Der Kapitalismus bedeutet für Milliarden Menschen die Hölle auf Erden und zerstört Tag für Tag unseren Planeten, während sich immenser Reichtum in den Händen immer weniger Reicher und Superreicher konzentriert. Unsere Alternative heißt Sozialismus. Aber was bedeutet das eigentlich und wie kann eine sozialistische Gesellschaft in der Wirklichkeit aussehen?
von Sönke Jansen, Bochum
Von den Sklavenaufständen im antiken Rom bis zu den Bauernkriegen des späten Mittelalters: Seit es Klassengesellschaften gibt, wehren sich die Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker und entwickeln Ideen von sozialer Gleichheit.
Als sich der Kapitalismus zur vorherrschenden Wirtschaftsweise entwickelte und die industrielle Revolution riesige Menschenmassen in lohnabhängige Arbeiter*innen verwandelte, entstanden „frühsozialistische“ Ideen: Vorstellungen von einer Gesellschaft ohne Elend und Ausbeutung. Es waren Utopien, also phantasievolle Entwürfe einer besseren Welt, die nicht mit einem realistischen politischen Programm verbunden waren.
Als das Bürgertum, also die Gesellschaftsklasse der Kapitalist*innen, im 18. und 19. Jahrhundert in Revolutionen die alten Feudalherren von der politischen Macht vertreiben wollte, waren die Arbeiter*innen, die Armen und die Bäuer*innen die eifrigsten Mitkämpfer*innen, denn sie erhofften sich politische Freiheit und die Verbesserung ihrer Lebensumstände. Aber spätestens in der Revolutionsepoche um das Jahr 1848 zeigte sich, dass das Bürgertum zu den übelsten Kompromissen mit Königen, Adel und Kirche bereit war, wenn es dazu diente, seine Herrschaft über die arbeitende Bevölkerung zu stärken. In dieser Zeit entwickelte sich erstmals eine unabhängige Arbeiter*innenbewegung.
Vom Manifest…
Im Revolutionsjahr 1848 veröffentlichten Karl Marx und Friedrich Engels das „Kommunistische Manifest“. Ihre Aussage: Der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit wird zu heftigen Klassenkämpfen führen. Die arbeitende Bevölkerung muss die Staatsmacht ergreifen und Maßnahmen zur Abschaffung des Kapitalismus (z. B. Vergesellschaftung der Betriebe) durchführen. So entsteht eine sozialistische Gesellschaft ohne Klassengegensätze, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“
Marx und Engels waren keine Träumer. Ihre Ideen entsprangen aus einer Analyse der historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Ihr politisches Programm entwickelte sich mit den konkreten Ereignissen ihrer Zeit: In Frankreich gab es 1871 einen revolutionären Aufstand der Arbeiter*innen, der zur Gründung der „Pariser Kommune“ führte. Die Kapitalisten und ihr Militär wurden für einige Wochen aus der Stadt vertrieben. Die arbeitende Bevölkerung wählte ihre eigenen Vertreter*innen und begann mit der demokratischen Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Kommune wurde durch ein konterrevolutionäres Massaker niedergeschlagen – Marx und Engels stellten fest: Eine Räterepublik wie die Kommune ist ein hervorragendes Beispiel für einen Staat der Arbeiter*innen – der alte kapitalistische Staatsapparat kann von diesen jedoch nicht einfach übernommen werden, er muss zerschlagen und durch eigene demokratische Organe ersetzt werden, wenn die Revolution erfolgreich sein soll.
In den folgenden Jahrzehnten entwickelten sich weltweit Massenorganisationen der Arbeiter*innenklasse: Parteien und Gewerkschaften. Der Marxismus war für Millionen nicht nur Theorie, sondern vor allem Anleitung zum Handeln.
… zu Revolutionen und Niederlagen
Die Führungen der sozialdemokratischen Arbeiter*innenparteien verrieten 1914 die Idee des Sozialismus, als sie dem imperialistischen Ersten Weltkrieg zustimmten. Der Krieg brachte eine revolutionäre Welle hervor. In Ländern wie Deutschland scheiterte die Revolution, obwohl Millionen Arbeiter*innen leidenschaftlich kämpften, sich in Räten organisierten und die Macht des Kapitals brechen wollten – nach dem Verrat der SPD-Führung fehlte ihnen eine starke revolutionäre Partei.
