Eine marxistische Betrachtung
In den letzten Monaten und Jahren ist es immer wieder in der Partei DIE LINKE und anderen linken Zusammenhängen zu Auseinandersetzungen über das Thema Antisemitismus gekommen. Dabei wurde ausgehend von den so genannten Antideutschen oft der „linke Antisemitismus“ und auch „islamischer Antisemitismus“ zum Hauptproblem erklärt. Bei diesen Auseinandersetzungen werden teils haarsträubende Definitionen von Antisemitismus verwendet, teils werden aber Argumentationen angegriffen, die tatsächlich antisemitisch sind, an die antisemitische Argumentationen zumindest leicht andocken können oder die einfach nur falsch sind. Wenn hinter dem Vorwurf des Antisemitismus also oft durchsichtige Ziele stecken, wie das Verunglimpfen politischer GegnerInnen durch Splittergrupen, darf das nicht daran hindern, das Problem des Antisemitismus ernst zu nehmen. Deshalb soll hier der Versuch einer inhaltlichen Klärung unternommen werden.
von Wolfram Klein (erstmals veröffentlicht im Jahr 2011)
Es gibt verschiedene Theorien und Erklärungsansätze, die sich nicht ausschließen müssen. Antisemiten selbst erklären den Antisemitismus natürlich mit dem Verhalten, den Eigenschaften etc. „der Juden“. Auch von Leuten, die keine bewussten Antisemiten sind, gibt es immer wieder den Vorwurf, dass Juden (prominente Juden in Deutschland, israelische Politiker, jüdische Organisationen und andere) durch ihr Verhalten Antisemitismus erzeugen würden. Solche „Korrespondenztheorien“ sind aber unlogisch: Wenn Menschen von einzelnen jüdischen Menschen oder Organisationen Rückschlüsse auf „die Juden“ ziehen, dann denken sie bereits in antisemitischen Kategorien.
Auf der anderen Seite liefert die Vorurteilsforschung zwar interessante Einsichten über die Mechanismen des Antisemitismus, zum Beipsiel über die Gegenüberstellung von Wir-Gruppe und outgroup. Das kann aber nicht erklären, warum gerade „die Juden“ zu dieser outgroup werden und nicht Rothaarige oder Brillenträger.
Antisemitismus und Judenfeindschaft
Die Erklärung dafür ist, dass der moderne Antisemitismus, der im 19. Jahrhundert entstand, sich zwar in wichtigen Punkten von der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judenfeindschaft, unterscheidet, aber zugleich an sie anknüpft.
Bei den christlich-religiösen Vorurteilen spielte sicher eine Rolle, dass das Christentum als Abspaltung aus dem Judentum entstand – aber dass sich die Beschuldigungen (den Juden wurde zum Beispiel vorgeworfen an der Kreuzigung Christi Schuld zu sein, Brunnen zu vergiften oder christliche Kinder zu ermorden, um das Blut bei ihren religiösen Praktiken zu verwenden) so hartnäckig hielten, ist damit nicht erklärt; auch nicht, dass „die Juden“ so nachhaltig mit Geld und Kapital in Verbindung gebracht wurden. Eine marxistische Erklärung dafür lieferte der später von den Nazis ermordete belgische jüdische Trotzkist Abraham Léon 1942 in seiner Schrift „Die Judenfrage“, indem er die Erklärung nicht in irgendwelchen jüdischen Besonderheiten, sondern in der mittelalterlichen Wirtschaft suchte.
In der Naturalwirtschaft des frühen Mittelalters war Geld ein Fremdkörper. Später in der einfachen Warenproduktion der Bauern und Handwerker galt dasselbe für das Kapital. Es war ein Fremdkörper, aber ein notwendiger Fremdkörper, weil die Wirtschaft sonst zu starr und unflexibel gewesen wäre. Deshalb wurden Handel und Geldgeschäfte an eine Gruppe delegiert, die selbst ein Fremdkörper war und ständig als Fremdkörper reproduziert wurde, mit eigener Religion, eigenen Sitten etc. Léon verwendete dafür den Begriff „Volksklasse“. Dass gerade Jüdinnen und Juden in diese Rolle gerieten ist vielleicht historisch zu erklären. Schon in der Antike hatte bei Phöniziern und Juden der Handel wegen der geographischen Lage – am Mittelmeer und zwischen den Großreichen der Ägypter, Hethiter und Mesopotamien – eine große Rolle gespielt, im frühen Mittelalter waren die Juden ein Brückenkopf der Kultur des östlichen Mittelmeerraums im nach der Römerzeit in Naturalwirtschaft zurückgefallenen Europa.
Die abgesonderte Stellung der Juden brachte es mit sich, dass sie gehasst, beneidet, verfolgt, aber doch benötigt wurden. Wenn sich die Wirtschaft so entwickelte, dass Geldwirtschaft und Kapitalismus zu ihrem normalen Bestandteil wurden, führte das oft dazu, dass die Juden vertrieben wurden und weiter nach Osteuropa wanderten, wo sie schließlich vor allem in den Städten einen hohen Bevölkerungsanteil ausmachten und, oft unter kläglichen Bedingungen, mehrheitlich im Handwerk tätig waren.
In den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution von 1789 wurden die Juden in vielen Ländern Europas gleichberechtigt, auch in Deutschland. Das Judentum schien sich aus einer „Volksklasse“ in eine bloße Religionsgemeinschaft zu verwandeln. Dieser Prozess der Assimilation wurde durch das Aufkommen des modernen Antisemitismus brutal gestoppt.
