Die Lehren für die Generation Corona
Im Oktober 2011 erreichte die Arbeitslosigkeit in Großbritannien den höchsten Stand seit 17 Jahren, die Jugendarbeitslosigkeit stieg an und steuerte auf eine Million zu. Die Studiengebühren waren verdreifacht worden und der Streit um die Renten im öffentlichen Sektor tobte. Seit dem Wirtschaftscrash von 2007-08 hatte der Lebensstandard zu sinken begonnen, was Familien in die Armut stürzte, und die Zahl der Hauspfändungen erreichte ein 14-Jahres-Hoch.
von Helen Pattison, Socialist Party England & Wales
Zum ersten Mal seit dem 19. Jahrhundert würde eine Generation schlechter aufwachsen als ihre Eltern. Vor dem Hintergrund dieser enormen gesellschaftlichen Unruhe und der Tatsache, dass der Kapitalismus die Banken mit 600 Milliarden Pfund gerettet hatte, um sein System zu schützen, begannen Proteste und Streiks, darunter auch die Occupy-Bewegung, die sich gegen die Banken und den Finanzsektor richteten.
In der Gesellschaft wuchs die Wut darüber, dass die Banken gerettet wurden und nicht für die von ihnen verursachte Krise aufkommen mussten. Die Menschen ließen sich auch von den Ereignissen in der Welt inspirieren. Die ägyptische Revolution hatte begonnen, als Millionen von Demonstrierenden auf dem Tahir-Platz in Kairo zusammenkamen und sich weigerten, ihn zu verlassen. Ähnliche Bewegungen und Aufstände gab es auch in anderen Ländern Nordafrikas sowie Proteste in Griechenland und Portugal, wo harte Sparmaßnahmen getroffen wurden. In Spanien entstand die Indignados-Bewegung, die die Grundlage für die linke politische Organisation Podemos bildete.
Ausgehend von Occupy Wall Street in New York breitete sich die Occupy-Bewegung weltweit aus und griff Slogans wie „Wir sind die 99 %“ auf. In London formierten sich die Demonstrierenden vor der St. Paul‘s Kathedrale. Die Occupy-Camps waren überwiegend jung und die Beteiligten verständlicherweise extrem wütend. Die wachsende Bewegung war voller Energie, und die Proteste richteten sich gegen die Reichen und Steuervermeider*innen.
Auch die Socialist Party (CWI in England und Wales) war von der Bewegung begeistert. Dies könnte der Anfang einer Hinwendung der Menschen zu sozialistischen Ideen sein, um den Kapitalismus herauszufordern. Wir unterstützten die Proteste und nahmen an einer Vielzahl von Aktionen teil, aber nicht nur, um die Teilnehmer*innenzahlen zu erhöhen. Wir gingen hin, um die Notwendigkeit einer organisierten sozialistischen Arbeiter*innenbewegung zu unterstreichen.
Die Occupy-Bewegung war Teil der ersten Runde von Kämpfen und Bewegungen nach der Wirtschaftskrise. Nach der vorangegangenen Periode relativer Ruhe sahen sich die Menschen der Arbeiter*innenklasse gezwungen, sich dagegen zu wehren, für die kapitalistische Krise zu zahlen. Für viele war dies der erste Schritt, aktiv zu werden. Das bedeutete aber auch, dass viele derjenigen, die sich an der Bewegung beteiligten, zuvor nicht organisiert gewesen waren.
Die Macht der Arbeiter*innenklasse
Die Occupy-Demonstrierenden hatten, trotz wichtiger gewerkschaftlicher Kämpfe in den vorangegangenen Jahren nicht die Erfahrung machen können, wie die Macht der Arbeiter*innenklasse und eines Generalstreiks die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft zum Stillstand bringen können.
Da die volle Stärke der Arbeiter*innenklasse nicht deutlich gezeigt worden war, suchten die Menschen nach anderen Ideen und Methoden, um zu kämpfen. Sie fragten sich: Woher könnte die Stärke der „99 %” kommen? Wie sollte sie organisiert werden? Viele sahen in den Beschäftigten des Bankensektors, die sich gegen ihre eigene Branche auflehnten, einen Weg zur Lösung des Problems. Sie wollten diejenigen, die sich selbst als Kapitalisten bezeichnen würden, als Menschen einbeziehen, die zur Reform des Systems beitragen könnten.
