Der ukrainische Präsident ist ein Oligarchenfreund und Arbeiter*innenfeind
Vorbemerkung: Dieser Artikel wurde am 17. März in englischer Originalfassung auf socialistworld.net veröffentlicht. Seitdem hat Selenskyj die Medien in der Ukraine zusammen legen lassen und eine Reihe von politischen Parteien und Organisationen mit der Begründung verboten, sie seien pro-russisch.
Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, zum “Kriegshelden” geworden. In den westlichen Medien ist er von einem Fernsehkomiker zum Gesicht des Widerstands gegen die russische Invasion geworden. In seiner Rede vor dem britischen Unterhaus ahmte Selenskyj den britischen Premierminister Winston Churchill aus dem Zweiten Weltkrieg nach und erhielt von allen politischen Parteien stehende Ovationen.
Von Niall Mulholland, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale
In scharfem Kontrast dazu hat der russische Präsident Wladimir Putin Selenskyj und seine Regierung als einen Haufen von “Drogenkonsumenten” und “Neonazis” bezeichnet.
Was ist die Wahrheit über Selenskyjs politische Laufbahn?
In den 2000er Jahren war Selenskyj ein bekannter TV-Satiriker, der die Korruption verschiedener ukrainischer Regierungen angriff. Doch trotz seines öffentlichen Kreuzzugs gegen die Korruption unterhielt Selenskyj eine enge Beziehung zu dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj dem ein Fernsehsender gehörte, in dem Selenskyj auftrat.
Selenskyj attackierte die zunehmend unpopuläre Regierung von Petro Poroschenko, der 2014 Präsident der Ukraine wurde. Vorausgegangen waren groß angelegte Straßenproteste gegen die prorussische Regierung von Viktor Janukowitsch.
In Ermangelung einer starken Arbeiter*innenbewegung, die eine unabhängige Klassenposition vertrat, wurde diese Bewegung von pro-westlichen Kräften und auch rechtsextremen Elementen dominiert.
Die Regierung Janukowitsch wurde schließlich gestürzt und eine pro-westliche Regierung eingesetzt. Das Putin-Regime reagierte mit der Annexion der mehrheitlich russischsprachigen Halbinsel Krim, auf der sich auch ein wichtiger russischer Marinestützpunkt befindet.
Im Osten der Ukraine, in der Region Donbas, führten ethnische Russ*innen einen Aufstand gegen die ukrainische Regierung an. Daraus bildeten sich die prorussischen “Republiken” Donezk und Luhansk.
Seit 2014 herrscht ein brutaler Konflikt zwischen den ukrainischen Staatstruppen auf der einen und den von Russland unterstützten Kräften in den abtrünnigen Republiken auf der anderen Seite. Mehr als 14.000 Menschen, hauptsächlich russischstämmige Menschen, starben. Tausende wurden durch den Konflikt vertrieben.
Nach dem jahrelangen Konflikt im Osten des Landes und einer zunehmenden Wirtschaftskrise wurde das Regime von Poroschenko immer unpopulärer.
Die durchschnittliche Lebenserwartung in der Ukraine beträgt 71 Jahre und liegt damit zehn Jahre unter dem EU-Durchschnitt. Und das Durchschnittseinkommen in der Ukraine beträgt nur einen Bruchteil des EU-Durchschnitts und liegt auch unter dem Einkommen der Lohnabhängigen in Russland.
Erdrutschartige Wahl
Selenskyj kandidierte bei den Präsidentschaftswahlen 2019, unterstützt von Kolomoisky. Obwohl Zelenskij die Korruptionsbekämpfung zu einem seiner Wahlkampfthemen machte, wurde in den Pandora-Papieren von 2021 (die den verborgenen Reichtum von Kapitalist*innen und Politiker*innen enthüllten) behauptet, dass Zelenskij und Mitglieder seines inneren Kreises hohe Zahlungen von Kolomoisky in einem undurchsichtigen Netz von Offshore-Konten versteckt hatten.
Nichtsdestotrotz wurde Selenskyj mit einem Erdrutschsieg von 73 Prozent der Stimmen gewählt, wobei er sich für die Bekämpfung der Korruption einsetzte und eine Deeskalation der Feindseligkeiten mit den abtrünnigen prorussischen Regionen im Osten des Landes forderte.
Selenskyj gewann nicht nur die Unterstützung vieler ukrainischer Wähler*innen, sondern Berichten zufolge auch erhebliche Unterstützung von ethnischen Russ*innen, die ebenfalls ein Ende des Konflikts im Osten und eine Verbesserung ihres Lebensstandards wünschten.
Am 21. Juli 2019 fanden vorgezogene Parlamentswahlen statt, bei denen Selenskyjs Partei “Diener des Volkes” mit 254 von 450 Sitzen die absolute Mehrheit errang.