Der Begriff „Antisemitismus“ wurde 1879 geprägt von Wilhelm Marr, einem der Pioniere dieses modernen Antisemitismus. Er wollte sich dadurch von der früheren religiösen Judenfeindschaft, der „Judenfresserei“, abgrenzen, die für ihn nicht mehr in das aufgeklärte, fortschritts- und wissenschaftsgläubige 19. Jahrhundert passte.
Antisemitismus und Klassenzugehörigkeit
Schon bald nachdem der moderne Antisemitismus aufkam, haben MarxistInnen versucht, die Anfälligkeit für Antisemitismus mit der Klassenzugehörigkeit zu erklären. BäuerInnen hatten mit Kapitalisten wie Vieh- und Getreidehändlern zu tun. Handwerker konnten gegen moderne Großbetriebe nicht konkurrieren. Beamte, Offiziere, Adlige verschuldeten sich, um eine „standesgemäße“ Lebensführung zu finanzieren. Sie alle neigten dazu, diese Händler, Kapitalisten, Wucherer mit „den Juden“ zu identifizieren.
Dazu kamen Konkurrenzsituationen mit Juden, die offensichtlich keine Kapitalisten waren, zum Beispiel von nichtjüdischen Studenten zu ihren jüdischen Kommilitonen und mit der Zersetzung der vorkapitalistischen Verhältnisse in Osteuropa und der wachsenden Zuwanderung von osteuropäischen jüdischen Kleinhandwerkern auch in diesem Bereich.
Und in der Arbeiterklasse, der Arbeiterbewegung? Bevor sich der Marxismus durchsetzte, gab es antijüdische oder antisemitische Tendenzen: Frühsozialisten wie Fourier, Anarchisten wie Proudhon und Bakunin, Eugen Dühring in den 1870er Jahren. Der Marxismus dagegen hat eine Identifikation von Kapitalisten und Juden oder eine Beschränkung des Kampfes auf jüdische Kapitalisten immer abgelehnt. Sicher hat die Arbeiterbewegung die Gefährlichkeit des Antisemitismus unterschätzt und hatte die Illusion, die meisten Kleinbürger würden vom Hass auf die jüdischen Kapitalisten zum Hass auf alle Kapitalisten weitergehen. Auch bei der Argumentation gab es sicher Irrtümer, zum Beispiel Zugeständnisse an die Korrespondenztheorie. Aber trotzdem waren die Arbeiterbewegung und der Linksliberalismus die einzigen politischen Strömungen, bei denen der Antisemitismus offiziell verpönt war, während außerhalb antisemitische Positionen teils ernst genommen wurden, teils akzeptiert waren und teils den Dreh- und Angelpunkt der Weltanschauung bildeten. Das hieß, dass es im Kaiserreich dutzende sozialdemokratische Tageszeitungen gab, in denen antisemitische Äußerungen nicht geduldet und gelegentlich antisemitische Positionen angegriffen oder verspottet wurden, dass es Massenorganisationen wie SPD und Gewerkschaften gab, in denen Antisemitismus als Zeichen politischer Rückständigkeit galt. Angesichts dessen, dass die Zahl der linksliberalen Reichstagsabgeordneten zwischen 1881 und 1912 von 114 auf 42 sank und die Zahl der sozialdemokratischen von 12 auf 110 stieg, ist klar, welcher der beiden Gegner des Antisemitismus wichtiger war. Dass die SPD mit ihrer schroffen Ablehnung des gesellschaftlich vorherrschenden Antisemitismus zur Massenkraft werden konnte, zeigt, dass das in der Arbeiterklasse zumindest kein Hinderungsgrund war.
Natürlich waren ArbeiterInnen gegen den Antisemitismus nicht immun. Und nachdem die Arbeiterbewegung 1933 mit der Machtergreifung der Nazis kampflos eine vernichtende Niederlage erlitten hatte, ihre Organisationen zerschlagen wurden, nahm der Antisemitismus in der Arbeiterklasse zweifellos zu. Aber wenn die Arbeiterklasse nicht immun war, so war sie doch weniger anfällig. Theorien, die diese empirische Tatsache nicht erklären können, sind offenkundig korrekturbedürftig.
