Die Entstehung des britischen Gesundheitssystem­s

­Arbeiter*innenklasse erkämpft den National Health Service

Am Ende des Zweiten Weltkrieges kam in Großbritannien die Labour Party an die Macht und initiierte verschiedene soziale Reformen. Eine davon war das 1948 etablierte nationale Gesundheitssystem (National Health Service, NHS). Trotz der Kürzungen und Privatisierungen denen das NHS in den vergangenen Jahrzehnten zum Opfern gefallen ist, gilt es als eine der größten sozialen Errungenschaften der britischen Arbeiter*innenklasse. Und seine Entstehung ist ein Beispiel dafür, dass wirkliche Veränderungen möglich sind.

Von Jens Jaschik, Sol Dortmund

Nicht erst seit Corona ist das Gesundheitssystem in aller Munde. Fallkosten-Pauschalen, Überlastung der Kolleg*innen, mangelhafte Personalschlüssel sind immer wieder Grund für Arbeitskämpfe und Proteste. Die Corona-Pandemie hat alle Probleme verschärft und die Frage nach notwendigen Veränderungen im Gesundheitssystem ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Doch von Gesundheitsminister Spahn und der Bundesregierung kommt keine Reaktion. 2019 wurden sogar noch Konzepte entwickelt in Deutschland fünfzig Prozent der Krankenhäuser zu schließen oder zu privatisieren. 2020 wurden während der Corona-Pandemie 21 Krankenhäuser geschlossen. Weitere Privatisierungen und Schließungen sind geplant. Was wir brauchen, sind radikale Veränderungen, die die Gesundheit der Menschen in den Mittelpunkt stellen, statt die Profite einiger Weniger. Ein Blick in die Geschichte bietet verschiedene Beispiele, dass große Reformen im Sinne der Mehrheit der einfachen Menschen möglich sind. Ein Beispiel ist die Entstehung des Nationalen Gesundheitssystem in Großbritannien 1948. Dabei handelte es sich um keine kleine Maßnahme, sondern um ein Programm, dass Kliniken und Praxen nicht nur in öffentliches Eigentum überführte, sondern einheitliche Standards festlegte und ausbaute. Erstmals wurde Millionen von Menschen in Großbritannien der Zugang zu kostenloser medizinischer Versorgung ermöglicht.

Vor der Gründung des NHS war die medizinische Versorgung für Menschen aus der Arbeiter*innenklasse katastrophal. Anfang des 20. Jahrhunderts existierte in Großbritannien kein allgemeines Gesundheitssystem. Der Besuch eines Arztes oder Medikamente waren für die meisten Menschen unbezahlbar. Einen Arzt in Anspruch zu nehmen galt als letzte Maßnahme und bedeutete die Verschuldung der ganzen Familie. Arbeiter*innen, Gewerkschaften und Sozialverbände organisierten selbstständig Praxen, die durch solidarische Beiträge und Spenden finanziert wurden. Die Ausstattung war erbärmlich und das Personal schlecht bezahlt – wenn es überhaupt bezahlt wurde. Mit dem Aufstieg der Arbeiter*innenbewegung wurde die herrschende Klasse zu Maßnahmen genötigt. 1911 wurde erstmals eine Krankenversicherung für Industriearbeiter*innen etabliert. Im Deutschen Kaiserreich führte die Stärke der Arbeiter*innenbewegung schon 1883 dazu, dass Reichskanzler Otto von Bismarck eine Krankenversicherung für Arbeiter*innen einführte, die aber völlig unzureichend war und kaum Erleichterung brachte. Nach dem Ende des 1. Weltkriegs verschärfte sich die Auseinandersetzung um ein nationales Gesundheitssystem in Großbritannien. 1930 löste sich die Pressure-Group Vereinigung medizinischer Dienste auf und es gründete sich die Sozialistische Vereinigung medizinischer Dienste, welche sich der Labour Party anschloss. Ihr Ziel war es Druck zu machen, um eine Reform des Gesundheitswesen zu erkämpfen. In ihrem Wahlmanifest von 1934 erklärte die Labour Party die Notwendigkeit eines sozialistischen Gesundheitssystems, dass öffentlich geplant wird und allen kostenlos zur Verfügung steht.