Der Vorsitzende der Londoner Börse forderte die Demonstrierenden auf, sich gegen die Regierung und nicht gegen den Bankensektor zu wenden. Indem sie diese Schicht ansprachen und beschwichtigten, hofften die Demonstrierenden wahrscheinlich, eine große und breite Bewegung aufzubauen. In Wirklichkeit wäre Occupy viel mächtiger gewesen, wenn es sich an die große Schicht der entrechteten und wütenden Menschen aus der Arbeiter*innenklasse gewandt hätte, die am stärksten von dem Crash betroffen war. Die Sympathie für Occupy, die Studierendenbewegung und die Streiks der Gewerkschaften war groß, und zwar in einer Schicht, die noch nicht zu Aktionen mobilisiert worden war.
In den Occupy-Camps wurde zwar lebhaft diskutiert, aber die Forderungen, die aus den Camps hervorgingen, boten keinen klaren Weg nach vorn. Sie zeigten auf, was mit dem System nicht stimmt und was sie wollen – den Kampf gegen eine undemokratische, ungerechte und ungleiche Gesellschaft. Aber abgesehen davon, dass sie solidarisch waren und eine Alternative wollten, konnten sie nicht sagen, was als Nächstes nötig war.
Massenhafte Arbeiter*innenpartei
Der Socialist Party war klar, welchen Einfluss eine Massenpartei der Arbeiter*innen auf die Ereignisse hätte haben können. Eine Partei, die wirklich die Arbeiter*innenklasse gegen die Milliardäre und Bosse verteidigte, die helfen konnte, all diejenigen zu organisieren, die wütend waren. Die Labour-Partei war für die neoliberalen Regierungen Ende der 90er und Anfang der 2000er Jahre verantwortlich und am Irak-Krieg beteiligt, der von Millionen von Menschen abgelehnt wurde. Als es dann zum Crash kam, hatte die Labour-Partei die Banken gerettet, was zu einer enormen Staatsverschuldung führte, die sie mit Angriffen auf den Sozialstaat zu tilgen gedachte. Es herrschte das Gefühl, dass man vor allem den großen politischen Parteien nicht trauen könne und dass eine neue Art der Organisierung notwendig sei.
In Wirklichkeit führte die Wut gegen die großen Parteien zu einer allgemeineren „Anti-Parteien”-Stimmung, was bedeutete, dass die Menschen sogar den Organisationen der Arbeiter*innenklasse und den sozialistischen Organisationen gegenüber misstrauisch waren. Es herrschte das Gefühl, dass die alten, traditionellen Organisationsformen wie Gewerkschaften und Streiks versagt hatten. Direkte Aktion” und „neue Methoden” waren die Schlagworte, und alle Aktionsformen wurden als gleich wirksam dargestellt.
Es stimmt, dass jede Bewegung aus einer Vielzahl von Aktionen besteht, von Protesten über Besetzungen bis hin zu Streiks. Und jede Aktion spielt eine wichtige Rolle, indem sie all diejenigen zusammenbringt, die bereit sind, sich an dem Kampf zu beteiligen. Vor einem Streik gibt es vielleicht Proteste und Kundgebungen, die, wenn sie groß genug sind, Zugeständnisse erzwingen. Aber wenn diese Proteste nicht erfolgreich sind, können sie den Boden für entschlossenere Maßnahmen bereiten, wie zum Beispiel einen Streik, der entweder den normalen Betrieb eines Unternehmens oder im Falle eines Generalstreiks die gesamte Wirtschaft lahmlegt.
Occupy war zwar eine zahlenmäßig kleinere Bewegung, aber ein Produkt der großen Wut in der Gesellschaft über das Wirtschaftssystem – ein System, das für einige wenige an der Spitze funktioniert, aber Millionen darunter im Stich lässt. Ein Generalstreik, der die Wirtschaft und die Unternehmen zum Stillstand bringen würde, wäre angemessen gewesen.
Einher mit einer „neuen Art der Organisierung” ging die Idee der „strukturlosen Formen”, die die Occupy-Camps annahmen. Die erste Schlussfolgerung war, dass es keine Führer*innen geben sollte, damit es niemanden gab, der die Bewegung am Vorankommen hindern konnte. Aber selbst einige Kommentator*innen und „Führer*innen” von damals erkennen heute an, dass dies nicht der Fall war. Keine Anführer*innen oder Strukturen zu haben, bedeutet, dass es keine Rechenschaftspflicht gibt. Das bedeutet, dass es keinen demokratischen Prozess gibt, in dem Entscheidungen getroffen werden, und wenn sie nicht umgesetzt werden, gibt es keinen Mechanismus, um die Leute zur Rechenschaft zu ziehen.