Guter und schlechter Kapitalismus
Warum also nimmt kleinbürgerliche Opposition gegen den Kapitalismus so viel leichter antisemitische Formen an als proletarische Opposition? Abraham Léon schrieb: „das Kleinbürgertum ist nicht nur eine kapitalistische Klasse, d. h. eine Klasse, die alle kapitalistischen Tendenzen in Miniatur in sich trägt. Es ist zugleich antikapitalistisch. Es hat das starke, wenn auch vage Bewusstsein, vom Großkapital ausgeplündert und ruiniert zu werden. (…) Es will antikapitalistisch sein, ohne aufzuhören, kapitalistisch zu sein. Es will den schlechten Charakter des Kapitalismus zerstören, d. h. die Tendenzen, die es selbst ruinieren, und zugleich den »guten Charakter« des Kapitalismus erhalten, der es ihm erlaubt, zu leben und sich zu bereichern. Aber da es einen Kapitalismus mit guten und ohne die schlechten Seiten nicht gibt, muss ihn das Kleinbürgertum erfinden. (…) Es ist kein Zufall, dass seine Theoretiker, vor allem Proudhon, seit mehr als einem Jahrhundert zum Kampf gegen den »schlechten, spekulativen Kapitalismus« aufrufen und den »nützlichen, produktiven Kapitalismus« verteidigen.“
Diese ins Auge springende antisemitische Unterteilung in guten und schlechten Kapitalismus, in „schaffendes“ und „raffendes“ Kapital haben andere Autoren weiter untersucht, meist aber ohne den Zusammenhang mit dem Kleinbürgertum zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang sind die Überlegungen von Moishe Postone interessant, erstens weil sie bestimmte Punkte erhellen, zweitens, weil seine Überlegungen oft aufgegriffen wurden. Postone geht in „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ (1979) und in „Der Holocaust und der Verlauf des 20. Jahrhunderts“ (2000) aus von der Marxschen Analyse der Ware und ihrem Doppelcharakter als Gebrauchswert und Wert, der zum Gegensatz von Ware und Geld führt. Die Ware erscheint hier nur noch als die Trägerin ihrer Gebrauchswerteigenschaften, ihrer konkreten Natureigenschaften. Das Geld erscheint als Trägerin der abstrakten Eigenschaften – und damit auch von Natur (der ökonomischen „Naturgesetze“, der „Sachzwänge“). Durch diese Verschiebung (der Gegenüberstellung von Ware und Geld statt dem Doppelcharakter der Ware) erscheint dann auch die Waren produzierende Arbeit, der kapitalistische Produktionsprozess als konkrete Arbeit, als kreativer Prozess, losgelöst von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. Entsprechend kann dann die moderne kapitalistische Technologie und Industrie befürwortet werden. Das erklärt die antisemitische Begeisterung für die moderne Industrie und Technologie und warum die Trennungslinie zwischen guten und schlechten Seiten des Kapitalismus gerade so gezogen wird. Es erklärt nicht, warum man überhaupt gute Seiten im Kapitalismus sehen soll. Und es erklärt nicht, warum ArbeiterInnen im Betrieb ihre entfremdete Arbeit als kreativ erleben sollen und den Zusammenhang zwischen ihren konkreten Arbeitsbedingungen und Profitinteressen nicht sehen sollen. Die Überlegungen von Léon und Postone ergänzen und vervollständigen sich daher gegenseitig.
Als Folge identifiziert der Antisemit den Kapitalismus mit seiner abstrakten Dimension, seiner Wertdimension – mit „Abstraktheit, Unfassbarkeit, Universalität, Mobilität“ (Postone), dem Handel, der Börse, der Presse, abstrakten Theorien etc. – und betrachtet seine konkrete Dimension als nichtkapitalistisch. Er kann so vermeintlich Vormodernes und Organisches wie Natur, Blut und Boden, Volk, Gemeinschaft mit moderner Industrie und Technologie vereinbaren. Gewissermaßen erscheint der moderne Kapitalismus so als Fortsetzung der vorkapitalistischen Naturalwirtschaft oder einfachen Warenproduktion und weil damals die jüdische Volksklasse für den Handel und die Geldwirtschaft zuständig war, werden jetzt „die Juden“ mit der abstrakten Seite des Kapitalismus und diese abstrakte Seite mit dem Kapitalismus insgesamt identifiziert.
Das bedeutet nicht, dass Warenproduktion und Kapitalismus unabhängig von den konkreten Umständen einen so starken Antisemitismus hervorbringen müssen wie 1873-1945.
Nation und Rasse
Die Auffassung der konkreten Seite des Kapitalismus als Gemeinschaft führt zur Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Die kapitalistische Gesellschaft ist nicht als Klassengesellschaft erkennbar, in der sich ArbeiterInnen und Kapitalisten gegenüber stehen, sondern erscheint als Gesellschaft, die zum einen aus einer nationalen Gemeinschaft besteht und zum anderen aus einer Gruppe, die mit der abstrakten Seite des Kapitalismus identifiziert wird, und nicht zu dieser Gemeinschaft gehört: „den Juden“. Ihre Stellung ist ambivalent: sie gehört dazu (zur Gesellschaft) und nicht dazu (zur Gemeinschaft). Es ist ein zentraler Aspekt des Antisemitismus, dass er mit einem doppelten Gegensatz arbeitet, dem zwischen Nationen und dem zwischen Nation und Nichtnation: Einmal stehen sich verschiedene Nationen gegenüber. Und dann gibt es „die Juden“, die sich der ganzen schönen Einteilung der Menschen in verschiedene Nationen entziehen, die überall sind, aber nirgends dazu gehören. Der Grund dafür war nicht, dass Jüdinnen und Juden in verschiedenen Ländern lebten. Das taten KatholikInnen oder ProtestantInnen auch. Der Grund war, dass die verschobene Wahrnehmung des Kapitalismus zu einer Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft führt und somit die Frage aufwirft: Wer ist das, der zur Gesellschaft, aber nicht zur Gemeinschaft gehört. Wenn es die Juden nicht gäbe, der Antisemitismus müsste sie erfinden.
