Der „Lucas-Plan“

Als Beschäftigte eine Alternative zu Arbeitsplatzverlusten entwarfen

Die Ankündigung von 9.000 Entlassungen im Bereich der Flugmotorenherstellung durch Rolls Royce ist eine der vielen möglichen Drohungen, Arbeitsplätze in der kommenden Rezession abzubauen. Gibt es dazu eine Alternative? Könnte statt der Entlassung hunderttausender Beschäftigter die Produktion auf die Herstellung gesellschaftliche sinnvoller Güter umgestellt werden? 

von Jane Nellist, Coventry Socialist Party und Präsidentin des Coventry TUC (lokaler Gewerkschaftsdachverband)*

Das ist keine neue Debatte. Als Kolleg*innen bei Lucas Aerospace – ein Unternehmen mit Standorten hauptsächlich im Nordwesten und den Midlands, zu jener Zeit Hersteller elektronischer Raketensysteme – in den 1970er Jahren von Massenentlassungen bedroht waren, entwickelten sie einen außerordentlichen, trag- und zukunftsfähigen alternativen Produktionsplan. Sie arbeiteten heraus, dass Kompetenzen und Produktionsanlagen sehr leicht dahingehend angepasst werden könnten, weit sinnvollere Produkte für die Menschheit herzustellen und dass Gemeinden weit mehr davon profitieren würden als von Waffen.

Es ist wichtig, diese Ereignisse und den Plan, den die Beschäftigten entwickelten, erneut zu untersuchen – besonders im Hinblick auf Covid-19. Wir haben dringenden Bedarf, die Produktion auf die Herstellung von Ventilatoren, Masken und Schutzausrüstung und weitere lebensrettende Güter umzustellen. Aber Regierung und Wirtschaft in Britannien haben sich als ineffektiv und unwillig erwiesen, den lebensnotwendigen Bedürfnissen unserer Gesellschaft gerecht zu werden, sehr zum Ärger der involvierten Belegschaften.

In den frühen 80er Jahren wurde der „Lucas Plan“ noch immer breit diskutiert – als Teil der Debatte über die nukleare Abrüstung und wie man Arbeitsplätze erhalten könne. Zu jener Zeit dienten die Debatten meiner politischen Ausbildung. Als Person, die ein tieferes Verständnis für den Sozialismus gewann, beleuchtete der Lucas Plan für mich den Einfallsreichtum und die Kraft der Arbeiter*innenklasse, für die Bedürfnisse der Gesellschaft zu planen, wohingegen die Bosse den Profit vor die Menschen stellten.

Heute rückt der Lucas Plan noch schärfer ins Blickfeld. Mit der Bedrohung von Mensch und Umwelt durch die Auswirkungen des Klimawandels müssen wir uns auf die Kampagne jener Ingenieur*innen berufen, die den Plan zustande gebracht haben.

Was also war der Lucas Plan und aus welcher politischen Landschaft ist er hervorgegangen?

Im Britannien der 1970er Jahre wurden ganze Industrien abgebaut. Hunderttausende von Arbeitsplätzen wurden hinweggefegt. Auf einen Handstreich warfen die Unternehmen ihre Belegschaften auf die Straße.

Das war kein „normaler“ Kapitalismus mit periodischen Auf- und Abschwüngen. Das war strukturelle Deindustrialisierung. Internationale Kapitalgiganten trachteten nach immer größeren Profiten und hinterließen zerstörte Gemeinden.

Ganze Fabriken wurden geschlossen und die Produktion in andere Länder verlegt. Arbeiter wurden der wachsenden Automatisierung und anderen Technologien geopfert und durch sie ersetzt.

Zeit- und Ablaufanalysen quetschten jede Minute des Arbeitstages aus. Die Stoppuhr regierte. Der wachsende Einsatz von Maschinen und Automatisierung beraubten die Facharbeiter ihres Stolzes.

Lucas Aerospace war ein großes Konglomerat. 17 Fabriken mit 18.000 Arbeiter*innen verteilten sich auf das Land – viele von ihnen ausgebildete Ingenieure. Sie stellten eine Bandbreite von Produkten her, einschließlich Leitsystemen für Raketen.

Einschnitte im Verteidigungshaushalt durch die damalige Labour-Regierung bedrohten Tausende von Arbeitsplätzen. Die Beschäftigten bei Lucas sahen sich Arbeitsplatzverlusten von 20 Prozent der Belegschaft gegenüber.

Während das Unternehmen nicht zögerte, zentrale Entscheidungen zu treffen, organisierten sich die Gewerkschaften getrennt voneinander an verschiedenen Standorten und in 12 unterschiedlichen Handwerks- und Belegschaftsgewerkschaften. Um geschlossen zu handeln, war eine andere Gewerkschaftsstruktur erforderlich. (Viele jener Gewerkschaften verschmolzen später, um eine größere, allgemeine Gewerkschaft wie Unite und GMB zu bilden.)

Zur Unterstützung des Abwehrkampfes bildeten Gewerkschaftsvertreter*innen das Lucas Aerospace Combine Shop Stewards Committee. Während sie zuvor fragmentiert waren und allzu leicht ausgeschaltet und gegeneinander ausgespielt werden konnten, konnten sie nun mit einer Stimme sprechen und ihre Belange demokratisch erfassen und beschließen. 

