Deutschland in der neuen Weltunordnung

Ambitioniert zwischen den Stühlen

Der Kapitalismus erinnert immer mehr an etwas, was man im Wrestling einen „Royal Rumble“ nennt. In diesem Modus wird das Ringgeschehen immer undurchsichtiger – durch Eintreffen immer weiterer Teilnehmer*innen im Ring und wechselnde Allianzen der Kämpfenden. Doch während man im Wrestling einem klar definierten Drehbuch folgt, der Gewinner vorher bereits feststeht und die Athlet*innen meist nicht mit ernsthaften Verletzungen rechnen müssen, gibt es diese Garantien in der Arena der kapitalistischen Nationen nicht. Die Corona-Pandemie und die seit über einem Jahr anhaltende Krise haben das deutlich unter Beweis gestellt. Aus vermeintlichen Gewinnern werden schnell Verlierer und umgekehrt. Auch die herrschende Klasse in Deutschland steht zunehmend vor Problemen und strategischen Fragen – nicht nur in der Pandemiebekämpfung.

von Tom Hoffmann, Sol-Bundesleitung

Deutschlands Rolle in der Welt kann – das ist angesichts der letzten Monate fast überflüssig zu erwähnen – nicht losgelöst von den vor sich gehenden Veränderungen in der kapitalistischen Weltordnung betrachtet werden. Diese haben ihre Ursache nicht in der Corona-Pandemie, auch wenn diese viele Tendenzen massiv verstärkt hat. Doch schon vor Corona gab es im internationalen Kräfteverhältnis große Veränderungen: Die Zeiten der USA als nach dem Zusammenbruch des Stalinismus alleiniger, den Globus dominierender Supermacht sind vorbei. Sie wurden durch eine multipolare Weltordnung abgelöst, in der das aufsteigende China den USA Konkurrenz macht.

Damit einher gehen protektionistische Maßnahmen und eine gewisse Entkopplung der weltweiten Lieferketten und Handelsbeziehungen, insbesondere zwischen den USA und China. Auch mit Donald Trumps (unfreiwilligem) Abgang aus dem Weißen Haus wird dieser Trend nicht grundlegend verschwinden – waren es doch Joe Biden und die Demokraten, die einen harten Kurs gegen China immer wieder gefordert haben. Die Sol und das CWI haben diese Entwicklung vorhergesehen und davor gewarnt, Illusionen in eine ewig fortschreitende Globalisierung zu setzen, solange der Kapitalismus Bestand hat.

Stattdessen erleben wir den Beginn einer neuen „Weltunordnung“ und eine massive Zunahme innerimperialistischer Spannungen. Verstärkt wird das durch den Wirtschaftsabschwung: Die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben die schon vorher schwächelnde Weltwirtschaft in ein tiefes Tal gestürzt. Diese Gemengelage verschärft das internationale Hauen und Stechen der kapitalistischen Staaten, die für „ihre“ Banken und Konzerne Einfluss, Absatz und Profite sichern wollen. Anders gesagt: War es schon schwer, bei einem wachsenden Kuchen die Anteile untereinander aufzuteilen, führt ein schrumpfender Kuchen definitiv zu Streit.

Die Ursachen für diese Entwicklungen sind letztlich in der kapitalistischen Produktionsweise zu finden. Denn dieses System ist durchsetzt von Widersprüchen. Während die Produktion gesellschaftlich organisiert ist, befinden sich die Banken und Konzerne im Privateigentum einer kleinen Minderheit von Kapitaleignern. Sie konkurrieren um Profite und Absatzmärkte. Während Lieferketten und Handel weltweit vernetzter denn je sind, basiert dieses System auf den Schranken des kapitalistischen Nationalstaats, der im internationalen Wettbewerb die Interessen „seiner“ Kapitalisten durchzusetzen sucht. Erst durch eine demokratisch geplante Wirtschaft, die auf Gemeineigentum der großen Banken und Konzerne basiert, können diese Widersprüche und damit auch Krieg und Unterdrückung überwunden und durch internationale Solidarität und Kooperation ersetzt werden. Deshalb ist der Kampf für Sozialismus auch die beste Antwort auf wachsende Konflikte.

