Unvorbereitet in die vierte Welle

Corona-Politik der Regierenden und Ungeimpften-Bashing sind kontraproduktiv

Die vierte Welle ist da. Die Infektionszahlen sind so hoch wie nie. Die Intensivstationen wieder bedrohlich nah an der Überlastung. Dass die Ampel-(Noch nicht)Regierung die epidemische Notlage aufheben will erscheint vor diesem Hintergrund widersinnig. Noch widersinniger ist es jedoch, dass es heute 4000 Intensivbetten weniger gibt, als vor einem Jahr, weil die katastrophalen Arbeitsbedingungen Pflegekräfte aus dem Beruf vertreiben und dass weder von der alten noch von der neuen Regierung Maßnahmen ergriffen wurden und werden, um die eklatanten Defizite im Gesundheitswesen zu beheben und dass die Verantwortlichen die Bevölkerung wieder unvorbereitet und ohne eine klare Strategie in den Winter schicken,

von Sascha Staničić

Der Vorsitzende des Weltärzteverbandes Frank Ulrich Montgomery spricht von einer „Tyrannei der Ungeimpften“. Ruth Schneeberger schreibt in der Berliner Zeitung sehr viel zutreffender von einer „Tyrannei der Unfähigen“. Tatsächlich haben wir es aber mit der Tyrannei eines profitgetriebenen Wirtschaftssystems und machtpolitisch getriebenen Parteien zu tun. Den Profiteur*innen dieses Systems, den Kapitalist*innen, und den verschiedenen Parteiführer*innen kommen Aussagen wie die Montgomerys gelegen, weil sie von ihrer eigenen Verantwortung für die anhaltend katastrophale Situation ablenken.

Ja, es wäre aus epidemiologischer Sicht besser, wenn sich mehr Menschen hätten impfen lassen. Dann wären die Infektionszahlen und die Zahl der hospitalisierten Covid-19-Patient*innen deutlich niedriger. Aber das Virus wäre immer noch da und es wäre immer noch gefährlich. Denn mittlerweile ist klar, dass Geimpfte zwar geschützter sind, aber eben auch nicht vollständig geschützt, dass sie im Falle einer Infektion weniger ansteckend sind, aber eben auch nicht nicht ansteckend, dass sie seltener an Covid 19 erkranken und die Krankheitsverläufe weniger schwer sind, aber dass sie auch erkranken können. Von 53,9 Millionen geimpften Erwachsenen waren in den Kalenderwochen 40 bis 43 310 mit einer Covid-19-Erkrankung auf einer Intensivstation. Von 15,5 Millionen Ungeimpften waren es 861. Von schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen sind unter den geimpften Personen vor allem Menschen aus den so genannten Risikogruppen betroffen. Die Impfung schützt also doppelt: jede*n Einzelnen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit und Schwere einer Erkrankung und die ganze Gesellschaft hinsichtlich der Ausbreitung des Virus.

Impfung ist wichtig, aber nicht alles

Was bedeutet das? Vor allem, dass die Impfung, so wichtig sie ist, nicht das einzige Mittel im Kampf gegen Corona sein kann. Es war ein schwerer Fehler der Bundesregierung die kostenlosen Schnelltests abzuschaffen. Nicht nur, weil es eine unsoziale Maßnahme war, die die ärmsten Teile der Arbeiter*innenklasse unverhältnismäßig stark getroffen hat und die Zahl der durchgeführten Tests reduziert hat, sondern auch weil ein völlig falsches Signal ausgesendet wurde: Tests sind nicht mehr so wichtig und Geimpfte müssen sich eh nicht testen lassen. Das Gegenteil ist der Fall: um das Virus zurückzudrängen muss weiterhin massiv getestet werden – unter Ungeimpften, aber auch unter Geimpften. Das ist weiterhin eine wichtige Maßnahme, um Infektionsketten zu unterbrechen und nachvollziehbar zu machen. Dass die Ampel-Koalition kostenlose Schnelltests nun wieder einführen will, ist ein Eingeständnis dieses Fehlers. Das Hin und Her in dieser, wie in so vielen anderen Fragen während der Pandemie, untergräbt aber das Vertrauen der Bevölkerung in die Corona-Politik und leistet damit einen Beitrag zur unter einer Schicht von Menschen existierenden Impfskepsis.

Vertrauensverlust

Diese ist letztlich auch eine Folge des berechtigten Vertrauensverlustes vieler Menschen in die etablierten Parteien und staatlichen Institutionen und des nicht minder berechtigten Misstrauens gegenüber der Pharmaindustrie. Wenn „die da oben“ etwas sagen, ist der Reflex vieler Menschen erst einmal das nicht zu glauben. Nur: wenn die da oben sagen, dass der Schnee weiß ist, dann bedeutet das nicht, er ist schwarz …. Soll heißen: die Impfempfehlung ist richtig, nicht weil die Regierenden sie aussprechen, sondern obwohl sie dies tun. Aus unserer Sicht spricht alles dafür, dass von einem gesamtgesellschaftlichen Standpunkt aus betrachtet eine möglichst hohe Impfrate das wirksamste Mittel der Pandemiebekämpfung ist und die negativen Folgen von Impfungen weitaus geringer sind, als die negativen Folgen von Covid-19-Erkrankungen.

