Beschluss des 13. Weltkongress des CWI im Januar 2022
Vorbemerkung. Wir veröffentlichen hier eine der beim Weltkongress des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale beschlossenen Resolutionen. Diese sind auch unter info@solidaritaet.info als Broschüre zu bestellen. Der Kongress fand vor dem Beginn des Ukraine-Kriegs statt, so dass dieser in den dort verabschiedeten Texten nicht berücksichtigt werden konnte.
Einleitung
1. Europa wird von einer neuen Covid-Welle erfasst, und die Weltgesundheitsorganisation sagt voraus, dass bis zum nächsten Frühjahr zwei Millionen Menschen auf dem gesamten Kontinent an der Krankheit sterben werden. Während es den Regierungen in der ersten Welle der Pandemie im Allgemeinen gelang, ihre Unterstützung unter dem Banner der “nationalen Einheit” gegen das Virus vorübergehend zu erhöhen, hat sich dies nun ins Gegenteil verkehrt.
2. Im Jahr 2020 schrumpfte [das BIP in der] die Eurozone um massive 6,3 Prozent. Dies war nicht gleichmäßig verteilt. In Spanien schrumpfte die Wirtschaft um 10,8 Prozent, in Deutschland dagegen um 4,6 Prozent. Außerhalb der Eurozone und der EU gehörte Großbritannien mit einem Minus von 9,8 Prozent zu den am stärksten betroffenen wirtschaftlich entwickelten Ländern. Im Jahr 2021 verlief die Erholung in der Eurozone langsamer als das instabile Wachstum in den USA oder China, was die besonderen Schwächen des europäischen Kapitalismus widerspiegelt. Jetzt bedrohen die jüngste Pandemiewelle und einige andere Faktoren sogar diese begrenzte Erholung. Es ist noch nicht klar, wie lange die jüngste Welle andauern wird oder ob ihr ein weiterer schwerer Ausbruch des Virus als Folge von Omikron oder einer anderen Variante folgen wird. Sollte dies der Fall sein, so hätte dies erhebliche wirtschaftliche und politische Auswirkungen. Aber auch wenn dies nicht der Fall ist, ist klar, dass der Kontinent vor einer Phase zunehmender Wirtschafts-, Gesundheits- und Umweltkrisen steht. Dies wird zu Instabilität und Massenkämpfen führen, angeheizt durch die Erfahrungen die Arbeiter*innenklasse in den letzten achtzehn Monaten, und durch das, was noch kommen wird.
3. In ganz Europa zeichnet sich ein Bild unpopulärer und zunehmend instabiler Regierungen ab. Die neue “Ampel”-Koalition in Deutschland, der stärksten europäischen Macht, ist inhärent fragil. Die Aushöhlung der sozialen Basis des deutschen Kapitalismus zeigt sich deutlich daran, dass beide großen Parteien – die Christlich-Demokratische Union (CDU) und die sozialdemokratische SPD – zusammen weniger als fünfzig Prozent der Stimmen erhielten (im Vergleich zu über neunzig Prozent in den 1970er Jahren). Es ist nicht möglich, alle schwachen europäischen Regierungen aufzuzählen, aber um Beispiele zu nennen: In den Niederlanden wurde nach acht Monaten Verhandeln immer noch keine Koalitionsregierung gebildet. In Portugal stehen nach dem Zusammenbruch der Regierung vorgezogene Parlamentswahlen an. In Schweden hielt die von der ersten weiblichen Ministerpräsidentin Magdalena Andersson (SPD) geführte Regierung nur sieben Stunden, bevor sie zusammenbrach und nun auf wackligen Beinen neu formiert wurde. Österreichs Bundeskanzler musste im Oktober 2021 wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten. Regierungskrisen sind dort nicht neu, das Land hatte seit Mai 2016 sechs Regierungen. Irland hat, wie Deutschland, eine instabile Koalitionsregierung. Der Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen ist ungewiss. Der britische Tory-Premierminister Boris Johnson wird von der kapitalistischen Presse und innerhalb seiner eigenen Partei zunehmend angegriffen, zum einen wegen der tiefen Spaltung der Tories, zum anderen weil er ein so “trumpistischer”, unzuverlässiger Vertreter der Interessen der britischen Kapitalist*innenklasse ist.
