von dem die Mehrheit in Armut lebt. Im Laufe der Jahre hat Alijew, wie Erdoağn, von der Unzufriedenheit zu Hause durch das Schüren von Feindseligkeit gegenüber Armenier*innen abgelenkt. Im Januar 1990 wurde in der Hauptstadt Baku ein siebentägiges Pogrom gegen die armenische Minderheit durchgeführt, in dessen Verlauf Armenier*innen geprügelt, ermordet oder aus der Stadt vertrieben wurden.
‘Der Spiegel’ berichtete am 28. September, dass im vergangenen Juli nach Zusammenstößen mit Armenien Unruhen ausbrachen, nachdem “Zehntausende in Baku für einen Krieg mit Armenien demonstriert hatten … Die Proteste richteten sich damals nicht nur gegen das ‘feindliche’ Armenien, sondern auch gegen die Führung des eigenen Landes … Für Alijew war dies ein Warnsignal. Kurze Zeit später entließ er seinen Außenminister”. Nun wird die aserbaidschanische Zivilbevölkerung ermutigt, gegen Armenien zu marschieren und zu kämpfen.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch Gruppen wie die “Aserbaidschanische Linke Jugend”, die die Verbreitung nationalistischer Propaganda und die enormen Militärausgaben beider Regierungen im Zusammenhang mit den stark unterfinanzierten Bildungs- und Sozialdiensten anprangern. Sie plädieren für eine gleichmäßige Umverteilung der Ressourcen, um der Anhäufung von “immer mehr täglichem Elend” entgegenzuwirken.
“Die Menschen auf beiden Seiten”, schreiben sie, “haben unter der Pandemie und der wirtschaftlichen Rezession endlos gelitten….. Es ist längst überfällig, dass wir, die aserbaidschanische und armenische Jugend, die Lösung dieses überholten Konflikts in die Hand nehmen … und nicht die Männer in Anzügen, deren Ziel die Anhäufung von Kapital ist…… Es ist sehr wichtig, politische, von der Basis ausgehende Initiativen wiederzubeleben, die sich aus einfachen Bürger*innen vor Ort zusammensetzen und die Friedensgespräche und die Zusammenarbeit wieder in Gang bringen”. Sie wenden sich gegen jede weitere Mobilisierung der Jugend des Landes in den “sinnlosen” Krieg und gegen Versuche, “den Hass zwischen den beiden Völkern zu vertiefen”. Sie plädieren für die Wiederherstellung des “Vertrauens zwischen unseren Gesellschaften und der Jugend”. Sie lehnen Nationalismus ab und plädieren für “gegenseitigen Respekt, eine friedliche Haltung und Zusammenarbeit”.
Vorgeschichte des Konflikts
Armenien und Aserbaidschan waren beide unabhängige Republiken innerhalb der UdSSR, nachdem sie Anfang der 1920er Jahre Teil derselben geworden waren. Berg-Karabach wurde ursprünglich als armenisch bezeichnet, aber Stalin, als er Volkskommissar für Nationalitäten war, hob diese Entscheidung auf und übertrug das Gebiet an Aserbaidschan.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 wurden beide Länder unabhängig, beschritten den kapitalistischen Weg und vernichteten das Staatseigentum und die staatliche Planung. Mehr als fünf Jahre lang kämpften sie um Berg-Karabach, mit tragischen Folgen.
Auf kapitalistischer Basis gibt es kein Ende des Konflikts zwischen den Nationen. “Wenn die Spannungen nicht abkühlen”, so die Financial Times am vergangenen Freitag, “könnte gerade dieser ‚Frozen Conflict‘ in der Tat sehr heiß werden”.
Das CWI verteidigt die kulturellen, sprachlichen und religiösen Rechte von kleinen Nationen und Minderheiten innerhalb von Nationen. Diese müssen dabei auf der Grundlage der Rechte von Minderheiten innerhalb dieser Gemeinschaften/Gruppen stehen, die ihrerseits geschützt werden müssen.
Auf kapitalistischer Grundlage ist die Wahrscheinlichkeit von Zusammenstößen zwischen Nationen und innerhalb von Nationen allgegenwärtig. Im heutigen internationalen Klima mit tiefen wirtschaftlichen und humanitären Krisen, die mit der Covid-19-Pandemie einhergehen, werden die nationalen und internationalen Spannungen noch verschärft. Sozialistische Ideen müssen in Kampagnen gegen Krieg und für die Rechte aller arbeitenden Menschen in den Vordergrund treten.