Aktuell steht der Konflikt zwischen den beiden großen Mächten, USA und China, im Vordergrund. Der sich seit einigen Jahren vollziehende Handelskrieg, die protektionistischen Maßnahmen und Zölle beider Länder haben zu einer gewissen Entkopplung geführt. Das erhöht auch den Druck auf andere Länder, sich in diesem Konflikt zu positionieren. Das Problem für das deutsche Kapital: Es ist extrem abhängig vom Weltmarkt und steht zwischen den Stühlen, weil es mit beiden Ländern zwar gute Geschäfte macht, aber auch in Konkurrenz zu ihnen steht.

Deutschland und die USA

Die USA sind für Deutschland seit 2015 der wichtigste Absatzmarkt. Zwischen 2016 und 2019 stiegen die Warenexporte auf rund 119 Milliarden Euro und machen damit 8,9 Prozent der Gesamtausfuhren aus. Die Importe aus den USA stiegen auf 71 Milliarden Euro (6,5 Prozent aller Einfuhren, Platz 3). Der deutsche Handelsbilanzüberschuss (Exporte minus Importe) sank dabei nur minimal. Wie wir später noch sehen werden, hat die Krise 2020 hier allerdings größere Veränderungen bedeutet. Doch die Beziehungen zwischen den beiden kapitalistischen Nationen waren auch vorher nicht ohne Konflikte.

Denn der Exportüberschuss war Anlass für die USA unter Donald Trump, auch Zölle auf Einfuhren aus Deutschland bzw. der EU zu belegen. So gelten seit Mitte 2018 Zusatzzölle von 25 Prozent auf Stahl- und 10 Prozent auf Aluminiumprodukte. Weitere US-Zölle bestanden seit Oktober 2019 im Flugzeugbau nach der Autorisierung der WHO wegen Subventionen bei Airbus. Dieser Konflikt schwelte bereits vor Trumps Präsidentschaft und im November – wenige Tage nach Joe Bidens Wahlsieg – zog die EU gegen den US-Konzern Boeing nach.

Der Handelskrieg ist also nicht auf China und die USA allein begrenzt, auch wenn die US-Zölle bisher nur einen sehr kleinen Teil des Handels zwischen Deutschland und den USA betreffen und (bis auf die betroffenen Konzerne) keine großen materiellen Auswirkungen hatten. Trumps Drohung, Zölle auch auf Autoimporte aus der EU zu erheben, wurde zwar von ihm nicht realisiert, aber die von seiner Regierung angeregte juristische Rechtfertigung besteht weiterhin. Diese würden auch die deutsche Wirtschaft deutlicher treffen und Gegenmaßnahmen der EU hervorrufen.

Der Bund der Deutschen Industrie fordert deshalb ein Gegensteuern und die erneute Aufnahme von Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. 2016 waren die Bemühungen im Rahmen von TTIP gescheitert – auch weil Millionen Menschen gegen den u.a. damit einhergehenden Abbau von Arbeits- und Gesundheitsschutz im Interesse der Bosse protestierten. Seit dem gab es Bemühungen um eine Wiederaufnahme von Verhandlungen für ein Industriegüterabkommen. Doch bisher gab es keine Fortschritte: Die EU lehnte den geforderten Zugriff der USA auf den Agrarsektor ab, während sie die Aufhebung der US-Zölle zur Voraussetzung für ein Abkommen machte.