4. Auf dem ganzen Kontinent beginnt die unterschwellige Wut gegen alles, was die Arbeiter*innenklasse erlitten hat und die sich insbesondere seit der Großen Rezession aufgestaut hat, wieder aufzubrechen. Die allgemein miserable Rolle der Führung der Gewerkschaftsbewegung und das Fehlen von Massen-Arbeiter*innenparteien bedeutet jedoch, dass die Wut auf unerwartete, verwirrte und episodische Weise ausbrechen kann. Die Beteiligung von Teilen der Arbeiter*innenklasse an der Gelbwestenbewegung in Frankreich ist ein Beispiel für ein solches Phänomen. Die massiven Demonstrationen gegen die von der Regierung verhängten Covid-Beschränkungen, die weite Teile Europas erfasst haben, spiegeln dies zum Teil wider sowie den völligen Mangel an Vertrauen in alle Institutionen des Kapitalismus, vor allem in die kapitalistischen Politiker*innen. Dies und das völlige Versagen der Gewerkschaftsführungen und der linken Parteien, eine alternative Corona-Politik vorzuschlagen und dafür zu mobilisieren, haben dazu geführt, dass diese Proteste als einzige Möglichkeit erscheinen, die Wut zum Ausdruck zu bringen, während sie gleichzeitig einen Nährboden für rechte Kräfte darstellen, um Gewinne zu erzielen. Die Klassenzusammensetzung, das Ausmaß, in dem rechtsextreme Kräfte diese Bewegungen dominieren, und die Größe der Proteste sind von Land zu Land sehr unterschiedlich.
5. Zum jetzigen Zeitpunkt bringt jedoch nur eine sehr kleine Minderheit der Arbeiter*innenklasse ihre Wut zum Ausdruck, indem sie sich an den “Anti-Impf”-Protesten beteiligt. Vor allem in Ländern, in denen die Ungeimpften für neue Abschottungsmaßnahmen gegen die gesamte Bevölkerung verantwortlich gemacht werden, können wir eine zunehmende Spaltung der Arbeiter*innenklasse in dieser Frage beobachten. Wie bisher müssen wir weiterhin ein geschicktes Programm vorlegen, das auf die jeweilige Situation zugeschnitten ist, aber immer auf die Verantwortung des Kapitalismus für die durch die Pandemie verursachten Krisen hinweist und Forderungen erhebt, die auf die Notwendigkeit von Arbeiter*innenkontrolle hinweisen.
6. Wir mussten unser Programm auf der Grundlage der Pandemiesituation und des Bewusstseins der Massen ständig weiterentwickeln. Wir haben ein Programm für einen wirksamen Kampf gegen die Pandemie im Interesse der Arbeiter*innenklasse vorgelegt, das Forderungen nach der Verstaatlichung der pharmazeutischen Industrie, der Freigabe der Patente für Impfstoffe, einem öffentlichen Gesundheitssystem, mehr Personal und höheren Löhnen für das Krankenhauspersonal usw. enthält.
7. Die Meinungsverschiedenheiten über Covid sind nur ein Aspekt der wachsenden Spannungen in ganz Europa, sowohl zwischen als auch innerhalb von Klassen und Nationen. Alle diese Spannungen werden sich in der kommenden Zeit weiter verschärfen. In einer zunehmend konfliktgeladenen multipolaren Welt ist der Druck auf die kapitalistischen Klassen Europas immens, näher zusammenzurücken, um als effektiver gemeinsamer Block zu agieren. Gleichzeitig verstärken aber auch die zunehmend gegensätzlichen Interessen der verschiedenen nationalen kapitalistischen Klassen die Fliehkräfte. Diese werden stärker in den Vordergrund treten, da die EU darum ringt, eine gemeinsame Antwort auf die zahlreichen Krisen zu finden, mit denen sie konfrontiert ist. Das Ende der “Ära Merkel” zu einem wirtschaftlich und politisch sehr unsicheren Zeitpunkt markiert den Beginn neuer, zerrissener Beziehungen zwischen den verschiedenen Mächten der EU, wobei künftige “Brexits”, ein Auseinanderbrechen der Eurozone oder sogar eine Fragmentierung und Neugestaltung der EU eine reale Möglichkeit darstellen. Johnsons Brexit und die daraus resultierenden endlos andauernden Verhandlungen mit der EU schwächen den britischen Kapitalismus weiter. Dies kann als ein gewisses “abschreckendes Beispiel” dienen, wird aber letztlich die widerstreitenden Interessen der verschiedenen kapitalistischen Klassen Europas oder das wachsende Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der EU nicht aufheben.