Trotz zahlreicher Versprechungen waren die pro-kapitalistischen Parteien nicht bereit, konkrete Maßnahmen umzusetzen. Die 30er Jahre galten als medizinische Katastrophe. Als der 2. Weltkrieg ausbrach, erreichte die Gesundheits-Krise ihren Höhepunkt. Während sich die Reichen und Wohlhabenden jederzeit medizinische Behandlungen leisten konnten, brachen die medizinischen Wohltätigkeitsorganisationen unter der Last der Verwundeten zusammen. Schließlich stellte die Regierung durch ein Notfall-Gesetz mehr als tausend Krankenhäuser unter staatliche Kontrolle. Zwar diente die Maßnahme militärischen Zielen, doch zeigte es, was durch Planung möglich ist. Als der Krieg zu Ende ging, war die Arbeiter*innenklasse nicht bereit, das Elend der Vorkriegsjahre weiter zu dulden. Es entwickelte sich eine breite Stimmung für radikale Veränderungen. Auf dieser Grundlage wurde 1945 eine Labour-Regierung an die Macht gewählt, die weitreichende Veränderungen versprach. Eine davon war das NHS.

Die Gründung des NHS

Das NHS veränderte die Situation grundsätzlich. 2688 Krankenhäuser und Praxen wurden in öffentliches Eigentum überführt und dem Gesundheitsministerium unterstellt. Überall wurden gleiche Standards eingeführt. Behandlungen und Konsultationen waren für alle kostenlos. Der Besuch beim Zahn- oder Augenarzt war kostenlos. Brillen, Zahnersatz, und verschreibungspflichtige Medikamente standen allen Menschen frei zu Verfügung. Durch regionale Planung konnte eine gleichwertige Verteilung gewährleistet werden. Medizinisches Personal erhielt in vielen Fällen erstmals ein festes geregeltes Einkommen. Finanziert wurde diese Reform durch Steuereinnahmen.

Tony Mulhearn, von 1984 bis 1987 Mitglied des sozialistischen Stadtrats von Liverpool und bis zu seinem Tod 2019 aktives Mitglied der Socialist Party England & Wales, beschreibt die Situation in seiner Autobiografie folgendermaßen: „Die Details sind meinem jungen Bewusstsein entgangen, aber die Begeisterung und Überraschung über den gesamten Prozess und das Ergebnis der Wahl sind mir immer im Gedächtnis geblieben. Die Schaffung des NHS war Gegenstand vieler Diskussionen und großer Erleichterung. Vor dem NHS mussten Familien für Arztbesuche und Medikamente bezahlen. Ehemalige Soldaten mit Behinderungen wie mein Vater wurden zuvor nur von verschiedenen Wohltätigskeitsorganisationen für Ex-Soldaten unterstützt.“

Entwickelt wurde das NHS durch den Minister für Gesundheit und Wohnungsbau Aneurin „Nye“ Bevan. Bevan, ehemaliger Bergbauarbeiter, gehörte zum linken Flügel der Labour Party. Er selbst erklärte, dass „eine Gesellschaft sich nicht selbstbewusst als ‚zivilisiert‘ bezeichnen kann, wenn sie einem kranken Menschen auf Grund fehlender Mittel die medizinische Behandlung verweigert.“ Sein Vater, ebenfalls Bergarbeiter, war Mitgründer einer medizinischen Hilfsorganisation für Arbeiter*innen, von denen es Anfang des 20. Jahrhunderts Hunderte in ganz England gab. Dies diente Bevan als Inspiration dafür, dass eine kollektiv und solidarisch organisierte medizinische Versorgung auch auf nationaler Ebene möglich ist. Die Entstehung des NHS hing aber nicht allein von Bevan ab. Die Grundlage dafür ermöglichte die Stärke der Arbeiter*innenbewegung. Sie war es, die die Labour-Regierung überhaupt ins Amt hob. Sie war es, vor der sich die Kapitalist*innenklasse fürchtete.

Aber das NHS hatte auch Schwächen. Pharmakonzerne, die aus Medikamenten Profite gewinnen, und Bauunternehmen zur Errichtung neuer Krankenhäuser blieben in privater Hand. Kompromisse mit Privatpraxen führte dazu, dass das Geschwür privater profitorientierter Behandlung weiter existierte. Schon 1951 führte die Labour-Regierung Gebühren für Zahnbehandlungen und Brillen ein, damals zur Finanzierung des Korea-Krieges. Chronische Krankheiten, die Behandlung von alten Menschen und Menschen mit Behinderungen, sowie psychische Krankheiten wurden nicht ins Auge gefasst. Trotzdem bildete das NHS einen gewaltigen Fortschritt. Der größte Mangel war das Fehlen demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch medizinisches Personal, Patient*innen und Gewerkschaften. Diese hätte die Grundlage sein können, Fehler und Mängel zu beheben und nicht nur die Angriffe auf das NHS in den folgenden Jahrzehnten abzuwehren, sondern weitere Verbesserungen zu erkämpfen.