Daneben gibt es andere Streitfelder, wie die geplante Besteuerung großer Digitalkonzerne wie Facebook, Google und Co. Die Herrschenden in Deutschland hoffen, dass sich unter der Biden-Präsidentschaft solche Konflikte in einem konstruktiveren Ton besprechen lassen können. In ihrem ersten Telefonat seit seinem Amtsantritt haben Joe Biden und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Aussetzung der Zölle in der Flugzeugproduktion für vorerst vier Monate beschlossen. Aber dass das der Auftakt zu einem neuen großen Freihandelsabkommen wird, ist unwahrscheinlich – nicht zuletzt, weil es auf beiden Seiten des Ozeans zu massiven Protesten gegen Angriffe auf Arbeiter*innenrechte kommen würde. Das schließt nicht aus, dass es Branchenabkommen oder Teilübereinkünfte geben und der Ton sich im Vergleich zur Trump-Administration ändern kann und wird. Aber die konkurrierenden Interessen europäischer und US-Konzerne bleiben grundlegend bestehen.

Und auch in geostrategischen Fragen herrscht Konfliktpotenzial. Deutlich wird das zum Beispiel am Streit um „Nord-Stream 2“, die kurz vor der Fertigstellung stehende russische Erdgas-Pipeline. Teile des deutschen Kapitals wollen dieses Projekt zur Sicherstellung der Energieversorgung unbedingt durchsetzen. Die USA fürchten wiederum den wachsenden Einfluss Russlands in der EU – ebenso wie osteuropäische Länder wie die Ukraine, durch die das Erdgas bisher transportiert wurde (und die außerdem damit 1,8 Milliarden Euro Transiteinnahmen verlieren würden).

Allerdings dürfte Biden auch viel daran gelegen sein, Deutschland und die EU in den Kampf mit China einzubinden. Sein Außenminister Anthony Blinken beschwörte beim NATO-Ministertreffen im März zwar die gemeinsame Allianz, ließ aber auch versprechen, dass die USA nicht die die Abkehr anderer Staaten vom Geschäft mit China fordert. Die durch die internationale Konstellation nach dem Zweiten Weltkrieg gewachsene strategische Partnerschaft zwischen den Herrschenden in den USA und Deutschland hat zwar unter Trump gelitten, aber sie stehen sich immer noch näher als Deutschland und China. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Biden vor diesem Hintergrund auch zu Zugeständnissen bereit ist.

Doch für viele große deutsche Unternehmen wäre wiederum eine Eskalation mit China schlecht fürs Geschäft. Eine (selbst begrenzte) Entkopplung der deutschen exportorientierten Wirtschaft von China hätte schmerzhafte Folgen für ihre Profite.

China

Das zeigt sich massiv in der Corona-Krise, in der China die einzige große Wirtschaftsmacht ist, die Wachstum aufweisen kann. Das hat konkrete Folgen: Der Daimler-Konzern hat zum Beispiel auch durch das Luxus-Geschäft in China 2020 trotz Umsatzrückgang einen Gewinn von vier Milliarden Euro eingefahren. Anlass für den Konzern, dass 1,4 Milliarden Euro an die Aktionär*innen ausgeschüttet werden sollen, während weiterhin mindestens 20.000 Kolleg*innen und ganze Fabriken vor dem Aus stehen.

China ist zum wichtigsten Handelspartner für Deutschland aufgestiegen und hält diesen Platz seit fünf Jahren. Zwischen 1991 und 2018 wuchs der Anteil Chinas an den Gesamtimporten von 1,8 auf 9,7 Prozent; an den Gesamtexporten von 0,8 auf 7,1 Prozent. Insbesondere wuchsen diese Anteile nach Chinas Beitritt in die WHO und zwischen 2008 und 2011, als die chinesische Wirtschaft zum Rettungsanker für die Weltwirtschaft und auch Deutschland nach der Krise wurde. Laut Commerzbank hängen mittlerweile 18 Prozent des Umsatzes der 30 Dax-Konzerne an China! Insbesondere die für Deutschland wichtige Automobilindustrie ist auf die Nachfrage angewiesen: VW verkauft mittlerweile fast jedes zweite Auto in China.