8. Angesichts der Krisen im eigenen Land setzen die kapitalistischen Politiker*innen zunehmend auf Nationalismus, um ihre soziale Basis zu stärken. Dies zeigt sich deutlich auf beiden Seiten im abstoßenden Streit zwischen Johnson und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron über das Ertrinken von 27 Geflüchteten im Ärmelkanal sowie in dem zynischen Ausnutzen von Geflüchteten durch den belarusischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, um Druck auf die EU auszuüben. Die zunehmende Klimakrise, Krieg und Verarmung werden unweigerlich neue Wellen von Massenmigration auslösen. Der Schrecken über die wachsende Zahl von Menschen, die im Ärmelkanal ertrinken, weil die Zäune um den Hafen von Calais hoch genug gebaut wurden, um andere, etwas sicherere Wege nach Britannien zu versperren, ist ein weiterer Beweis dafür, dass keine noch so starke Repression die Migration verhindern kann. Die aktuellen politischen Spannungen im Zusammenhang mit Geflüchteten werden jedoch nicht durch eine neue Migrationswelle ausgelöst: Die Zahl der in Britannien ankommenden Asylbewerber*innen ist derzeit nur halb so hoch wie in den 2000er Jahren. Der Konflikt spiegelt die nationalistische Haltung der britischen und französischen Regierung wider. Wie beim Streit um die Fischereirechte mögen die objektiven Interessen des britischen und des französischen Kapitalismus darin bestehen, die Probleme im Stillen hinter den Kulissen zu lösen, aber die Ereignisse sind nicht vollständig unter ihrer Kontrolle.
9. Der anhaltende Konflikt um das nordirische Protokoll bleibt die potenziell gefährlichste Folge des Brexit. Sowohl für die EU als auch für die britische Regierung ist das Risiko einer Eskalation des konfessionell-sektiererischen Konflikts zweitrangig gegenüber der Verteidigung ihrer eigenen engstirnigen Interessen. Die Regierung Johnson fürchtet jedoch die schädlichen wirtschaftlichen und politischen Folgen einer Auslösung von Artikel 16 und steht unter erheblichem Druck von Biden, diesen Weg nicht einzuschlagen. Es könnte auch der Kipppunkt für Johnsons Absetzung als Premierminister sein, und er scheint den Versuch zu erwägen, einen “Kompromiss” zu erzielen. Dies ist jedoch äußerst schwierig, da die EU den Binnenmarkt verteidigen muss, die Protestant*innen in Nordirland eine Grenze in der Irischen See ablehnen und Johnson Angriffe von der rechten Seite seiner Partei fürchtet, wenn er der EU Zugeständnisse macht.
10. Es liegt auf der Hand, dass die Beziehungen zu Britannien besonders angespannt sind, aber ähnliche Konflikte werden sich zunehmend auch innerhalb der EU entwickeln. Die wachsenden zentrifugalen Spannungen betreffen sowohl Ost/West als auch Nord/Süd. So hat sich beispielsweise die Auszahlung der ersten Tranche des polnischen Anteils am Covid-Konjunkturpaket in Höhe von 36 Milliarden Euro durch den anhaltenden Streit über die bonapartistischen Eingriffe der polnischen Regierung in die “Unabhängigkeit” der polnischen Justiz verzögert. Kurzfristig scheint dies nicht zu einem “Polexit” zu führen, obwohl sich dies in Zukunft ändern kann. Gegenwärtig wollen über achtzig Prozent der Pol*innen in der EU bleiben, da sie diese nach wie vor als Weg zu größerem Wohlstand sehen, und Polen ist ein Nettoempfänger von EU-Geldern, was für die Regierung ein erheblicher Anreiz ist, in der EU zu bleiben. Gleichzeitig ist Polen für die EU in den zunehmenden Konflikten mit Russland und den osteuropäischen Staaten, die sich nach Moskau orientieren, von großer Bedeutung. Dies wird jedoch nicht verhindern, dass die Spannungen zwischen Polen und den dominierenden EU-Mächten zunehmen.