Auf eine verzerrte Art und Weise deutet dies auf das Potenzial hin, das vorhanden war, um die Lohnabhängigen über die ethnische Kluft hinweg zusammenzubringen und eine Lösung für die Krise des Lebensstandards und die nationale Frage zu finden. Dies hätte jedoch das Vorhandensein starker, unabhängiger Arbeiter*innenorganisationen vorausgesetzt.
Hätte es eine sozialistische Massenkraft gegeben, die ein Programm der Arbeitereinheit gegen die Oligarchen und die sich einmischenden äußeren Mächte vorgelegt und gleichzeitig die wichtigsten Bereiche der Wirtschaft in öffentliches Eigentum überführt hätte, mit demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die Arbeiter, dann hätte die Situation verändert werden können.
Eine Lösung durch und im Sinne der Arbeiter*innen hätte die Abschaffung jeglicher Zwänge für jede Nationalität und das Selbstbestimmungsrecht für nationale Minderheiten beinhaltet, während eine sozialistische Föderation der Region auf einer wirklich freien und gleichen Basis befürwortet worden wäre.
Nachdem er ein so großes Mandat errungen hatte, erklärte Selenskyj, er sei entschlossen, die so genannte Steinmeier-Formel, benannt nach dem damaligen deutschen Außenminister, durchzusetzen, die Wahlen in den russischsprachigen Regionen Donezk und Luhansk vorsah.
Der neue Präsident geriet jedoch bald unter starken internen Druck in der Ukraine, u. a. von der extremen Rechten und Ultranationalisten, aber auch vom US-Imperialismus, was dazu führte, dass Selenskyj sich von bedeutenden Gesprächen zurückzog.
Faschistische Kräfte
Das neonazistische “Asow-Bataillon”, eine Abteilung der ukrainischen Streitkräfte, startete eine sogenannte “Nein zur Kapitulation”-Kampagne gegen Selenskyjs Versuche, Verhandlungen mit den abtrünnigen Gebieten aufzunehmen.
Die Asow-Brigade wurde nach 2014 formell in das ukrainische Militär eingegliedert und kämpft seitdem gegen prorussische Separatisten in der östlichen Donbass-Region.
Unter der Regierung Selenskyj wurde nichts unternommen, um die diskriminierende antirussische Sprachgesetzgebung, die nach 2014 eingeführt wurde, rückgängig zu machen. Dazu gehört auch die Einstellung des Russischunterrichts an den Schulen.
Der staatlich geförderte ukrainische Nationalismus hat zugenommen. Straßen wurden nach Stepan Bandera und anderen ultrarechten ukrainischen Nationalisten benannt, die während des Zweiten Weltkriegs mit den Nazis kollaborierten.
Während die Verbrechen des Stalinismus in der Ukraine – blutige Säuberungen, Massendeportationen und Hungersnöte infolge der Zwangskollektivierung – weitgehend im Gedächtnis bleiben, wird die Ermordung von 1.500.000 ukrainischen Jüdinnen und Juden, die mit der Kollaboration ukrainischer Ultranationalisten mit den Nazis einherging, heruntergespielt.
Dies bedeutet nicht, dass Selenskyjs Regime “faschistisch” ist, wie Putin behauptet. Ein klassisches Naziregime würde die eiserne Unterdrückung jeglicher Opposition und die Vernichtung aller organisierten Linken, Gewerkschafter und Minderheitengruppen bedeuten. Auch das autoritäre Putin-Regime stützt sich auf ultrarussische Nationalist*innen, aber das macht es nicht faschistisch.
Dennoch ist klar, dass ultra-ukrainische Nationalist*innen und rechtsextreme Aktivist*innen in den Streitkräften und im Staatsapparat der Ukraine einen erheblichen Einfluss haben. Am 1. März ersetzte Selenskyj den Regionalverwalter von Odessa durch Maksym Marchenko, einen ehemaligen Kommandeur des rechtsextremen Aidar-Bataillons, über dessen Kriegsverbrechen im Donbas Amnesty International im September 2014 berichtete.
Das Aidar-Bataillon wurde auch eingesetzt, um die Anti-Putsch-Proteste in Odessa in jenem Jahr anzugreifen, die am 2. Mai 2014 in der Inbrandsetzung des Gewerkschaftshauses und dem Tod von 46 darin eingeschlossenen Menschen gipfelten.
Die Kommunistische Partei der Ukraine ist in der Ukraine verboten, und seit der russischen Invasion gibt es Berichte über die Entführung und Ermordung ihrer Mitglieder durch den Staat. Zwei Brüder, Michail und Alexander Kononowitsch von der Ukrainischen Kommunistischen Jugend, wurden vom ukrainischen Geheimdienst (SBU) unter dem Vorwurf “pro-russischer und pro-belarusischer Ansichten” verhaftet.