Jürgen Matthes vom ifo Institut rechnet, dass der Anteil der Wertschöpfungsexporte1 nach China 2,8 Prozent an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung (BIP) von Deutschland ausmacht. Zum Vergleich: Die USA liegen bei lediglich 1,2 Prozent. Im internationalen und europäischen Vergleich ist Deutschland deutlich abhängiger von China als andere Länder. Matthes weist nicht ohne Grund daraufhin, dass man diese hohe Abhängigkeit nicht überschätzen sollte und immer noch knapp 97 Prozent der Wertschöpfung aus anderen Quellen stammen. Im selben Report rechnet er bei einer Halbierung der deutschen Wertschöpfungsexporte nach China über fünf Jahre mit einem geringeren Wirtschaftswachstum von 0,2 Prozentpunkten pro Jahr. Doch seit Februar 2020 (seit dieser Report erschien) hat sich einiges getan: Die deutsche und die Weltwirtschaft sind massiv eingebrochen. Ein schrumpfender Kuchen trägt den Kampf um jeden Krümel in sich.

Nach den vorläufigen Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes scheint China (zumindest vorerst) einen stabilisierenden Effekt auf die deutsche Wirtschaft während des Krisenjahres 2020 auszustrahlen. Die Exporte gingen hier lediglich um 0,1 Prozent zurück. Im Gegensatz dazu fielen die Exporte in die USA um 12,5 Prozent – so stark wie seit der Krise 2008 nicht mehr. Der deutsche Exportüberschuss fiel damit ebenfalls deutlich um elf Milliarden auf 36 Milliarden Euro.

Allerdings heißt das nicht, dass China automatisch eine ähnliche Lokomotivrolle wie in der letzten Krise spielen wird oder nicht auch in Konkurrenz zu Deutschland stehen würde. Im Moment diskutiert die chinesische Führung eine Neuausrichtung ihrer Wirtschaftspolitik. Das beinhaltet eine stärkere Orientierung auf den eigenen Binnenmarkt auf Kosten von Investitionen im Ausland. Die Kreditvergabe für Entwicklung im Ausland der beiden größten wirtschaftspolitischen Banken wurde bereits massiv beschnitten und fiel von 75 Milliarden Euro in 2016 auf gerade mal 4 Milliarden in 2019! Das „One Belt, One Road“-Projekt, das mit einem Volumen von einer Billion US-Dollar angekündigt wurde, ist ins Stocken geraten – nicht zuletzt weil die Fähigkeit vieler Staaten, die Zinsvereinbarungen einzuhalten, durch die aktuelle Krise noch mehr in Frage gestellt wird.

Das beinhaltet auch Konfliktpotenzial zwischen Deutschland und China. Wenn China die Produktion im eigenen Land ankurbeln und vom Ausland unabhängiger werden will, bedeutet das auch eine geringere Nachfrage nach deutschen bzw. europäischen Investitionsgütern. 96 Prozent der europäischen Firmen in China geben an, dass sie von der laufenden Entflechtung bereits betroffen sind: Mehr als die Hälfte spürt bereits negative Folgen. Außerdem läuft das internationale Wettrennen in Erforschung und Einsatz neuer Technologien, wie künstlicher Intelligenz, Elektromobilität, 5G, Digitalisierung und grüner Energiegewinnung. Die OECD schätzt das Marktpotenzial allein von Künstlicher Intelligenz auf bis zu 130 Milliarden Euro.

Das deutsche Kapital sieht mittlerweile in China einen „systemischen Rivalen“, auf den man aber dennoch angewiesen ist. Deshalb gibt es durchaus unterschiedliche Haltungen, wie man mit diesem Rivalen umgehen soll. Für Diskussionen sorgte deshalb zuletzt das Investitionsabkommen zwischen der EU und China. Kurz vor Jahresende – und damit auch kurz vor Amtsantritt von US-Präsident Joe Biden – wurde das nach sieben Jahren Verhandlungen vor allem auf Druck der deutschen Regierung verabschiedet. Es beinhaltet unter anderem Zusagen von China zu Marktöffnungen für europäische Unternehmen sowie Lockerungen bei Technologietransfers im Rahmen von Joint Ventures. Während Teile des Bürgertums die darin enthaltenen Zugeständnisse Chinas als richtigen Schritt feiern, warnen andere vor den negativen Auswirkungen auf die Beziehung zu den USA. Das Abkommen muss allerdings noch vom Europäischen Parlament ratifiziert werden, was alles andere als sicher ist angesichts des jüngsten Schlagabtauschs mit gegenseitigen Sanktionen zwischen der EU und China.