11. Konflikte können sich auch über den Umgang mit außenpolitischen Aspekten entwickeln. Die verschiedenen EU-Mächte verfolgen immer noch unterschiedliche Ansätze in Bezug auf das chinesische Technologieunternehmen Huawei, was die Uneinigkeit darüber widerspiegelt, wie weit man sich Bidens Blockadeversuch gegen China anschließen soll. China ist der größte Exportmarkt Deutschlands, weshalb Berlin besonders zögerlich ist. Auch ist es unwahrscheinlich, dass die Europäische Kommission ihren Vorschlag, 300 Milliarden Euro für einen europäischen Versuch zu mobilisieren, mit Chinas Seidenstraßen-Initiative zu konkurrieren, in die Tat umsetzen kann. An der Grenze zur Ukraine erhöht die russische Truppenaufstockung zusammen mit den verstärkten Waffenlieferungen der NATO an die Ukraine die Gefahr eines neuen Krieges. Gleichzeitig spiegeln die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der EU über die neue russische Gaspipeline Nord Stream 2 die Uneinigkeit über den Umgang mit dem russischen Regime im Allgemeinen wider.
12. In Bosnien-Herzegowina rückt mit der drohenden Abspaltung des serbischen Gebiets ein erneuter militärischer Konflikt näher als jemals zuvor seit 1995. Milorad Dodik, das serbische Mitglied der “dreiteiligen Führung”, weigert sich, den europäischen “Hohen Vertreter” anzuerkennen, der gemäß dem Dayton-Abkommen diktatorische Regierungsbefugnisse hat. Dodik hat erklärt, dass sie, wenn die EU ihnen die Mittel entzieht, stattdessen einfach Mittel aus Russland oder China beziehen werden. Die Restauration des Kapitalismus in der Region führte in den 1990er Jahren zu blutigen Bürgerkriegen und dann zu einem Vierteljahrhundert ethnischer Spaltung, die von den imperialistischen Mächten überwacht wurde. Jetzt, da sich die Spannungen zwischen diesen Großmächten weltweit verschärfen, ist ein neuer Balkankrieg nicht auszuschließen. In all diesen Fragen herrscht innerhalb der EU Uneinigkeit darüber, wie am besten zu reagieren ist.
13. Die Krise des europäischen Kapitalismus spiegelt sich auch im Wiederaufleben nationaler Fragen innerhalb bestehender Nationalstaaten wider. Im Mai 2021 hat sich in Schottland eine Mehrheit der gewählten Abgeordneten für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ausgesprochen. Zum jetzigen Zeitpunkt will die Führung der Scottish National Party (SNP) das Thema nicht auf die Spitze treiben, so dass sich die Frage vielleicht erst in ein oder zwei Jahren wieder zugespitzt stellt, aber unabhängig von den Absichten der SNP wird dies in der nächsten Zeit ein zentrales Kampffeld für die schottische Arbeiter*innenklasse sein. Das Gleiche gilt für Katalonien, wo die Parteien, die für die Unabhängigkeit sind, bei den Wahlen zum katalanischen Parlament 2021die absolute Mehrheit der Stimmen (52 Prozent) erhielten. Gleichzeitig wurde der Widerstand der spanischen Nationalist*innen gegen die Unabhängigkeit Kataloniens von der Rechten als mobilisierende Kraft genutzt. Die nationale Frage kann auch an anderen Orten in den Vordergrund treten und wird ein wichtiger Test für die linken Kräfte sein. Ein Element des Scheiterns der “neuen linken Formationen” nach 2007 war ihre falsche Herangehensweise an die nationale Frage, insbesondere der Herangehensweise Corbyns und von Podemos.
Wirtschaftliche Integration?