Verstaatlichung

Das „Kombinat“ der vereinten Gewerkschaften begann sich zu organisieren, um Arbeitsplätze zu verteidigen. Gemeinsam mit dem Parlamentsmitglied des linken Flügels, dem Industrieminister der Labourregierung von 1974, Tony Ben, wandten sich die Arbeiter*innen um Unterstützung an die Regierung in der Hoffnung, sie ziehe eine Verstaatlichung in Betracht.

Tony Benn schlug vor, dass die Beschäftigten einen Plan erstellen, den sie der Regierung vorlegen können, um ihre Sache zu vertreten. So entstand der Lucas Plan.

Der Plan, den sie hervorbrachten, war bahnbrechend. Über 150 Ideen für gesellschaftlich sinnvolle Produkte in sechs Bänden, alle mit detaillierten technischen Produktionsplänen, wurden publiziert.

Das Hauptziel war natürlich, die Arbeitsplätze zu erhalten. Aber es war mehr als das. Sie wollten auch die Kompetenz der menschlichen Arbeitskraft erhalten und menschliche Werte beitragen. Wie jemand sagte:

„Wenn wir keine Dinge herstellen, die Menschen töten, können wir Produkte fertigen, die das Leben der Leute verbessern und Leben retten.“

Einige dieser besten Ingenieur*innen überlegten sich Produkte, die das Leben einfacher Leute und ihrer Familien ändern würden.

Als weitere Aufgabe setzten sie sich, keine Ressourcen zu verschwenden, dass ihre Arbeit nicht “entfremdend” sein sollte und so organisiert, dass sie die Kreativität und Begeisterung der Menschen fördert.

Das kann die Kontrolle der Beschäftigten über die Industrie bewirken und ist im 21. Jahrhundert noch dringender.

Einer der Ingenieur*innen bei Lucas hatte bereits zuvor Erfahrung mit der Unnachgiebigkeit des Unternehmens, sich mit alternativen Produkten zu befassen. Er hatte einen Wagen konzipiert, um die Mobilität von Kindern mit spina bifida (“Offener Rücken”) zu erhöhen. Der Erfolg dieser Konstruktion war derart, dass 2.000 Bestellungen eingingen – nur, um vom Management abgelehnt zu werden, weil der Wagen nicht dem Produktmuster entsprach.

Der Plan, der von den Ingenieur*innen entwickelt wurde, war erstaunlich. Produkte wurden detailgenau entworfen, viele mit funktionierenden Prototypen. Die Ideen flossen nur so im Team. Sie suchten Lösungen, um das Leben der Verletztlichsten der Gesellschaft leichter zu machen, z. B. durch Wärmetauschermodule, um älteren Leuten und ärmeren Gemeinden billiges Heizen zu ermöglichen. Kälte ist noch immer eine häufige Todesursache für alte Leute. Genau so wie wir es bei Covid-19 sehen, versagt der Kapitalismus darin, unsere gefährdetsten Gemeinden zu beschützen. Tragbare Dialysegeräte wurden entworfen und weitere lebensrettende medizinische Geräte.

Ebenfalls entwarfen sie ein Hybridfahrzeug, das einen Otto (Benzin) Motor benutzen konnte, um eine Batterie zu laden. Das war 1976! Man muss sich einmal überlegen, wieviel Karbon über die letzten 40 Jahre hätte gespart werden können, wenn das Fahrzeug entsprechend entwickelt und produziert worden wäre.

Windräder und Solarzellen, die saubere Energie produzieren, und ein funktionierender Schienenbus, der zwischen Gleis und Straße wechseln kann, wurden entworfen.

Man stelle sich vor, die Beschäftigten wären unterstützt und diese Produkte entwickelt worden. Ihre Fähigkeiten und Talente hätten zum Wohle aller eingesetzt werden können. Unter dem Kapitalismus wurden sie zerschlagen. Das gibt uns eine Kostprobe davon, was im Sozialismus erreicht werden könnte.

Arbeiter*innenkontrolle

Dieser Plan sorgte in der Gewerkschaftsbewegung für viel Diskussion darüber, wie Arbeiter*innenkontrolle zu erreichen sei. Der Coventry TUC (lokaler Gewerkschaftsdachverband) schrieb gemeinsam mit drei anderen lokalen Verbänden einen Bericht über Arbeiter*innenkontrolle, der Argumente und Strategie darlegte.

Ein anderer wesentlicher Bericht in 1978 von den Autoarbeiter*innen bei Chrysler, Vauxhall, Ford, British Leyland und Willmott Breeden schlug gesellschaftlich nützliche Alternativen zur Massenherstellung von Autos vor. Von öffentlichen Dienstfahrzeugen zu speziell angepassten für Menschen mit Behinderungen, von Überlandfahrzeugen (auf Grundlage des Lucas Straßen-Schienen-Prototyps) zu Hybridfahrzeugen und alternativen Kraftstoffen.

Dieselben Argumente sind jetzt in der innergewerkschaftlichen Diskussion rund um die Nuklearindustrie und die Notwendigkeit von einer Million grünen Klimajobs relevant.

Die Beschäftigten von Lucas sahen sich einem wesentlichen Hindernis gegenüber, das schließlich ihren Plan zunichte machte: Sie hatten zu keiner Zeit die kollektive Kontrolle über ihr Unternehmen. Aber ihr Plan hat nicht aufgehört, in einer neuen Generation Ideen zu entfachen, sie zu inspirieren, sich dem Kampf anzuschließen, eine sozialistische Gesellschaft zu gewinnen und die Welt für immer zu verändern.

Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache am 27. Mai 2020 in der Zeitung “The Socialist” der Socialist Party England und Wales.

*Angabe dient nur zur Kenntlichmachung der Person

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