Türkei: Erdogans Regierung taumelt

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Was kann die Linke tun?

Nachdem sie in der Türkei fast zwei Jahrzehnte lang an der Macht war, ist die Regierung Recep Tayyip Erdogans nun am verwundbarsten. Da die Türkei seit 2018 in einem stark polarisierten politischen Umfeld von einer Krise in die nächste taumelt, eröffnet sich eine neue explosive Ära mit massiven Chancen für die Arbeiter*innenbewegung.

Von Kaan Bayraktar, Devrimci Sosyalist Sol (Gruppe türkischer CWI-Unterstützer*innen)

Steigende Kosten des Lebensunterhalts, niedrige Löhne, hohe Arbeitslosenzahlen und eine Vielzahl anderer Probleme stehen der türkischen Arbeiter*innenklasse gegenüber. Um von Erdogans wachsender Unbeliebtheit zu profitieren, rüsten alle Oppositionsparteien für die in 2023 anstehenden Präsidentschaftswahlen, mit der Hoffnung, Erdogan in der Wahlkabine zu besiegen.

Die anhaltende wirtschaftliche Krise hat das Vertrauen der Kapitalist*innen in die Regierung Erdogans geschwächt, und auch an der Spitze zeigen sich Risse. Allein in diesem Jahr hat die türkische Währung rund 45 Prozent ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren und damit ein neues Rekordtief erreicht. Innerhalb nur eines Monats wurde die Lira von 9,97 auf 15 gegenüber dem US Dollar abgewertet.

Als Antwort auf diesen scharfen Absturz der türkischen Lira und die wirtschaftliche Krise hat Erdogan gesagt, dass die Türkei sich in einem “wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg” befände.

Trotz der himmelhohen Inflationsrate und Opposition der bürgerlichen Ökonomen ist Erdogan fest von seiner Position überzeugt, dass hohe Zinsen für die hohe Inflation verantwortlich sind. Auf Erdogans Anweisungen hat die Zentralbank bereits Zinssätze von 19 Prozent auf 15 Prozent reduziert, und weitere Kürzungen sind zu erwarten.

Jedoch steigt die Inflation weiter an. Laut offiziellen Angaben war die jährliche Inflationsrate der Türkei im November 21,3 Prozent. Lebensmittelpreise sind um 27 Prozent angestiegen.

Aber jede*r Bewohner*in vor Ort weiß, das diese Zahlen eine komplette Lüge sind. Preise steigen so dramatisch, dass die meisten Supermärkte nicht einmal mehr Preisschilder benutzen. Einkaufende wissen, dass Preise beim nächsten Kauf um einiges höher sein werden. Die Löhne von Millionen von Arbeiter*innen verschwinden unter der Inflationsrate.

Viele unabhängige Ökonom*innen und Akademiker*innen sehen die jährliche Inflationsrate in der Türkei eher bei vierzig Prozent. Arbeitgeber und Erdogans Partei nutzen jedoch die offiziellen Zahlen um Lohnerhöhungen unter der eigentlichen Inflationsrate durchzusetzen, was einen Reallohnverlust für Viele bedeutet.

Laut einem Bericht der linken “Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei” (DISK) erhalten rund zehn Millionen Arbeiter*innen in der Türkei den Mindestlohn, wobei Millionen mehr sogar noch weniger verdienen. Der Mindestlohn wird von vielen Arbeitgebern eher als Maximallohn gesehen.

Die Proteste vom 12. Dezember, organisiert von der DISK, verlangten eine Erhöhung des monatlichen Mindestlohns auf 5400 Lira. Das diese zehntausende auf die Straße brachten zeugt von einer kämpferischen Stimmung in der organisierten Arbeiter*innenklasse. Vor wenigen Monaten wurde eine Autofabrik für einige Tage von Arbeiter*innen besetzt, als Antwort auf die Schikanierung einiger Gewerkschafter.

Die Spitze der Gewerkschaftsbewegung muss aktiv werden und Streiks koordinieren um die Arbeitgeber in die Knie zu zwingen und eine Massenbewegung gegen Erdogans arbeiterfeindliche Regierung aufzubauen. Die türkische Arbeiter*innenklasse ist eine der stärksten der Region, und hat eine kämpferische Tradition von Streiks, Besetzungen und Massendemonstrationen um gewerkschaftsfeindliche Politik zu besiegen.