14. In wirtschaftlicher Hinsicht hat die EU jedoch bereits 2020, als Reaktion auf die erste Phase der Pandemie, Schritte unternommen, die auf den ersten Blick wie Integrationsmaßnahmen aussehen. Das Konjunkturpaket in Höhe von 750 Mrd. Euro wurde zum ersten Mal kollektiv durch den Verkauf von Anleihen der Europäischen Kommission aufgenommen, wobei ein Großteil der Mittel als Zuschüsse und nicht als Darlehen vergeben wurde. Dieser Deal entstand jedoch nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche. Der Gipfel war der längste aller Zeiten und dauerte drei Tage länger als geplant. Die Einigung wurde schließlich erzielt, weil die EU bei einem Scheitern in eine Katastrophe geraten wäre. Ein qualitativer Schritt in Richtung EU-Integration wurde damit jedoch nicht gemacht. Alle bestehenden Schulden verbleiben in der Verantwortung der einzelnen Nationalstaaten, und die Schulden sind nicht vollständig gemeinschaftlich, da sie nicht “gesamtschuldnerisch” garantiert sind. In Wirklichkeit wurde das Problem, wie die Schulden zurückgezahlt werden sollen und wer dafür verantwortlich ist, auf die lange Bank geschoben.
15. Die erste Tranche dieser Gelder, gerade einmal 13 Prozent, wurde erst im Sommer 2021 an die nationalen Regierungen (aber nicht an Polen!) freigegeben. Dieses langsame Tempo im Vergleich zu den Konjunkturpaketen der Nationalstaaten hat das Leiden der schwächeren Volkswirtschaften der EU unweigerlich verstärkt. Spaniens Wirtschaft ist immer noch 6,6 Prozent kleiner als vor der Pandemie, während die Inflation mit 5,5 Prozent über dem Durchschnitt der Eurozone liegt. Und selbst jetzt, da die Konjunkturmaßnahmen anlaufen, haben sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Marshall-Plan, mit dem sie verglichen wurden. Spanien wird in den Jahren 2021 bis 2022 die meisten Mittel erhalten, nämlich etwa drei Prozent des BIP. Dies kann zwar eine gewisse begrenzte Wirkung haben, doch sind diese Zahlungen daran gebunden, dass die sozialdemokratische PSOE-geführte Regierung die zentralen Elemente der harten gewerkschaftsfeindlichen Gesetze der rechten pro-kapitalistischen PP-Regierung in den Gesetzbüchern belässt, sowie an Privatisierungen und “Effizienzmaßnahmen”. Künftige Zahlungen sollen von der Durchführung der notwendigen “Reformen” abhängig gemacht werden, wobei nicht nur die Europäische Kommission, sondern jeder Mitgliedstaat das Recht hat, die Zahlungen zu stoppen, wenn eine Regierung die geforderten Privatisierungen oder Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse nicht durchführt. In der Tat ist fast die einzige Gewissheit für die Politik der EU in der nächsten Periode die Fortsetzung der Versuche, die Arbeiter*innenklasse für die Krise bezahlen zu lassen, wobei die Bedingungen der Konjunkturpakete als Rammbock gegen die Rechte der Arbeiter*innenklasse, insbesondere in den Ländern der “Peripherie”, eingesetzt werden. Die Europäische Kommission hat Italien bereits verwarnt, weil es das Wachstum seiner “staatlich finanzierten laufenden Ausgaben” nicht “ausreichend begrenzt” hat, und das Land aufgefordert, sofortige Maßnahmen zur Senkung seiner Schulden zu ergreifen.
Kein klarer Weg nach vorne
16. Nachdem die großen kapitalistischen Mächte auf dem Höhepunkt der Pandemie gezwungen waren, massive Konjunkturpakete zu schnüren, überlegen sie nun weltweit, wie sie in der kommenden Zeit vorgehen wollen. In der EU haben die “Falken” dem Konjunkturpaket nur widerwillig zugestimmt, weil sie davon ausgingen, dass es sich um eine einmalige Maßnahme handeln würde. Natürlich kann eine neue Phase einer katastrophalen Krise dazu führen, dass sie sich davon zurückziehen. Unabhängig davon ist jedoch klar, dass es für die verschiedenen kapitalistischen Klassen in der EU äußerst schwierig sein wird, einen Weg nach vorn auszuhandeln, wenn keine von ihnen die geringste Ahnung hat, womit sie konfrontiert sind oder welche Politik zur Bekämpfung der Krise am besten geeignet ist.