Zwei nahe liegende Schlussfolgerungen werden in den modernen Antisemitismustheorien umgangen: Erstens ist das Kleinbürgertum für diese Vorstellungen von Volksgemeinschaft statt Klassengesellschaft empfänglicher. Da das Kleinbürgertum beim Klassengegensatz zwischen Kapitalisten und ArbeiterInnen in der unangenehmen Lage zwischen den Stühlen ist, ist die Verführung groß, sich nicht nur einzubilden, über dem Klassengegensatz zu schweben, sondern diesen Gegensatz auch wegzuphantasieren. Zweitens kann das Kleinbürgertum auf die empirische Widerlegung des Volksgemeinschaftsidylls durch den Klassenkampf nicht nur mit der Erkenntnis reagieren, dass dieses Idyll weltfremd war, sondern den Klassenkampf auch für künstlich erzeugt halten, durch Wühler und Agitatoren auf der einen Seite oder raffgierige Kapitalisten auf der anderen Seite … und am einfachsten durch „die Juden“ auf beiden Seiten – schließlich gehören Arbeiterbewegung und Kapitalismus der modernen Gesellschaft an und sind beide international. So erscheint der Gegensatz von Arbeit und Kapital als jüdische Verschwörung von „roter“ und „goldener“ Internationale. Es ist ein peinlicher blinder Fleck der gängigen Antisemitismustheorien der letzten Jahre, dass sie die offensichtliche zentrale Bedeutung, die der Hass auf die internationale Arbeiterbewegung („Sozialdemokratie“, „Marxismus“, „Bolschewismus“ etc.) und ihre Identifizierung mit dem Judentum allenfalls beiläufig erwähnen.
Es ist nahe liegend, diese Gemeinschaft nicht nur ökonomisch als Produktionsgemeinschaft, sondern auch ethnisch-biologisch als Abstammungsgemeinschaft zu interpretieren. Der Schritt vom Nationalismus zum Rassismus ist nicht groß. Dabei gibt es aber einen entscheidenden Unterschied zwischen Antisemitismus und normalem Rassismus: Da „die Juden“ nicht eine andere Nation sind, sind sie auch nicht eine andere, möglicherweise auch minderwertige Rasse, sondern die Gegenrasse. Schon Léon schrieb: „Der Rassenmythos ist konsequenterweise von einem Gegenmythos begleitet: dem der Antirasse, des Juden.“ Er argumentierte, dass der imperialistische Konkurrenzkampf zu einem Rassismus nach außen und der Konkurrenzkampf des Kleinbürgertums auf dem Binnenmarkt zu einem Rassismus nach innen, gegen die Jüdinnen und Juden, führen. Der Rassismus nach außen muss nicht mit Antisemitismus verbunden sein. Aber umgekehrt ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass hinter dem äußeren Feind „die Juden“ vermutet werden, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Wie sehr die antisemitische Denkweise zur Schlussfolgerung einer „jüdischen Weltverschwörung“ treibt, zeigt sich daran, wie zäh sich dieser Unsinn hält. Um nicht erklären zu müssen, warum eine so „mächtige Gruppe“ der Ermordung von sechs Millionen ihrer Leute hilflos zusehen musste, wird lieber diese Tatsache geleugnet.
Die Judenvernichtung
Die Judenvernichtung (Shoah, „Holocaust“) war ein einmaliges Ereignis, nicht nur weil sie Massenmord mit industriellen Methoden war, sondern weil ihre Organisatoren offensichtlich versuchten, alle Jüdinnen und Juden, auf die sie Zugriff hatten, von Baby bis zum Greis, zu ermorden. Alle Versuche einer rationalen Erklärung sind unzulänglich. Natürlich wurden die Opfer vor ihrer Ermordung als Arbeitssklaven ausgebeutet und danach die Leichen „verwertet“ (durch die Entnahme von Zahngold der Leichen und ähnlichem). Auch war ein Motiv, die nichtjüdische Bevölkerung durch die Demonstration von Gewaltbereitschaft einzuschüchtern. Aber ein zentraler Aspekt war offensichtlich, dass die Täter Antisemiten und die Opfer Jüdinnen und Juden waren. Deshalb verwenden verschiedene Autoren den Begriff „eliminatorischer“ oder „Vernichtungsantisemitismus“. Damit kann verschiedenes gemeint sein. Richtig ist, dass der moderne Antisemitismus ab dem Ende des 19. Jahrhunderts behauptete, dass „die Juden“ die Ursache aller möglichen Missstände seien und insbesondere mit dem Kapitalismus identifiziert wurden, so dass ihre Ermordung für die Beseitigung des Kapitalismus halluziniert werden konnte. Allerdings war dieser Antisemitismus zunächst eine „Erklärung der Welt“ (oder vielmehr ihre Verwischung), keine Anleitung zum Handeln. Dass auf die antisemitischen Worte auch Taten folgten, war kein Automatismus. Allerdings mussten Antisemiten-Führer, die nicht versuchten, ihre Worte in die Tat umzusetzen, Zweifel wecken. Ebenso gibt es eine Tendenz zur Eskalation: Wenn Maßnahmen wie die Aberkennung demokratischer Rechte die Probleme nicht lösen, kann das entweder daran liegen, dass doch nicht „die Juden unser Unglück“ sind, oder dass die Maßnahmen nicht drastisch genug waren. Also ist es nicht verwunderlich, dass die Verbrechen der Nazis gegen die Jüdinnen und Juden sich schrittweise steigerten.