Der deutsche Imperialismus spielt zwar nicht in derselben Liga wie die USA und China. Aber er verfolgt das strategische Ziel, seine Stellung in der Welt und seinen Einfluss weiter auszubauen. Mit der Wiedervereinigung vor über dreißig Jahren gab es einen gewaltigen Schub in diese Richtung. Seit dem bemühen sich langfristig denkende Strategen des deutschen Kapitals, die Großmachtsambitionen auch in der öffentlichen Debatte zu verankern: „Deutschland muss in einer konfliktreicheren Welt mehr internationale Verantwortung übernehmen.“

Die Bedeutung der EU

Dafür ist die EU von entscheidender Bedeutung, in der Deutschland zusammen mit Frankreich dominiert. Der gemeinsame Binnenmarkt und der Euro verschaffen den deutschen Unternehmer*innen Vorteile, die sie allein nicht hätten. Nach Vorstellung des deutschen Kapitals soll die EU ein zentraler Hebel für die Durchsetzung der eigenen Interessen auf der Weltbühne sein.

Doch die EU ist ein Bündnis verschiedener kapitalistischer Nationen. Die sind sich einig, wenn es um Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse und ihre Rechte geht. Dafür hat die EU in der Eurokrise in den südeuropäischen Ländern gesorgt und in diesem Geist sind ihre Verträge gehalten. Aber in anderen Fragen haben die verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten auch ihren eigenen Kopf.

Die zentrifugalen Kräfte in diesem Bündnis bleiben enorm. Die erste Reaktion auf die Pandemie der EU-Staaten war geprägt von Nationalismus und Grenzschließungen. In der Krise beweist sich der Charakter. Wir haben an anderer Stelle die Konflikte um den EU-Wiederaufbaufonds analysiert. Verschiedene Staatengruppen (Kerneuropa, die sparsamen Vier bzw. Fünf, der Süden, die Visegrad-Gruppe…) zogen gegeneinander. Es war damals die reale Gefahr eines Auseinanderbrechens der EU, der auch der deutschen herrschenden Klasse deutlich gemacht hat, dass sie angesichts der strategischen Bedeutung des Staatenbündnis ihre historische Position aufgeben und für gemeinsame Schulden zur Finanzierung eintreten muss. Allerdings kann der Streit über die konkrete Ausgestaltung der Vergabe der EU-Mittel, deren Konditionen (also Angriffe auf Sozialsysteme und die Arbeiter*innenklasse) bzw. deren Finanzierung über den gemeinsamen Haushalt jederzeit erneut ausbrechen. Das Hauen und Stechen um die Verteilung von Impfstoffen unter den EU-Staaten sind zudem ein aktuelles Beispiel dafür, dass genauso andere politische Entwicklungen, nicht zuletzt innerhalb der einzelnen Länder, zu größeren Konflikten in der EU führen können, die ihren Bestand in Frage stellen.

Dies geschieht nicht losgelöst vom internationalen Wettbewerb und dem Einfluss anderer Nationen. Während die EU Italien zu Beginn der Corona-Krise im Stich ließ, schickte China Mediziner*innen, Schutzkleidung und Beatmungsgeräte. Bereits 2019 beteiligte sich die nach dem Brexit drittgrößte Volkswirtschaft der EU mit einer Absichtserklärung an der „One Belt, One Road“-Initiative. Ungarn, das immer wieder in Konflikt mit den EU-Spitzen gerät, verimpft als erstes EU-Land die Vakzine aus China und Russland.