In Russland hatten sich die Marxist*innen rechtzeitig unabhängig organisiert. Die Partei der Bolschewiki forderte den Sturz der kapitalistischen Regierung und die Machtübernahme durch die Arbeiter*innen, Soldaten und Bäuer*innen, die sich 1917 spontan in Räten organisiert hatten. Die arbeitenden Massen unterstützten den Kurs der Bolschewiki und errichteten in der Oktoberrevolution eine sozialistische Räterepublik. Für einige Zeit bestand in Russland erstmals in der Geschichte der Menschheit ein Staat, der unter der demokratischen Kontrolle der bisher ausgebeuteten Klassen stand. Funktionär*innen waren zunächst wähl- und abwählbar und erhielten keine Privilegien.
Die Sowjetrepublik („Sowjet“ ist das russische Wort für „Rat“) war in einer schwierigen Lage: Sie blieb isoliert da die Revolution in anderen Ländern scheiterte. Nach Jahren des Kriegs gab es viel Elend. Bürokratische Funktionär*innen konnten sich Vorteile verschaffen und unter der Führung Stalins die Macht an sich reißen. Es gab zwar weiterhin die durch die Oktoberrevolution eingeführte Staatswirtschaft, aber die Rätedemokratie brach zusammen. Die Stalinist*innen bezeichneten ihr System weiterhin als „Sozialismus“, um ihre Macht gegenüber den Arbeiter*innen zu rechtfertigen, tatsächlich aber wurden sie zu einem Hemmnis für sozialistische Veränderungen auf der Welt, denn wenn eine erfolgreiche sozialistische Revolution eine gesunde Räterepublik hervorgebracht hätte, wäre das eine Bedrohung für die Macht der Sowjetbürokrat*innen gewesen. Die kapitalistischen Staaten nutzten dies aus, um mit dem Hinweis auf Bürokratie, Polizeistaat und Mangelwirtschaft in der Sowjetunion sozialistische Ideen schlecht zu machen.
Gleichzeitig versprachen sozialdemokratische Spitzenfunktionär*innen der Arbeiter*innenklasse in den kapitalistischen Ländern sozialen Fortschritt und sprachen in Festtagsreden sogar vom Sozialismus als langfristigem Ziel. Aber ihre reformistische Politik zielte darauf ab, den Kapitalisten einige soziale Zugeständnisse abzuringen und gleichzeitig die Arbeiter*innenklasse ruhig zu halten.
Die Wirtschaft der stalinistischen Länder wurde wegen der Selbstbereicherung der Bürokratie und dem Mangel an Arbeiter*innendemokratie immer ineffizienter. Die Unzufriedenheit der Arbeiter*innen führte zu revolutionären Protesten, wie 1989 in der DDR. Wieder fehlte eine starke revolutionäre Organisation, mit der die Arbeiter*innenklasse Kurs auf eine wirklich sozialistische Revolution hätte nehmen können. Pro-kapitalitischen Kräften gelang es, den endgültigen Zusammenbruch der Arbeiter*innenstaaten des „Ostblocks“ einzuleiten und den Kapitalismus wiederherzustellen. Während sich Teile der Bürokratie in Kapitalisten verwandelten und von der Situation profitierten, bedeuteten die folgenden Jahrzehnte für die einfache Bevölkerung Massenarbeitslosigkeit, Armut und Sozialabbau.
Sozialismus: Dringender denn je
Heute befindet sich der Kapitalismus in einer historischen Krise. Die Corona-Pandemie zeigt die Unfähigkeit des Systems, den Menschen auf der ganzen Welt medizinische Grundversorgung zu ermöglichen. Und auch unabhängig von der Pandemie ist die kapitalistische Weltwirtschaft am Boden, während für die Profite der Banken und Konzerne die Umwelt zerstört und Kriege geführt werden. Arbeiter*innen sind durch Betriebsschließungen und Lohnsenkungen in ihrer Existenz bedroht.
Die arbeitenden Menschen brauchen dringend starke Organisationen, um sich gegen die Kapitalis*innen zu wehren. Die Gewerkschaften müssen ihre Politik des Verzichts und der faulen Kompromisse mit den Bossen beenden. Denn eigentlich ist keine andere Kraft in dieser Gesellschaft so stark wie die organisierte Arbeiter*innenklasse. Durch Arbeitskämpfe und Streiks sind Beschäftigte in der Lage, die ganze kapitalistische Wirtschaft aus den Angeln zu heben. Weil die Gewerkschaftsführungen meistens auf die „Sozialpartnerschaft“ mit dem Kapital setzen, ist es so wichtig, dass sich Kolleg*innen von unten vernetzen und sich gemeinsam in den Gewerkschaften für demokratische Strukturen und einen kämpferischen Kurs einsetzen.