Daher ist im modernen Antisemitismus die Möglichkeit der Shoah, auch einer neuen Judenvernichtung (die Einmaligkeit der Shoah bedeutet ja, dass sie bisher einmalig war, nicht dass eine Wiederholung prinzipiell unmöglich wäre), enthalten. Damit diese Möglichkeit zur Wirklichkeit wurde, musste aber einiges passieren. 1933 wurde in Deutschland eine totalitäre faschistische Diktatur errichtet und jede Opposition zerschlagen. Der deutsche Imperialismus versuchte, durch einen Weltkrieg das Erbe von Großbritannien als führender imperialistischer Macht anzutreten. Dass die Kriegskonstellation (gegen die „plutokratischen“ Großbritannien und USA und die „bolschewistische“ Sowjetunion) zu den antisemitischen Feindbildern der Nazis passte (weil Hitler die Sowjetunion angegriffen hatte und Japan die USA und so diese Länder in ein Bündnis getrieben wurden) mag auch eine Rolle gespielt haben. Die „Logik“ der antisemitischen Ideologie forderte, die misshandelten, ausgemergelten Häftlinge in den Konzentrationslagern als die Drahtzieher der feindlichen Armeen auszugeben. Diese Andeutungen sollten deutlich machen, dass der Antisemitismus allein auch nicht ausreicht, die Shoah zu erklären. Der Schluss ist nicht berechtigt, dass schon morgen eine neue Shoah drohen könne und – als praktische Nutzanwendung – der Staat Israel deshalb freie Hand zu allen erdenklichen Gegenmaßnahmen bis hin zum Einsatz von Atomwaffen habe.
Dass sich die Shoah nicht im luftleeren Raum aus dem Antisemitismus entwickelte, sondern unter konkreten Bedingungen, heißt auch, dass die Tatsache, dass sie in Deutschland geplant und von Deutschen durchgeführt wurde, nicht bedeutet, dass sie aus historischen Besonderheiten des deutschen Antisemitismus, der deutschen nationalen Kultur erklärt werden muss oder kann. Die Judenvernichtung wurde möglich durch die besondere Kombination von Antisemitismus und Faschismus (in dem wirtschaftlich entwickeltsten Land, in dem eine faschistische Diktatur errichtet wurde) und Weltkrieg, nicht durch einen besonderen Antisemitismus.
„Sekundärer Antisemitismus“
Für die deutsche Bourgeoisie war nach 1945 die Ablehnung des Antisemitismus und die „Versöhnung mit Israel“ ein Mittel, ihre Ablehnung des Nazismus zu demonstrieren, während andere Bestandteile der Nazi-Ideologie wie der Antikommunismus nahtlos fortgeführt wurden. Antisemitismus war im offiziellen Diskurs geächtet, aber damit noch nicht aus den Köpfen vertrieben.
Zugleich ist aber ein neuer Sekundärer Antisemitismus („Antisemitismus wegen Auschwitz“ entstanden. Dass die Judenvernichtung nicht von „den Deutschen“ („die Deutschen“ gibt es so wenig wie „die Juden“), aber von Deutschen und der damaligen Regierung Deutschlands organisiert und durchgeführt wurde, ist unbezweifelbar. Deshalb ist die Shoah ein Hindernis für einen deutschen Nationalismus, der in der Masse der Bevölkerung die Bereitschaft erhöht, in imperialistischen Kriegen zu krepieren oder „den Gürtel enger zu schnallen“. Um diesen Hindernis zu beseitigen, gibt es seit Jahrzehnten Versuche, „einen Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen“, eine ganz normale (imperialistische) Nation zu werden. Da solche Bestrebungen zu Protesten von Jüdinnen und Juden, von jüdischen Organisationen, dem israelischen Staat führen, wird das ihnen zum Vorwurf gemacht. Deshalb gibt es einen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen deutschem Nationalismus und Antisemitismus, der durch die proisraelische Haltung der deutschen Rechten verdeckt ist, aber immer wieder durchbricht.
Kritik an Israel und Antisemitismus
Der Zionismus, die Bewegung zur Schaffung einer jüdischen Heimstätte (in Palästina oder anderswo), die seit ihrem Basler Kongress 1897 international organisiert war, war eine Antwort auf Antisemitismus, aber nicht die Antwort, ihn zu bekämpfen. Er übernahm die antisemitische Idee, dass „die Juden so sind“ wie die Antisemiten behaupten. Der bedeutsame Unterschied war, dass die Zionisten das für veränderlich hielten. Der jüdische Staat sollte den ambivalenten Zustand beenden, in dem die Juden eine nichtnationale Nation sind. Aber da der Grund dafür nicht das Fehlen eines jüdischen Nationalstaats war, sondern die Rolle von Gemeinschaft und Gesellschaft in der antisemitischen Ideologie, führten die zionistische Bewegung und die Gründung des Staates Israel nicht dazu, dass die Antisemiten die Juden als normale kapitalistische Nation und Israel als normalen kapitalistischen Nationalstaat betrachteten, sondern vielmehr als Ausgangsbasis für die „internationalen Machenschaften“ „der Juden“. Der Antisemitismus lässt sich nicht durch einen jüdischen Nationalstaat überwinden, sondern nur durch die Überwindung des Nationalismus. Und der ist untrennbar damit verbunden, dass der Kapitalismus ökonomisch einen Weltmarkt geschaffen hat, aber politisch in Nationalstaaten organisiert ist, in denen der Nationalismus dazu beiträgt, die Klassenherrschaft zu vertuschen und dadurch zu festigen.
Die Gründung Israels war eine Antwort auf die Shoah, aber in welchem Sinne? Vor der Shoah war die Mehrheit der osteuropäischen Jüdinnen und Juden rabiate AntizionistInnen. Die jüdische Arbeiterbewegung vertraute auf die nichtjüdischen ArbeiterInnen. Die Shoah war ein Schock. Aber die nichtjüdische Arbeiterbewegung hat nicht nur den Jüdinnen und Juden nicht helfen können, sondern sich selbst auch nicht. Die nichtjüdischen ArbeiterInnen erlitten Unterdrückung, Elend, Krieg, viele Tote, wenn auch nicht Massenvernichtung. Das bewies nur, dass die Arbeiterbewegung unter reformistischer oder stalinistischer Führung keinen Ausweg aus der Agonie des Kapitalismus aufzeigen konnte, widerlegte aber nicht, dass es dazu keine Alternative gab.