Wohin will das deutsche Kapital?

Für die Herrschenden in Deutschland ist der Fortbestand der EU entscheidend, wenn sie ihren Weltmachtsambitionen näher kommen wollen. Dass ihnen das in der aktuellen Verfasstheit über diese Krise gelingt, ist mehr als fraglich angesichts der widerstrebenden Interessen der einzelnen Nationen. Weitere Länder könnten Großbritannien aus der EU folgen bzw. könnten neue Allianzen und Umgruppierungen entstehen.

Angesichts dieser Probleme und Fragen ringen auch unterschiedliche Teile des deutschen Kapitals um den richtigen Kurs. Die Grünen, die wahrscheinlich Teil der nächsten Bundesregierung werden, betonen die Notwendigkeit eines harten Kurses gegen China und die Orientierung auf die USA. Auch der CDU-Vorstand betonte anlässlich des Amtsantritt von Joe Biden die Notwendigkeit einer „transatlantischen China-Strategie“. Teil dessen soll aber auch sein, was sich in den letzten Jahren als das „Übernehmen von mehr internationaler Verantwortung“ eingedeutscht hat: die Aufrüstung der Bundeswehr, ihr vermehrter Einsatz im Ausland und die Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO in Bezug auf den Verteidigungshaushalt.

1999 wurde die Bundeswehr unter der rot-grünen Bundesregierung Schröder-Fischer zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik in einen NATO-Krieg geschickt. Zurzeit sind ca. 3000 Soldat*innen in 12 Ländern auf drei Kontinenten eingesetzt. Damit beteiligt sich die Bundeswehr – oft unter dem Deckmantel des Einsatzes für Sicherheit, Ordnung, Demokratie usw. – an der imperialistischen Einmischung in sogenannten „Krisenregionen“. Dabei geht es in letzter Instanz um geopolitische und ökonomische Interessen. In Afghanistan, wohin die Bundeswehr seit Jahren die meisten Soldat*innen entsendet, ist die Lage unsicherer als je zu vor. Seit 2008 ist die Bundeswehr am Horn Afrikas in Somalia stationiert, seit 2013 im westafrikanischen Mali. Im Bürgerkrieg in Syrien mischt Deutschland seit 2015 mit – u.a. mit Aufklärungsflügen von Tornadojets für andere NATO-Teilnehmer. Besonders auf dem afrikanischen Kontinent konkurrieren deutsche und andere Unternehmen mit China, das dort seine Investitionen und Einfluss gesteigert hat.

Von Beachtung sollten auch die im letzten Jahr von der Bundesregierung verabschiedeten Indo-Pazifik-Leitlinien sein, die Grundlage für den Umgang mit China und mehr Einmischung im asiatischen Raum bilden soll. Die Bundesregierung will über die EU neue Freihandelsabkommen mit den Ländern der Region abschließen und auch die militärische Zusammenarbeit stärken. Im August entsendet die deutsche Marine eine Kriegsfregatte, welche auch das Südchinesische Meer durchqueren soll, wo sich die USA und China Auseinandersetzungen um Einflussgebiete liefern. Auch solche Manöver sollen nach außen die Bereitschaft zur Intervention vermitteln und nach innen den Boden für weitere Militärinterventionen selbst in Pulverfassgebieten bereiten.

Gretchenfragen für DIE LINKE

Wie man sich zu solchen Entwicklungen und Fragen positioniert, ist von entscheidender Bedeutung für Sozialist*innen. Nur ein Klassenstandpunkt, der nicht von einem einzelnen Land sondern von den Interessen der Arbeitenden und Armen der Welt ausgeht, kann eine sichere Grundlage bieten.

In der Partei DIE LINKE, insbesondere an ihrer Basis, herrscht zu Einsätzen der Bundeswehr eine große Sensibilität. Zurecht gab es aus der Partei großen Widerstand gegen den Vorstoß von Matthias Höhn vom Reformer-Flügel, das generelle Nein zu Auslandseinsätzen im Parteiprogramm zu schleifen und für einen Verbleib in der NATO zu werben. Das war der bewusste Versuch, im Vorfeld auf die Bundestagswahlen und eine mögliche Regierungsoption mit SPD und Grünen Kerben zu schlagen.