Krise des türkischen Kapitalismus

Ein Financial Times (London) Leitartikel, veröffentlicht im letzten Monat, zeigt die Ängste der Vertreter*innen des Kapitalismus. Darin heißt es: “die Probleme der Währung spiegeln fast ausschließlich die zunehmend unberechenbaren Entscheidungen eines Mannes, und den Einfluss den dieser auf die angeblich unabhängige Türkische Zentralbank hat, wieder: Recep Tayyip Erdogan.”

Der Artikel endet wie folgt: “Wenn er [Erdogan] nicht plötzlich seinen Kurs ändert, stellt sich für die Türkei, ein Land mit großem Potenzial, nur die Frage, wie lange der Präsident noch bleiben wird – und wie viel Schaden er anrichten kann, bevor er geht.”

Es sollte deutlich gemacht werden das Erdogan seit seiner Machtübernahme 2003 von der EU und kapitalistischen Beobachtern unterstützt wurde, da sie in ihm jemanden sahen der verlässlich die Interessen der Kapitalistenklasse vertritt. Und laut den Kapitalist*innen hat er seinen Job gut gemacht. Trotz des beeindruckenden wirtschaftlichen Wachstums ist die Lücke zwischen Arm und Reich immer größer geworden. Einige Teile der kapitalistischen Klasse, besonders Bauunternehmen, haben unter Erdogan floriert. Viele staatliche Industrien wurden privatisiert und billig an Erdogans Kumpanen verkauft. Laut DISK sind 88 Prozent aller Privatisierungen in der Geschichte der Türkei in den letzten zwei Jahrzehnten geschehen. Gewerkschaftsfeindliche Gesetzgebungen wurden im Parlament durchgesetzt um die Kraft der Gewerkschaften zu schwächen.

Ein Einsturz der türkischen Wirtschaft war jedoch unvermeidbar, angesichts der Schwächen des türkischen Kapitalismus. Erdogan musste immer autoritärer werden, um an der Macht zu bleiben als sich das wirtschaftliche Wachstum verlangsamte und die Gesellschaft wurde immer polarisierter, besonders nach den Gezi Park Protesten im Jahr 2013.

Die jüngste Krise ist teilweise auf die “unberechenbaren Entscheidungen eines Mannes” zurückzuführen, aber auch auf die tiefgreifende Krise des globalen Kapitalismus. Die globale Wirtschaft ist seit 2007/2008 in einer durchgehenden Krise. Heute stehen viele fortgeschrittene kapitalistische Länder vor der Stagflation.

Die Krise der Türkei – politisch, wirtschaftlich, sozial – schafft eine explosive Situation. Der freie Fall der Lira hat die Devisenbestände der Türkei massiv reduziert. Über drei Jahre sind die Fremdwährungsanlagen in türkischen Banken von 49 Prozent auf 55 Prozent angestiegen.

Es besteht kein Zweifel das Teile der kapitalistischen Klasse von dem billigen Lira profitieren werden. Erdogan erwägt auch ein neues wirtschaftliches Modell ähnlich der chinesischen Wirtschaft in der Hoffnung, dass die billige Arbeitskraft ausländische Investitionen anlocken wird.

Bündnis der Nation

Internationale kapitalistische Beobachter*innen sind nicht die einzigen, die Bedenken ausdrücken. Auch der ‘Türkische Industrieverband’, die größte Wirtschaftsorganisation der Türkei, ringt mit den Händen. Der Großteil der Kapitalistenklasse ist sich bewusst, dass ein massiver sozialer Umbruch bevorsteht, und wird einen anderen verlässlichen pro-kapitalistischen Politiker bevorzugen, selbst wenn es nur eine temporäre Lösung ist.

Das “Bündnis der Nation”, welche die größte Oppositionspartei ‘Republikanische Volkspartei’ (CHP) und die rechte ‘Gute’ Partei beinhaltet, ist sehr optimistisch, dass sie die nächsten Wahlen gewinnen wird. Die Tatsache, dass Kemal Kilicdaroglu, Kopf der CHP seit zehn Jahren, zum Hauptquartier des Türkischen Statistischen Instituts gegangen ist, um deren Inflationszahlen persönlich anzuzweifeln zeigt, dass sie Selbstvertrauen gewinnt.