Deshalb ist es verständlich, dass die Überlebenden sich massenhaft dem Zionismus zuwandten, der als Minderheitsströmung nicht hatte zeigen können, ob er einen Ausweg geboten hätte. Aber es ist nicht überzeugend, dass er dazu hätte in der Lage sei können. Ein jüdischer Staat in Palästina vor 1939 hätte die Shoah nicht verhindert: Er konnte nicht sechs oder neun Millionen Flüchtlinge aufnehmen. Millionen Jüdinnen und Juden erkannten erst, dass sie fliehen mussten, als sie schon nicht mehr fliehen konnten. Der Zionismus hätte nicht verhindern können, dass Rommels Truppen Palästina überrannt hätten, wenn sie nicht im ägyptischen El Alamein von der britischen Armee gestoppt worden wären.
Deshalb hatten TrotzkistInnen Recht, wenn sie bis 1948 die Gründung eines jüdischen Staats ablehnten. Aber inzwischen ist eine israelische Nation entstanden. MarxistInnen sollten für ihr Recht auf Selbstbestimmung eintreten, also auch ihr Recht auf einen eigenen Staat ein. Aber man kann nicht Israelis wegen der Shoah höheres Recht auf Selbstbestimmung zubilligen als PalästinenserInnen oder LibanesInnen, da das Diskriminierung und Ungleichbehandlung bedeuten würde.
Kritik an Israel wegen der Unterdrückung der PalästinenserInnen, wegen seiner Rolle als Vorposten des Imperialismus in der Region und weil es ein kapitalistischer Klassenstaat ist, in dem ArbeiterInnen ausgebeutet, neoliberale Politik betrieben wird und in den letzten Jahren eine zunehmende Militarisierung stattgefunden hat, ist berechtigt.
Die Diffamierung von Kritik an der israelischen Regierung und Politik ist gefährlich. Die Gleichsetzung von Kritik an Israel mit Antisemitismus leistet der Gleichsetzung des israelischen Regimes mit „den Juden“ Vorschub. Wenn man es Antisemiten überlässt, Tatsachen zu verbreiten, die für das Image von Israel negativ sind, dann verbreiten sie damit auch ihre abstrusen Schlussfolgerungen.
Außerdem werden dadurch nicht nur Leute als Antisemiten diffamiert, die keine sind, sondern es wird auch Leuten ein Persilschein ausgestellt, die Antisemiten und zugleich „Freunde Israels“ (also seiner herrschenden Klasse) sind. Denn es ist ebenso falsch, dass Kritik an der israelischen Regierung notwendig antisemitisch sei, wie es falsch ist, dass Unterstützung für Israel mit Antisemitismus unvereinbar wäre. Wer die antisemitischen Wahnvorstellungen über die „Macht der Juden“ teilt, kann auch die Schlussfolgerung ziehen, sich mit so mächtigen Leuten gut stellen zu wollen. Der israelische Historiker Tom Segev hat gezeigt, dass die Urheber der Balfour-Deklaration, mit der die britische Regierung 1917 „den Juden“ eine „nationale Heimstätte“ in Palästina versprach, „in vielen Fällen“ Antisemiten waren. „Gemeinsam war ihnen die Überzeugung, dass die Juden die Welt kontrollierten.“ (Tom Segev, Es war einmal ein Palästina, München 2005, S. 43) Insbesondere galt das für den damaligen Premierminister Lloyd George und den Außenminister Balfour, nach dem diese erste staatliche Anerkennung der zionistischen Bestrebungen benannt ist. Man kann für den Zionismus sein, weil man „die Juden“ Tausende Kilometer weit weg haben möchte, man kann als antisemitischer „Realpolitiker“ gemeinsame Interessen zwischen dem eigenen und dem israelischen Imperialismus sehen etc.
Aber manche Kritikfiguren sind nicht akzeptabel. Das gilt zum Beispiel wenn als alttestamentarische Rachsucht („Auge um Auge“) bezeichnet wird, was jeder moderne imperialistische Staat macht; wenn gefordert wird, „die Juden“ müssten wegen Auschwitz besser sein als andere (als ob Auschwitz eine Besserungsanstalt gewesen wäre); wenn Parallelen zwischen der israelischen Politik und Nazis gezogen werden, die es nur dort gibt, wo sich die Nazis von anderen Imperialisten nicht unterschieden, die aber nicht das Besondere des NS-Regimes treffen (wzum Beispiel ist Gaza kein Warschauer Ghetto, es ist seit Jahrzehnten überfüllt, während das Warschauer Ghetto nach wenigen Jahren leer war, weil die Leute ins Vernichtungslager nach Teblinka abtransportiert worden waren). Solche Parallelen sind aber nicht nur in Bezug auf Israel abzulehnen, sondern auch in Bezug auf die Regierungen anderer Staaten. Besonders haarsträubend ist der Unsinn, dass der US-Imperialismus von einer jüdischen Lobby geleitet werde: die Vorstellung, die Politik der einzigen Supermacht werde von Agenten eines winzigen, Tausende Kilometer entfernten Landes bestimmt, ist aberwitzig.
Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik
Vorwürfe von „linkem Antisemitismus“ hat es nicht nur gegen linke Kritik an der israelischen Regierung gegeben, sondern auch gegen Kritik an der kapitalistischen Globalisierung oder gegen Erklärungen der 2008 begonnenen Weltwirtschaftskrise. Diese Vorwürfe können berechtigt sein, aber oft knüpfen sie nur oberflächlich an Analysen wie die oben wiedergegebenen von Postone an.