Denn die Geschichte lehrt uns: Die Kapitalist*innen geben uns nichts freiwillig. Wenn wir unsere Arbeitsplätze und sozialen Errungenschaften verteidigen wollen, müssen wir uns zusammenschließen und kämpfen. Und da sich die herrschenden Klassen in der gesamten Menschheitsgeschichte immer wieder für Rebellionen der unterdrückten Klassen grausam gerächt haben, müssen wir uns darauf vorbereiten, den Kampf um Verbesserungen im Hier und Jetzt mit der Perspektive einer sozialistischen Gesellschaft zu verbinden.
Grundzüge einer sozialistischen Gesellschaft
Der Sozialismus wird nicht im stillen Kämmerlein ausgedacht, sondern wird das Ergebnis einer weltweiten und lebendigen Bewegung der Arbeiter*innenklasse sein. Darum können wir heute keinen genauen Plan einer sozialistischen Gesellschaft präsentieren. Klar ist, welche Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft aufgehoben werden müssen. Daraus und aus Erfahrungen aus Klassenkämpfen können Grundzüge einer sozialistischen Gesellschaft abgeleitet werden:
Das Herz einer sozialistischen Gesellschaft ist die organisierte Arbeiter*innenklasse. Die radikale Umgestaltung der Gesellschaft erfordert Organisation. Und diese Organisation muss demokratisch sein. Nur wenn in den Betrieben und Nachbarschaften eine freie Diskussion darüber stattfindet, wie die Gesellschaft gestaltet werden soll, wird eine funktionierende sozialistische Gesellschaft entstehen können. Und die Arbeiter*innen brauchen die demokratische Kontrolle über die Organe einer solchen Gesellschaft. Alle Funktionär*innen müssen wähl- und abwählbar sein, dürfen keinerlei Privilegien genießen und nur einen durchschnittlichen Facharbeiter*innenlohn erhalten– nur so ist gewährleistet, dass sie die Interessen ihrer Basis vertreten.
Die Wirtschaft spielt eine wichtige Rolle für die Gesellschaft: Wie wollen wir arbeiten? Welche Produkte brauchen wir? Wie produzieren wir im Interesse von Mensch und Natur? Eine demokratische Organisation der Wirtschaft ist nur möglich, wenn sie dem kapitalistischen Privateigentum entzogen, verstaatlicht und demokratisch verwaltet und kontrolliert wird. Arbeiter*innen und Angestellte sowie Verbraucher*innen sollten unter Einbeziehung von Wissenschaftler*innen, Umweltaktivist*innen usw. einen demokratischen Plan für die gesamte Wirtschaft entwickeln. Von der Betriebsstätte bis zum länderübergreifenden Projekt sollte eine demokratische Planwirtschaft das Motto haben: So zentral wie nötig, so dezentral wie möglich.
Auf die Verstaatlichung der großen Banken und Konzerne unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung können wir aber nicht bis irgendwann nach der Revolution warten. Wir müssen diesen Kampf jetzt beginnen (etwa wenn Betriebe Entlassungen planen) und mit der Perspektive einer sozialistischen Gesellschaft verbinden.
Für ein besseres Leben
Stellen wir uns vor, im Sozialismus sind alle materiellen Grundbedürfnisse befriedigt, weil es keinen kapitalistischen Profitzwang mehr gibt und marktwirtschaftliches Chaos durch demokratische Planung ersetzt wird. Niemand müsste mehr an Hunger oder vermeidbaren Krankheiten sterben. Wenn die gesellschaftlich notwendige und sinnvolle Arbeit auf alle verteilt wird und die Interessen von Mensch und Natur zur Richtschnur von Wirtschaft und Gesellschaft werden, gäbe es mehr Zeit für die Dinge, die uns wichtig sind: Beziehungen, Kultur, Gemeinschafts- und Naturerlebnisse. Es gäbe keine Grundlage mehr für Kriege, religiöse und nationalistische Hetze. Die Vermeidung von Arbeitsdruck, Armut und den vielen Erniedrigungen des kapitalistischen Alltags würde zu einem friedlichen und solidarischen Umgang miteinander führen.