Sahra Wagenknecht hat Unrecht

Deshalb weisen wir auch Sahra Wagenknechts Positionen zurück, die behauptet, eine Impfung diene nur dem Selbstschutz und habe keine gesellschaftliche Bedeutung. In der Anne Will-Talkshow hatte Wagenknecht zurecht die Gesundheitspolitik der Bundesregierung und der SPD kritisiert, aber gleichzeitig Positionen vorgetragen, die Wind in den Segeln der Impfgegner*innen bedeuteten und die schlicht und einfach falsch und undifferenziert sind. Alle Erfahrungen der letzten Monate lassen den Schluss zu, dass die Nebenwirkungen und „Impfschäden“ sowohl bei den Vektor- als auch den mRNA-Impfstoffen sehr selten sind, sehr viel seltener als schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle durch Covid 19-Erkrankungen. Aber: es gibt sie. Das Paul-Ehrlich-Institut untersuchte 1254 Todesfälle, die nach einer Impfung aufgetreten sind und führt 48 wahrscheinlich auf die Impfung zurück (Stand September 2021). Das ist im Vergleich zu den coronabedingten Todesfällen eine geringe Zahl, aber sie reicht aus, um die Entscheidung über die Impfung zur Privatsache zu erklären und eine Impfpflicht abzulehnen. Man darf niemanden dazu zwingen, sich diesem Erkrankungs- oder Todesrisiko auszusetzen.

Vertrauen aufbauen durch öffentliches Eigentum

Umso wichtiger wäre es daher, Vertrauen zu schaffen. Die wirkungsvollste Maßnahme, um Vertrauen in die Impfstoffe zu schaffen, wäre es die Profitmacherei mit der Herstellung von Impfstoffen zu beenden. Die Aufhebung der Patente und Überführung der Pharmakonzerne in öffentliches Eigentum unter Kontrolle und Verwaltung der arbeitenden Bevölkerung würden dazu führen, dass niemand mehr Sorge haben müsste, dass bei den Impfstoffen gepfuscht wird, um daran reich zu werden. Unmittelbar könnte aber auch schon durch eine öffentliche und transparente Kontrolle der Testverfahren und Forschung und durch eine allgemeinverständliche Aufklärungskampagne der Bevölkerung ein Effekt erzielt werden. Dafür könnte eine unabhängige Expertenkommission aus demokratisch gewählten Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen der in diesem Bereich Beschäftigten gebildet werden. Stattdessen werden Ungeimpfte zum Sündenbock gemacht und diskutiert ganz Deutschland darüber, warum sich ein Profifußballer nicht impfen lässt.

Testen statt 2G

2G-Regeln vertiefen die Spaltung zwischen Geimpften und Ungeimpften und führen zu einer trügerischen Sicherheit unter den Geimpften und Genesenen. Zumindest mitten in der vierten Welle wäre es sehr viel sinnvoller, dass sich alle Menschen – geimpft, ungeimpft, genesen – mehrmals Mal in der Woche testen. So könnten auch die Infektionen unter Geimpften und die asymptomatsich Infizierten und Ungeimpften erkannt werden und würden diese deutlich weniger Menschen anstecken. In den Betrieben sollte es keine Auskunftspflicht für Beschäftigte über den Impfstatus geben, sondern unabhängig davon regelmäßige PCR-Tests aller Beschäftigten durchgeführt werden, um das Infektionsrisiko zu reduzieren.

In Pflegeheimen und Einrichtungen, in denen besonders gefährdete Menschen zusammen kommen, sollte eine generelle tagesaktuelle Testpflicht bestehen.

PCR-Tests könnten, wie es in der Stadt Wien der Fall ist, kostenlos für alle zur Verfügung gestellt werden. Das wäre sehr viel effektiver als das Ungeimpften-Bashing, das große Teile dieser Gruppe in ihrer Haltung ohnehin nur bestärkt. Zwei Drittel der Ungeimpften haben in einer Umfrage angegeben, dass sie sich auf keinen Fall impfen lassen werden. Dafür muss man kein Verständnis haben, aber damit muss politisch und epidemiologisch umgegangen werden.

Für eine Corona-Politik im Interesse der Arbeiter*innenklasse kämpfen

Auch die Ampel-Koalition wird die verfehlte Corona-Politik fortsetzen, die sich nicht an einer maximalen Sicherheit für die Bevölkerung orientiert hat, sondern die Profitinteressen der Unternehmen im Fokus hat. Dass zum Beispiel die Lohnfortzahlung im Quarantänefall für Ungeimpfte nicht wieder eingeführt wird, ist ein Skandal. Genauso wie es ein Skandal ist, dass immer noch nicht alle Schulen und öffentlichen Einrichtungen mit Luftfiltern ausgestattet sind und die Zustände in den Krankenhäusern und Gesundheitsämtern, vor allem die Personalausstattung, sich nicht gebessert haben.

Es bleibt umso dringender, für eine wirkungsvolle Politik gegen das Virus zu kämpfen, die die Interessen der Arbeiter*innenklasse nach Gesundheit, sozialer Absicherung, Bildung für die Kinder und Jugendlichen etc. in den Mittelpunkt rückt. Gewerkschaften und DIE LINKE haben bisher dabei versagt, für eine solche Politik den Kampf zu organisieren und Proteste zu organisieren. Nun stehen wir am Beginn der vierten Welle, die schwerer werden kann, als das alle erwartet haben. Höchste Zeit, dass Gewerkschaften und DIE LINKE endlich in Aktion treten.

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