Ein Angriffspunkt ist die Konzentration der Kritik auf die Finanzmärkte. Es ist in der Tat falsch, böse Finanzmärkte und gute „Realwirtschaft“ einander gegenüber zu stellen. Der Grund für das Anwachsen der Finanzmärkte der letzten Jahrzehnte waren die Widersprüche der „Realwirtschaft“: weil es wenig profitable Anlagemöglichkeiten für das Kapital in der „Realwirtschaft“ gab, wurde immer mehr auf den Finanzmärkten spekuliert. Diese Spekulanten waren keine besondere Gruppe von Kapitalisten, sondern zu ihnen gehörten auch die großen Industriekonzerne. Das zu übersehen ist aber noch nicht gleichbedeutend damit, die „Realwirtschaft“ als nationale Gemeinschaft zu verklären und die Finanzmärkte mit außerhalb dieser Gemeinschaft stehenden „Juden“ zu identifizieren. Antisemiten können allerdings an solche falschen Gegenüberstellungen anknüpfen. Noch problematischer wird es, wenn zum Beispiel ein guter „rheinischer Kapitalismus“ (zum Beispiel in Deutschland oder Frankreich) und ein böser angelsächsischer Kapitalismus einander gegenüber gestellt werden. Dann bestehen in der Tat starke Anknüpfungspunkte für eine Kombination von Antiamerikanismus und Antisemitismus.
Ein weiterer Angriffspunkt ist der Vorwurf von personalisierender Kritik. Karl Marx schrieb: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ Er hat hier das Verhältnis zwischen menschlichem Handeln und seinen strukturellen Rahmenbedingungen glänzend skizziert. Aber manche Leute vergessen den ersten Teil des Zitats und tun so, als würde schon der Antisemitismus anfangen, wenn man überhaupt thematisiert, dass Politiker oder Wirtschaftsbosse Entscheidungen treffen, die sich auf das Leben anderer Menschen auswirken, und den Kapitalismus nicht ausschließlich als Reproduktion abstrakter Strukturen begreift. Notwendig ist, solche Entscheidungen anzuprangern und zu bekämpfen und gleichzeitig zu erklären, dass solche Entscheidungen kein Zufall sind, und mitzuhelfen, einen Kampf gegen solche Entscheidungen zu einem Kampf gegen den Kapitalismus insgesamt zu steigern. Aber bestimmte Personen und Gremien – und nicht „die Juden“ – für ihre Entscheidungen anzugreifen, ist keineswegs antisemitisch.
Deshalb sollten wir verkürzte Kapitalismuskritik sachlich kritisieren und dabei helfen, dass Menschen, die sie vertreten, bei ihr nicht stehen bleiben. Das ist das Beste für den Kampf gegen den Kapitalismus und dieser Kampf ist auch das beste Mittel gegen die große Gefahr des Antisemitismus von rechts und das kleine Problem des Antisemitismus von „links“.
Islamischer Antisemitismus und Antiislamismus
In den letzten zehn Jahren, seit dem Beginn der zweiten Intifada (oder Al-Aksa-Intifada) in Palästina und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wird im Zusammenhang mit dem Antisemitismus zunehmend die Frage von Antisemitismus unter Muslimen diskutiert. Historisch hat im Islam die Judenfeindschaft eine geringere Rolle gespielt als im Christentum. In islamischen Ländern spielten Juden nicht die wirtschaftliche Rolle wie im mittelalterlichen Europa, teils übernahmen Muslime diese Rollen selbst, teils teilten die Juden sie mit anderen Minderheiten (Griechen, Armenier etc.). Christliche Schauermärchen („Christusmörder“, „Brunnenvergifter“, „Ritualmorde“) spielten keine Rolle. Als religiöse Minderheit wurden Jüdinnen und Juden in einer Gesellschaft, in der es keine Trennung von Staat und Religion gab, auf vielfältige Weise diskriminiert, aber als monotheistische Offenbarungsreligion galt das Judentum als weniger falsch als andere nichtmuslimische Religionen. Es gab zwar auch in muslimischen Ländern Pogrome gegen Jüdinnen und Juden, aber diese galten eben als wehrlos, schwach, als Leute, an denen man seine Aggressionen austoben konnte, nicht als bedrohlich, nicht als Vertreter einer geheimen Macht oder einer internationalen Verschwörung.
Der heute in islamistischen Kreisen grassierende Antisemitismus hat mit dieser islamischen Tradition wenig zu tun, er ist zu großen Teilen ein direkter Import aus Europa. Diese Leute, die behaupten, die islamischen Traditionen zu bewahren, plappern in Wirklichkeit die Schauermärchen von Leuten nach, die nach ihrem Weltbild selbst „Ungläubige“ waren. In der Frage des Antisemitismus zeigt sich besonders deutlich, dass der Islamismus kein Überbleibsel des Mittelalters, sondern ein Produkt des Kapitalismus ist. Daher kann der Islamismus nur auf antikapitalistischer Grundlage wirksam bekämpft werden. Die Vorstellung, der westliche Kapitalismus sei eine fortschrittliche Alternative und müsse unterstützt werden (womöglich gar bei Kriegen gegen islamistische Regierungen), ist reaktionär.