De-facto-Führer*innen füllen in der Regel in die Lücken und sind dem Rest der Bewegung gegenüber nicht rechenschaftspflichtig. In der Realität bedeutet dies, dass Menschen, die weniger in der Lage sind, sich zu beteiligen, keine Möglichkeit haben, sich in der Bewegung Gehör zu verschaffen. Diese so genannten „Führer*innen” vertreten nicht die leidenschaftlichsten Ideen der Bewegung und stehen unter großem Druck, begrenzte Zugeständnisse zu machen. Demokratisch gewählte Führer*innen, die von denjenigen, die sie vertreten, abgewählt werden können, sind nicht dem Druck der Medien oder der Vertreter*innen des Kapitals verantwortlich, sondern der Bewegung, die sie gewählt hat. Wenn sie den Bossen nicht die Stirn bieten, können sie abgesetzt werden.
Kampf um Slogans
Es war von Anfang an klar, dass die Occupy-Bewegung dem Druck ausgesetzt sein würde, nicht zu radikal zu erscheinen. Am ersten Tag von Occupy London stand vor der St. Paul‘s Kathedrale ein großes Transparent mit der Aufschrift „Capitalism is Crisis”. Es spiegelte das Grundgefühl der Demonstrierenden wider.. Nach einer Meinungsverschiedenheit im Lager wurde das Transparent jedoch sehr schnell durch eines mit der Aufschrift „Echte Demokratie jetzt” ersetzt, obwohl der Slogan „Kapitalismus ist Krise” die Wut in der Gesellschaft und unter den Demonstrierenden wahrscheinlich besser widerspiegelte.
Die Ereignisse sind nicht einfach stehen geblieben. Occupy war für viele der erste Schritt aus den Startlöchern und gilt immer noch als Wendepunkt für viele, die seither Kampagnen zu verschiedenen Themen und gegen die Sparpolitik geführt haben.
Es war nur eine relativ kleine Zahl von Menschen beteiligt, aber eine viel größere Schicht sympathisierte mit der Sache. In jüngster Zeit haben wir die großen Märsche gegen die Angriffe auf Palästina, die Black-Lives-Matter-Bewegung und die Klimastreiks erlebt. Es gibt große Ähnlichkeiten zwischen der Bewegung vor einem Jahrzehnt und der Wut, die heute in der Gesellschaft herrscht.
Das Jahrzehnt seit 2011 war eine Lernkurve für viele, die sich in den Kampf gestürzt haben. Überall auf der Welt gab es Bewegungen und politische Parteien, die in den Vordergrund traten und dann wieder verschwanden, manchmal auch zerfielen – unfähig, der objektiven politischen Situation und den Aufgaben des direkten Kampfes gegen die Austerität standzuhalten.
Die Arbeiter*innenklasse in vielen Ländern, auch in Großbritannien, ist weiterhin auf der Suche nach der Formation, der Organisation und der Partei, die sie angemessen vertreten kann.
Sozialistisches Bewusstsein
In Großbritannien gibt es heute eine viel größere Offenheit für sozialistische Ideen, als zur Zeit von Occupy. 67 Prozent der Jugendlichen spricht sich laut einer Umfrage aus dem Jahr 2021 für ein sozialistisches System aus. Es ist die Aufgabe von Marxist*innen, diese Stimmung für Veränderungen mit Ideen und einem Programm sowie mit Methoden des Kampfes für eine erfolgreiche Veränderung der Gesellschaft zu untermauern.
Ein großer Unterschied zwischen 2011 und heute ist die Pandemie und ihre Folgen. Sie haben dazu beigetragen, die Klassengrenzen zwischen den Besitzenden und den Nichtbesitzenden noch deutlicher zu ziehen. Sie haben aufgezeigt, dass der Profit die treibende Kraft ist und nicht die Gesundheit, das Leben und der Lebensunterhalt der einfachen Menschen. Und sie hat gezeigt, dass es die Arbeiter*innenklasse ist, die die Gesellschaft wirklich am Laufen hält.
Es wächst die Einsicht, dass die Arbeiter*innenklasse sich für ihre eigenen Interessen organisieren muss. Es reicht nicht mehr aus, zu wissen, wogegen man ist, man muss wissen, für welches Programm man kämpft – und dieses Programm muss ein sozialistisches sein.