Das “Bündnis der Nation” wird sich jedoch vollkommen auf parlamentarische Manöver verlassen, um Erdogan zu besiegen, statt eine Massenbewegung aufzubauen. Das liegt nicht nur daran, dass sie Angst hat von einer Massenbewegung irgendwann zurückgelassen zu werden, sondern auch daran, dass sie befürchtet, dass eine Massenbewegung die Tore für die Arbeiter*innenklasse aufreißen könnte.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die CHP, sich selbst als sozialdemokratisch beschreibend, mithilfe von anderen Oppositionsparteien, hauptsächlich von Rechts, an die Macht kommen könnte. Aber so eine Koalition wäre auf Dauer nicht tragbar.

Sollte die CHP tatsächlich an die Macht kommen, werden auch diese weiterhin brav die Interessen der Kapitalist*innen vertreten, unter anderem durch Sparmaßnahmen, um die Arbeiter*innen für die kapitalistische Krise bezahlen zu lassen. Eine CHP-Regierung, an die Macht gekommen durch den Sturz Erdogans, könnte auch der Arbeiter*innenklasse und Jugend neues Selbstvertrauen geben.

Linkes Bündnis?

Es kann kein Vertrauen darin geben, dass die Wirtschaftsbossen und ihre politischen Repräsentant*innen sich für die Interessen der Arbeiter*innen einsetzen werden. Es ist dringend notwendig, unabhängige Organisationen der Arbeiter*innenklasse mit kämpferischen, sozialistischen Führungen aufzubauen.

Die Linke in der Türkei diskutiert gerade, was für eine Allianz man aufbauen muss um Erdogan zu besiegen. Dies ist ein zu begrüßender Schritt. Die Arbeiter*innen sollten nicht zwischen zwei Flügeln der Kapitalist*innen entscheiden müssen. Es sollte als erster Schritt gesehen werden, eine neue Massenpartei aufzubauen, welche als Arbeiter*innenparlament funktionieren kann.

Statt dies hinter verschlossenen Türen zu diskutieren, sollte die Linke lokale und nationale Versammlungen einberufen um das Vorgehen und die Richtlinien einer neuen Allianz zu diskutieren. Dies könnte die Arbeiter*innenbewegung wachrütteln.

Leider fokussiert sich die Diskussion derzeit darauf, welche Gruppen man ein- bzw. ausschließen soll, statt verschiedene Organisationen in einer föderalen Struktur zusammen zu bringen.

Die Kommunistische Partei der Türkei (TKP), zum Beispiel, hat eine sektiererische Haltung und empfindet die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) als eine pro-kapitalistische Organisation. Die TKP findet, dass die HDP nicht unbedingt Teil der Allianz sein sollte.

Obwohl sie von ihrer reformistischen Führung zurückgehalten wird, hat die HDP dennoch eine Arbeiter*innenbasis, da viele kurdische Arbeiter*innen die HDP immer noch als ihre Partei ansehen. Anstatt diese zu gewinnen, wird die Haltung der TKP diese wahrscheinlich eher abschrecken. Wenn die TKP stattdessen mit der HDP zusammenarbeiten und die Fehler der HDP-Führung unter Anwendung der Übergangsmethode aufdecken würde, könnten sie viele der politisch fortgeschrittenen Arbeiter*innen für sich gewinnen.

Sie könnten zum Beispiel argumentieren, dass man sich keine Illusionen über die kapitalistischen Demokratie machen sollte, und dass es eine vereinte Arbeiter*innenbewegung mit einem sozialistischen Programm benötigt um endlich der Unterdrückung, Armut und Ausbeutung ein Ende zu machen.

Was auch vernachlässigt wird in dieser Debatte ist die Rolle der Gewerkschaften, Haupverteidigungsmittel der Arbeiter*innenklasse. Die Türkische Arbeiterpartei wurde 1961 von zwölf kämpferischen Gewerkschaftsführern gegründet, als diese erkannt haben, dass Arbeiter*innen eine politische Repräsentation brauchen. Momentan setzt sich keine linke Organisation für die Notwendigkeit ein, dass Gewerkschafter*innen in Wahlen antreten sollten oder welche Rolle sie in der neuen Allianz spielen werden. Stattdessen wird diese neue Allianz als ein loses Bündnis linker Gruppierungen ohne klares Programm oder Strategie gesehen.

Es ist wichtig, dass Marxist*innen aus vergangenen Fehlern lernen und eine Strategie präsentieren, mit der die Arbeiter*innen gewinnen können. Das beinhaltet den Kampf für jegliche möglichen Verbesserungen, aber dieser muss mit der Notwendigkeit einer sozialistischen Veränderung der Gesellschaft nicht nur in der Türkei, sondern international einhergehen.