Die Grenzen des Kapitalismus

Wahrscheinlich würde man heutzutage ein solch gewaltige Umwälzung des Gesundheitssektors „Medical New Deal“ nennen – in Anlehnung an die Debatten um einen „Green New Deal“. Und wie bei einem „Green New Deal“ setzt der Kapitalismus Grenzen, wenn man nicht das System grundsätzlich verändert. Oftmals wurde das NHS als sozialistische Insel innerhalb des Kapitalismus bezeichnet. Eine solche Insel ist immer wieder den Angriffen kapitalistischer Freibeuter und dem Druck kapitalistischer Sachzwänge ausgesetzt.

Schon kurz nach seiner Gründung kam das NHS unter Beschuss. Obwohl die herrschende Klasse sich nie traute, dass NHS in seiner Gänze abzuschaffen, ist es heute nur noch ein trauriger Schatten seiner selbst. Investitionen in neue Bereiche gingen auf Kosten der Löhne der Angestellten. Steuern für Unternehmen und Vermögende wurde so weit gesenkt, dass die Finanzierung des NHS hauptsächlich aus den Steuern der einfachen Menschen resultierte. Seit Mitte der 1970iger Jahre wurde das Budget auf Anordnung des Internationalen Währungsfonds (IWF) durch die Labour-Regierung unter James Callaghan massiv gekürzt. Unter der Tory-Regierung von Margaret Thatcher wurden nicht nur Teilbereiche privatisiert, sondern das NHS wie ein kapitalistisches Unternehmen gemanagt. Ein „interner Markt“ wurde etabliert, der dazu führte, dass Teile des NHS untereinander konkurrierten. Immer mehr wurden öffentliche Gelder nicht mehr für Gesundheit, sondern für den massiv aufgeblähten Verwaltungsapparat des NHS verwendet, der durch die neoliberalen Reformen entstand. Schließlich war es die Labour Party unter Tony Blair, die Ende der 90er die Politik von Margaret Thatcher fortsetzte. Neue Krankenhäuser wurden unter so genannten PFI-Schemes gebaut, das heißt die Aufträge wurden privat vergeben, mit garantierten Einnahmen für die Firmen für mehrere Jahre. Damit kostete der Neubau den Staat wesentlich mehr, denn die Gewinne wurde staatlich mitfinanziert. Schritt für Schritt wurden immer mehr Teilbereiche privatisiert, oft weiterhin versteckt unter dem NHS-Logo. Das Ergebnis sind schlechte Löhne für Pflegekräfte und Patient*innen die stundenlang auf dem Boden warten müssen, bis sie behandelt werden. Ähnliches geschah mit den öffentlichen Krankenhäusern in Deutschland. Besonders unter SPD-Bundeskanzler Schröder wurden neoliberale Reformen umgesetzt, die große Teile des Gesundheitssektors privatisierten. Selbst die Krankenhäuser in öffentlicher Hand sind gezwungen Profite zu erwirtschaften. Sonst droht ihnen Schließung oder Privatisierung.

Auch schon damals war das Ziel der Führung der Labour Party nicht die Überwindung des Kapitalismus – trotz Figuren wie Bevan, die ehrlich für weitreichende Verbesserungen kämpften. Ihr Ziel war es, Kompromisse mit der Kapitalist*innenklasse zu suchen. Aber die Labour Party hatte damals ein starke Basis in der Arbeiter*innenklasse, für die Sozialismus mehr als nur ein Zukunftsversprechen war. Lenin beschrieb die Labour Party, als eine Arbeiter*innenpartei mit bürgerlicher Führung. Es war der Druck von Unten, der die Gründung des NHS ermöglichte. Gleichzeitig war die herrschende Klasse auf Grund der Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion und der Angst vor sozialistischen Veränderungen, sowie den finanziellen Möglichkeiten des Nachkriegsaufschwung bereit, ein Schritt zurückzuweichen. Die Kapitalist*innen waren aber auch bereit, sobald wie möglich wieder in die Offensive zu gehen. Erst wenn die Arbeiter*innenklasse selbst die Schalthebel unserer Gesellschaft in die Hand nimmt, sind die Errungenschaften der einfachen Menschen vor den Angriffen der Kapitalist*innen sicher.