17. Draghi, ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) und jetzt Ministerpräsident Italiens, hat öffentlich klargestellt, dass er die harten neoliberalen Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP), dessen Vorsitz er innehatte und der während der Pandemie bis 2023 ausgesetzt wurde, für überholt hält und dass diese neu geschrieben werden sollten. In Anbetracht der Tatsache, dass die Staatsverschuldung von dreizehn Staaten die vom SWP vorgeschriebene Grenze von sechzig Prozent überschreitet, spricht er das Offensichtliche aus. Die Ernennung von Christian Lindner zum deutschen Finanzminister, dem Vorsitzenden der neoliberalen Freien Demokraten und Gegner des Covid-Konjunkturpakets, deutet jedoch darauf hin, dass die deutsche Regierung die Lockerung der Regeln begrenzen will.
18. Gleichzeitig hat die Inflation in der EU 4,1 Prozent erreicht, und es herrscht Uneinigkeit darüber, wann die Zinssätze erhöht werden sollen. Dies würde die Kosten der Verschuldung für Unternehmen und Bevölkerung erhöhen und die Wirtschaftskrise verschärfen, insbesondere in den schwächeren Ländern der Eurozone. Die Inflation hat jedoch in Deutschland fast sechs Prozent erreicht, was den Druck zum Handeln erhöht.
19. Die EU steht auch vor dem Dilemma, wann sie das derzeitige Ankaufprogramm für Staatsanleihen der EZB beenden soll. Es soll im Frühjahr 2022 auslaufen, doch könnte dies dazu führen, dass sich eine Kluft zwischen deutschen und riskanteren italienischen und spanischen Anleihen auftut. Dies ist eine der zahlreichen möglichen Entwicklungen, die eine neue Staatsschuldenkrise auslösen könnten, die möglicherweise Italien und/oder Spanien betrifft. Als dritt- und fünftgrößte Volkswirtschaften in der EU würde dies die griechische Staatsschuldenkrise in den Schatten stellen. Die im EU-Rettungspaket vereinbarten Summen wären völlig unzureichend, um ein solches Szenario zu bewältigen. Zwar läge es eindeutig im Interesse des deutschen Imperialismus, die Eurozone aufrechtzuerhalten, doch könnte dies vor dem Hintergrund einer neuen Stufe einer ganz Europa umfassenden Wirtschaftskrise nicht unbedingt möglich sein. Eine deutsche Regierung, die sich dafür einsetzte, riesige Summen für die Rettung der Eurozone auszugeben, während die deutschen Arbeiter*innen beispielsweise mit Massenarbeitslosigkeit konfrontiert wären, würde mit massiver Revolte und einem Regierungssturz rechnen müssen. Das Gleiche würde für Frankreich gelten.
20. Bei der Darstellung der Gefahren für die Eurozone hat die EZB die berühmt-berüchtigte Bemerkung des Ökonomen Alan Greenspan über “irrationalen Überschwang” aufgegriffen und auf die Gefahren der enormen Verschuldung von Unternehmen und Staaten hingewiesen, aber auch auf Blasen in weiten Teilen der Immobilien-, Schulden- und Kryptowährungsmärkte, die sie “zunehmend anfällig für Korrekturen” machen, die durch eine “schwächer als erwartete Markterholung” oder eine “erneute Verschärfung des Stresses im nichtfinanziellen Unternehmenssektor” ausgelöst werden könnten. All diese Gefahren werden durch die aktuelle Pandemiewelle verschärft, werden aber nicht verschwinden, wenn die Pandemie in den Hintergrund tritt.
Aufschwung im Klassenkampf
21. Aber auch vor einer neuen Phase der Wirtschaftskrise spürt die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse wenig von der Erholung. Während der Pandemie hat sich Wut angestaut, ebenso wie ein gewisses gesteigertes Bewusstsein für die kollektive Macht der Arbeiter*innenklasse, die für das Funktionieren der Gesellschaft “essentiell” ist. Diese Grundstimmung wird nun durch die Inflation, die schneller steigt als die Löhne, angeheizt und führt in einer Reihe von Ländern zu einer Zunahme militanter gewerkschaftlicher Kämpfe. In einigen Ländern sind die Pandemie-Hilfspakete teilweise noch in Kraft, und ihre Rücknahme könnte ebenfalls zu Kämpfen führen. Die kapitalistischen Regierungen können zumindest teilweise die Stürme des Klassenkampfes erahnen, die auf den ganzen Kontinent zukommen werden. Viele versuchen, sich mit neuen repressiven Gesetzen darauf vorzubereiten, indem sie zum Beispiel versuchen, das Recht zu protestieren einzuschränken.