Die Anziehungskraft des Antisemitismus in islamischen Ländern hat zunächst die gleichen sozialen Ursachen wie in Europa einige Jahrzehnte früher: Der Kapitalismus zerstörte die vorkapitalistischen Produktionsverhältnisse. Aber in Westeuropa war die Zerstörung dieser Verhältnisse mit der Entwicklung einer modernen kapitalistischen Industrie, Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung verbunden gewesen, die das stärkste Bollwerk gegen den Antisemitismus waren (wenn auch tragischerweise nicht stark genug, um die Shoah zu verhindern). Die internationale Arbeitsteilung der kapitalistischen Weltwirtschaft führte dazu, dass in islamischen Ländern die Entwicklung der Arbeiterklasse wesentlich schwächer war. Dazu kam, dass die opportunistische Politik von Sozialdemokraten und Stalinisten die Entstehung einer unabhängigen Arbeiterbewegung erschwerte und sie immer wieder bürgerlichen Strömungen unterordnete, sogar rabiaten Antisemiten von Nasser in Ägypten bis Khomeini im Iran.
Die Mechanismen, die in Europa dazu führten, dass die zerstörerischen Auswirkungen des Kapitalismus einem angeblichen raffenden Kapital zugeschrieben wurden und dieses mit einer gesellschaftlichen Gruppe identifiziert wurde, waren also auch in islamischen Ländern wirksam. Aber warum wurden auch hier „die Juden“ in diese Rolle gedrängt? Dabei spielte der Kolonialismus eine entscheidende Rolle. Fast alle islamischen Länder wurden im 19. und 20. Jahrhundert Kolonien europäischer Länder. Aus Sicht von Menschen, die damals noch in traditionellen islamischen, nicht in modernen islamistischen, Begriffen dachten, wurden sie von „Ungläubigen“ beherrscht. Das führte zu Widerstand, der sich in Bewegungen für nationale Unabhängigkeit ausdrückte. Aber große Teile der herrschenden Klassen zogen es vor, mit den „ungläubigen“ Kapitalisten ihre Geschäfte zu machen, sich mit den „ungläubigen“ Kolonialherren gut zu stellen. Sie hatten ein Interesse daran, die Opposition der Bevölkerung von den Kolonialherren abzulenken und auf die „Ungläubigen“ zu richten, an denen man sich vergreifen konnte, ohne dass es die Kolonialherren sonderlich störte, eben auf die jüdische Minderheit. Auch wenn es keinen Zionismus gegeben hätte, hätten Kapitalismus und Kolonialismus zu einer Zunahme des Antisemitismus geführt. 1903 gab es in Marokko antisemitische Pogrome. Die Täter hatten sicher nichts von der Entstehung des Zionismus gehört. Auch in Palästina selbst richteten sich Pogrome wie in Hebron 1929 weniger gegen die Zionisten (die bewaffnet waren und sich wehren konnten) als gegen die alteingesessene jüdische Bevölkerung.
MarxistInnen haben den Zionismus abgelehnt. Aber nichts, was Zionisten getan haben oder tun, rechtfertigt oder entschuldigt Antisemitismus. Antisemitismus war keine „natürliche“ oder notwendige Reaktion auf den Zionismus, sondern ein bewusstes Mittel, eine fortschrittliche Antwort auf ihn zu bekämpfen. Zum Beispiel verkauften in den 1930er Jahren arabische Großgrundbesitzer das ihnen gehörende Land an zionistische Organisationen, die die dort lebenden BäuerInnen vertrieben. Der Antisemitismus sollte von der Rolle dieser arabischen Großgrundbesitzer ablenken.
Gleichzeitig muss betont werden, dass nicht jeder Widerstand gegen den Staat Israel, der von AraberInnen und MuslimInnen ausgeübt wird, antisemitischen Charakter trägt. Die Unterdrückungs- und Vertreibungspolitik der herrschenden Klasse in Israel ist verantwortlich für Widerstand gegen den Staat Israel. Dieser ist legitim. Welche Form und welchen Inhalt er annimmt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob sich in der arabischen Widerstandsbewegung eine starke sozialistische Bewegung entwickelt, die einen internationalistischen Standpunkt vertritt, individuellen Terrorismus als kontraproduktiv ablehnt und versucht die israelische Arbeiterklasse im Kampf gegen Kapitalismus und Unterdrückung zu erreichen.
Diese ist heute neben der ägyptischen und der iranischen Arbeiterklasse die wichtigste im Nahen Osten. Für eine Lösung des Nahostkonflikts ist es entscheidend, sie aus der Umarmung der israelischen herrschenden Klasse zu lösen. Aber der Antisemitismus treibt sie in deren Arme. Deshalb ist antisemitische Ideologie nicht nur widerlich, sondern auch politisch katastrophal und kontraproduktiv bei der Erreichung des Ziels, die palästinensische Bevölkerung zu befreien.
Auf der anderen Seite sind antisemitische Hasstiraden von Reaktionären wie Ahmadinedschad kein Beleg, dass eine neue Judenvernichtung bevorstehen würde. Ähnliche Hetze haben nicht nur europäische Antisemiten, sondern auch Nasser oder Saddam Hussein im Irak verbreitet, ohne dass sie versuchten, ihre Drohungen wahr zu machen. (Als Saddam Hussein im Golfkrieg 1991 Raketen auf Israel abschoss, enthielten sie eben kein Giftgas).
Das hat er „nur“ gegen den Iran und die KurdInnen im eigenen Land eingesetzt.) Leute, die auf die antisemitische Hetze mit antiislamischer Hetze reagieren, fördern den Antisemitismus, weil sie dem Denken in ethnischen und religiösen statt in Klassenkategorien Vorschub leisten