Der wichtigste Einfluss auf Selenskyj war jedoch der des US-Imperialismus und anderer westlicher Mächte. Nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 dehnten die westlichen Mächte die Nato nach Osten aus. Sie sahen den Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion als Chance, ihre Absatzmärkte zu erweitern und ihren Einfluss, ihr Prestige und ihre Macht zu stärken.
Im Jahr 2008 wurden Georgien und die Ukraine, beides ehemalige Republiken der Sowjetunion, in die Vorzimmer der Nato-Mitgliedschaft eingeladen. Die USA unterstützten den blutigen Staatsstreich gegen die prorussische Janukowitsch-Regierung im Jahr 2014 vor allem deshalb, weil diese sich aus den Gesprächen über einen EU-Beitritt zurückgezogen hatte und kein Anhänger der Nato war.
Strategische Charta
Unter der Regierung Selenskyj unterzeichneten die USA und die Ukraine im November 2021 eine “Charta der strategischen Partnerschaft”. In dieser Charta wurde das Ziel der militärischen Rückeroberung der Krim und des von Separatisten kontrollierten Donbass bekräftigt.
Dies stand in krassem Widerspruch zu den Minsker Vereinbarungen von 2015, die von Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine als angeblicher Versuch einer Lösung des Konflikts in der Ostukraine zusammengeschustert worden waren.
Im Juni und Juli 2021 fanden groß angelegte Militärübungen der Nato-Streitkräfte im Schwarzen Meer statt. Während Putin in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 seine Streitkräfte an der russischen Grenze zur Ukraine und in Belarus aggressiv aufrüstete, verwarf die Regierung Biden alle Gespräche über diplomatische Bemühungen um eine Einigung mit Russland.
Als sich ein Krieg abzeichnete, wurde Selenskyj immer verzweifelter und widersprach offen den Vorhersagen der USA und der westlichen Mächte, dass Russland kurz vor einer groß angelegten Invasion der Ukraine stehe.
Dies spiegelte die Tatsache wider, dass sich Selenskyj der Tatsache bewusst war, dass die ukrainischen Streitkräfte, obwohl sie seit 2014 modernisiert und mit Waffen aus dem Westen überschwemmt wurden, eine viel kleinere Streitmacht als die russische Armee sind. Selenskyj fürchtete auch die großen wirtschaftlichen Auswirkungen des vorhergesagten Flächenbrandes auf die schwache ukrainische Wirtschaft.
Seit der Invasion ist Selenskyj jedoch gezwungen, den “Widerstand” anzuführen. Dies hat ihm den Beifall der westlichen Mächte, aber auch die aufrichtige Bewunderung der Ukrainer*innen und von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt eingebracht.
Doch Selenskyjs Bilanz zeigt, dass er kein unabhängiger Akteur ist. Das ukrainische Volk wird von einem Stellvertreterkrieg zwischen den westlichen imperialistischen Mächten und der regionalen imperialistischen Macht, Russland, auf schreckliche Weise in Mitleidenschaft gezogen.
Selenskyj, der den ukrainischen Oligarchen hörig ist, appelliert immer wieder an die Nato, eine “Flugverbotszone” über der Ukraine zu verhängen. Die westlichen Mächte wollen, dass die Ukrainer für ihre Interessen kämpfen und sterben, lehnen aber Selenskyjs Appelle zur Einrichtung einer Flugverbotszone ab, weil dies einen direkten Krieg zwischen der Nato und Russland bedeuten würde, die beide über Atomwaffen verfügen.
Auch ist Selenskyj kein Freund der Arbeiter*innenbewegung. Im Juli 2020 verurteilte Human Rights Watch den Entwurf eines Arbeitsmarktgesetzes, das dem ukrainischen Parlament vorliegt und das “ernsthafte und ungerechtfertigte Einschränkungen der Rechte der Arbeitnehmer*innen auf Vereinigungsfreiheit und auf die Gründung von Gewerkschaften” vorsieht.
Nur die Arbeiter*innenklasse, die im Kapitalismus ausgebeutet wird, kann durch die unabhängige Durchsetzung ihrer eigenen Klasseninteressen einen Weg aus Krieg und Armut weisen. Dazu bedarf es der Einheit der Arbeiter*innen, einschließlich einer konfessionsübergreifenden, demokratisch organisierten Selbstverteidigung vor Ort in der Ukraine.
Mit einem Programm grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen könnten diese Kräfte einen Klassenappell an die russischen Soldaten und Wehrpflichtigen richten, sich zu weigern, für Putin und sein oligarchisches Regime zu kämpfen.
Der dringende Aufbau einer unabhängigen politischen Stimme für die Arbeiter*innenklasse – über alle ethnischen und nationalen Grenzen hinweg und unter Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts der unterdrückten Nationen – ist unerlässlich.