Die Bader-Ginsburg-Bande

Was der Kampf um den Supreme Court über das politische System in den USA sagt

Eine Richterin des Supreme Court ist gestorben und der Zirkus beginnt. Die Nachbesetzung der freien Stelle wurde zu einem zentralen Moment des Wahlkampfes – und hat von inhaltlichen Positionen abgelenkt. Ruth Bader Ginsburg wurde dem „liberalen“ Flügel des Gerichts zugerechnet und vertrat fortschrittlichere sozialpolitische Positionen als andere. Das Recht auf Abtreibung, das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehen – und war dabei Lieblingskollegin von Antonin Scalia, der diese Sachen grundlegend anders sah. Aber hey, Hauptsache eine offene und faire Debatte, dann kann dabei alles rauskommen.

Eine Kolumne zu den US-Präsidentschaftswahlen von Martin Schneider, Berlin

Die Richter*innen am Supreme Court werden auf Lebenszeit ernannt. Sie entscheiden zunehmend über Dinge, die eigentlich in den Händen der gewählten Mandatsträger*innen des Kongresses liegen müssten. Diese aber haben schon seit langem festgestellt, dass ihre Arbeit in der Bevölkerung kaum geschätzt wird – nur etwa ein Fünftel der Bevölkerung findet, die Abgeordneten seien ihr Salz wert.

Hängt das an der vielbesprochenen „Politikverdrossenheit“ der einfachen Menschen – oder daran, dass die Legislative zuletzt den größten Vermögenstransfer von unten nach oben in der Geschichte der Menschheit beschlossen hat? Quasi einstimmig?

Warum werden die Abgeordneten dann weiter gewählt? Ein Grund liegt darin, dass die gewählten Mandatsträger*innen dann Einfluss darauf haben, welche Richter*innen in welche Gerichte ernannt werden und dann über identitätspolitische oder andere soziokulturelle Positionen entscheiden. Dies bringen die Kandidat*innen im Wahlkampf auch oft und gerne vor. Manchmal nur dies. So wird die Wahl zur Gewissensentscheidung über Abtreibung, Homoehe, ob man Flaggen verbrennen darf, Waffenbesitz etc. Dass es sich hierbei meist um Interpretationen oder Auslegungen von Gesetzen handelt und nicht um konkrete Politik – geschenkt. Man versammelt auf diese Weise eine Wähler*innenschaft mit klaren identitätspolitischen Anliegen hinter sich und spitzt die Abstimmung auf meist nur eine Sache zu – der Rest sei zu vernachlässigen. Woher kennen wir das schon?

Bader Ginsburg stimmte wiederholt fortschrittlich ab. Das ist anzuerkennen. Aber Richter*innen, besonders am Supreme Court, sind keine Dissident*innen. Sie vollziehen im Zweifel nach, was Bewegungen und Kämpfe der Massen bereits erstritten haben. Sie stimmen ab, wenn die gesellschaftliche Debatte bereits geführt wurde und es kein Zurück mehr gibt. Und sobald die Frage der Homoehe die Bevölkerung nicht mehr genug spaltet, haben auch die Herrschenden überhaupt kein Problem damit. Immerhin hat man sich dann jahrelang nicht um Wirtschaft, Steuern, Löhne und Renten gekümmert, keine Streiks geführt, keine Werkshallen besetzt und keine Banker in den Knast gesperrt. Auch Bader Ginsburg nicht.

Falsch an diesem System ist andererseits, dass Menschen, die durch ihre juristische Auslegung und Interpretation und ihre Urteile bestimmen können, ob andere Menschen heiraten, abtreiben, Waffen tragen oder zum Tode verurteilt werden können – und ob Konzerne „Menschen“ sind und daher unbegrenzt an politische Kandidat*innen spenden dürfen, weil das ihr „Recht auf freie Meinungsäußerung“ sei – überhaupt ernannt werden. Und nicht gewählt. Und die die gewählt werden, erpressen ihre Wähler*innen damit, wen sie potentiell ernennen werden.

Die Oligarchie besetzt ihre Entscheidungsposten nicht mit unsicheren Kantoren. Auch Bader Ginsburg war diesem System verbunden und hatte keine sprengende oder weiterführende Funktion. Wer in diesem System jedoch an diese Stelle kommt, handelt im Interesse des Systems. Wo Dissens zugelassen wird, kann man davon ausgehen, dass dieser eingepreist ist. Auch Bader Ginsburg war eingepreist. Das bedeutet nicht, dass es überhaupt keinen Unterschied macht, dass Trump nun die erzkonservative Amy Coney Barrett auf den Posten gehievt hat. Jedoch fällt der Supreme Court in den USA zu 95 Prozent Urteile, die mit wirtschaftspolitischen Fragen zu tun haben. Ob hier ein großer Unterschied zwischen Bader Ginsburg und Coney Barrett besteht, war auf keiner Seite Teil der Debatte.