Doch die Abwehr von Höhns Vorstoß ist keine Garantie gegen eine Beteiligung der LINKEN an den schmutzigen Geschäften der Herrschenden. Obwohl beide neugewählten Vorsitzenden das Nein zu Auslandseinsätzen betonen, wirbt Susanne Hennig-Wellsow offensiv für Grün-Rot-Rot und nimmt die Partei Kurs auf solche Koalitionsgespräche im Herbst. In der strategischen Orientierung des deutschen Kapitals spielen Bundeswehreinsätze aber eine zentrale Rolle und müssen von einer Bundesregierung umgesetzt werden. Eine Regierung, die den Kapitalismus nicht überwinden will, wird sich dem beugen müssen. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass Bedingungen der LINKEN hier Einzug in einen Koalitionsvertrag finden: Papier ist geduldig. Es wäre nicht das erste Versprechen, das SPD und Grüne brechen. In Koalitionen mit diesen Parteien macht sich die LINKE dann mitschuldig statt Widerstand zu organisieren.

Doch auch diejenigen Führungsfiguren der LINKEN, die Illusionen in die Regime von Putin in Russland oder Xi Jinping in China signalisieren, sind auf dem Holzweg. Diese Staaten sind nicht weniger imperialistisch, nur weil sie in bestimmten Fragen in Konflikt mit dem Westen stehen. Im Gerangel der Räuber sollten Sozialist*innen keine Seite unterstützen bzw. einen qualitativen Unterschied zwischen ihren Absichten ausmachen. Ihnen allen geht es um Profite und Einfluss, nicht um Menschenrechte, sogenannte „wertebasierte Politik“ oder etwa die Bekämpfung des Klimawandels. Weder die USA noch China vertreten eine Politik, die im Interesse der Lohnabhängigen und Unterdrückten wäre – weder im In- noch im Ausland.

Unser Leitspruch sollte die Erkenntnis des berühmten Marxisten und Antimilitaristen Karl Liebknecht sein: Der Hauptfeind steht im eigenen Land! Die Sol lehnt deshalb sämtliche Auslandseinsätze der Bundeswehr ab und fordert den sofortigen Abzug der Truppen aus dem Ausland. Wir sind gegen Regierungsbeteiligungen mit pro-kapitalistischen Parteien. Wenn das deutsche Kapital zwischen größeren Haifischen manövriert, hat es immer seine eigenen Interessen im Blick. Dass sollten Linke offenlegen und anprangern. Es ist nicht nur aus umweltpolitischen Gründen besorgniserregend, wenn LINKE-Abgeordnete wie Klaus Ernst die Baufortschritte bei Nord Stream 2 begrüßen und den beteiligten Unternehmen gratuliert, sich „nicht den Drohungen aus den USA gebeugt zu haben.“ Genauso fatal war es, dass die LINKE-Führung den Wahlsieg von Joe Biden nicht zum Anlass genommen hat, Illusionen in ihn zu zerstreuen und davor zu warnen, dass er genauso eine imperialistische Politik verfolgen wird.

Unter den sich zuspitzenden imperialistischen Konflikten leiden zu allererst die Arbeiter*innen und Armen auf der Welt. Die stärksten Waffen der Arbeiter*innenbewegung dagegen sind internationale Solidarität und der gemeinsame, länderübergreifende Kampf gegen den Kapitalismus. DIE LINKE, aber auch die Gewerkschaften, sind angesichts der wachsenden Spannungen auf der Welt in der Pflicht, Proteste gegen Imperialismus und Krieg auf die Straße zu tragen.

1 Kenngröße, die annähernd die Wertschöpfung aus anderen Ländern (bspw. importierte Vorprodukte) aus den Exporten abzieht