Die Sozialistische Organisation Solidarität kämpft mit Allen für jede Verbesserung im Hier und Jetzt. Doch wir müssen uns bewusst sein, dass jede Reform, die wir erkämpfen, immer wieder durch den Kapitalismus bedroht wird. Und das wir in einen scharfen Konflikt mit dem Kapital treten. Das NHS wurde in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs etabliert. Wir befinden uns in einer Krise des Kapitalismus. Die Herrschenden haben kein Interesse, Maßnahmen umzusetzen, die ihre Gewinnmarge verkleinert. Deswegen müssen wir den Kampf für jede Verbesserung mit einer sozialistischen Perspektive verbinden und es wagen, über die Grenzen des Kapitalismus hinauszugehen.

Gesundheit vor Profite!

Die Gründung des NHS bleibt ein Beispiel für eine weitreichende Reform, die das Leben von Millionen von Menschen aus der Arbeiter*innenklasse verbesserte. Leider sind wir weit davon entfernt, dass dieses Beispiel heute als Vorbild genommen wird. Trotz der allgegenwärtigen Probleme im Gesundheitswesen und nicht zuletzt die Mängel, die durch die Corona-Krise offenbart wurden – hat die Bundesregierung kein Konzept, wie man diese Probleme angehen kann. Im Gegenteil: 2019 legte die Bertelsmann-Stiftung eine Studie vor, in der sie vorschlug, mehr als jedes zweite Krankenhaus in Deutschland zu schließen. Grund ist nicht die Unfähigkeit der Politiker*innen, sondern ihr mangelnder Wille. Schließlich werden ihre Taschen von den Betreiber*innen privater Krankenhäuser, die mit Fallkostenpauschalen Gewinn machen, und Pharmakonzernen, die mehr Geld für Marketing als für Forschung ausgeben, gefüllt. Wenn wir Veränderungen wollen, müssen wir sie selber erkämpfen.

Was vor mehr als siebzig Jahren in Großbritannien geschaffen wurde, ist auch heute in Deutschland möglich. Die Corona-Pandemie macht deutlich, dass eine radikale Veränderung des Gesundheitssystems nötiger denn je ist. Das ist nur möglich, wenn privatisierte Krankenhäuser rekommunalisiert werden und private Kliniken in öffentliches Eigentum überführt werden. Auch der Wettbewerb zwischen Kassen, Pharmaunternehmen und privaten Versicherungen geht zu Lasten der Versicherten. Daher setzt sich die Sol für die Zusammenführung aller Krankenkassen (auch aller Privatversicherungen) zu einer einzigen öffentlichen Krankenkasse bei Arbeitsplatzgarantie für alle Beschäftigten ein. Dadurch ließe sich auch viel Geld sparen. Gleichzeitig wäre es ein erster Schritt hin zur Umwandlung des Gesundheitswesens – bei Abschaffung aller Arbeitnehmerbeiträge – zu einem kostenlosen, staatlichen, also steuerfinanzierten, Gesundheitswesen. Gesundheit darf nicht vom Geldbeutel abhängen, sondern ist aus unserer Sicht ein unverzichtbares Grundrecht.

Die Pharmaindustrie muss unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung verstaatlicht werden. Statt Konkurrenz gegeneinander muss gemeinsam geforscht und entwickelt werden. Medikamente, Behandlungen und medizinische Versorgung dürfen nicht als Quelle des Profits dienen. Pflegekräfte müssen entlastet und gerecht entlohnt werden.

Um zu verhindern, dass Verbesserungen ausgehöhlt oder wieder abgeschafft werden, müssen wir den Kapitalismus überwinden. Das gesamte Gesundheitssystem muss unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Patienten, der Beschäftigten und des medizinischen Personals und der Gewerkschaften gestellt werden. Nur eine Gesellschaft, in der die Mehrheit der einfachen Menschen über Politik und Wirtschaft bestimmt, kann garantieren, dass Gesundheit und nicht Gewinnmaximierung im Mittelpunkt steht. Die Sozialistische Organisation Solidarität setzt sich in sozialen Bewegungen, den Gewerkschaften und der LINKEN für ein solches sozialistisches Programm ein.