22. In Italien fand im Oktober ein 24-stündiger Generalstreik gegen die Lohn- und Rentenpolitik der Regierung sowie gegen die Aufhebung des während der Pandemie geltenden Entlassungsverbots statt. Die Besetzung des GKN-Werks in Florenz als Reaktion auf die drohende Schließung, bei der Zehntausende zur Unterstützung der Besetzenden demonstrierten, ist ein weiteres Zeichen für eine neue Phase des Kampfes in Italien. In anderen Ländern sind die Streiks zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Allgemeinen lokaler und/oder sektoraler Natur, was in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass die rechte Gewerkschaftsführung keinerlei Initiative ergriffen hat, aber sie sind dennoch von Bedeutung. In Spanien war der neuntägige Streik der Metallarbeiter*innen von Cadiz mit brutaler Polizeigewalt verbunden, wobei die Regierung sogar den Einsatz ausgemusterter Panzer gegen die Streikenden genehmigte. In fast allen Ländern fordern Arbeiter*innen in verschiedenen Sektoren, häufig angeführt von den Transportarbeiter*innen, Lohnerhöhungen. Dazu gehören Lehrer*innen in Ungarn, Kindergartenpädagog*innen in Österreich, Eisenbahnbeschäftigte in Frankreich und viele mehr. In Belgien haben sogar Polizeikräfte Massenproteste für Löhne und Renten organisiert. In Britannien spiegelt die Wahl von Sharon Graham zur Generalsekretärin der Unite die zunehmende Militanz auf betrieblicher Ebene wider, die durch ihre Wahl noch weiter angeheizt wurde. Die Gewerkschaft ist derzeit an mehr als 50 laufenden Konflikten beteiligt. Diese Stimmung war auch ein Faktor in der Wahl von CWI-Mitglied Carmel Gates zur Generalsekretärin der größten Gewerkschaft des öffentlichen Sektors in Nordirland, NIPSA.
Gescheiterte “neue” Formationen
23. Diese Schritte in Richtung eines verallgemeinerten Kampfes in den Betrieben finden jedoch vor dem Hintergrund der extremen Schwäche oder des völligen Fehlens linker Massenformationen statt. Die “neuen Formationen” der Ära nach 2007 haben sich als völlig mangelhaft erwiesen. Im Allgemeinen haben ihre sehr begrenzten Programme und das Fehlen einer aktiven Beteiligung der Arbeiter*innenklasse dazu geführt, dass sie angesichts der Angriffe der Kapitalist*innenen schnell nachgegeben oder die Bewegung betrogen haben. In einigen Ländern kann dies dazu führen, dass sich einige wichtige kämpferische Teile der Arbeiter*innenklasse vorübergehend von der politischen Bühne abwenden, weil sie sie als “zu schwierig” empfinden.
24. In Britannien wurde der Corbynismus innerhalb der Labour-Partei entschieden besiegt und die Führung der blairistischen Rechten unter Keir Starmer gefestigt. Linke Aktivist*innen werden zu Tausenden aus der Labour-Partei ausgeschlossen, und Jeremy Corbyn selbst darf nicht als Labour-Abgeordneter fungieren. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse hat sich eine kleinere Gewerkschaft, die Bäcker*innengewerkschaft, von der Labour Party losgesagt. Unite, die größte an Labour angeschlossene Gewerkschaft, hat einen Antrag verabschiedet, in dem die Stadträt*innen aufgefordert werden, Haushalte zu unterstützen, die keine Kürzungen enthalten und Sharon Graham spricht von der Notwendigkeit einer “Arbeiter*innenpolitik”. Möglicherweise eröffnet dies den Weg für Unite und andere Gewerkschaftsaktivist*innen, mit einem Anti-Kürzungsprogramm zu den Wahlen anzutreten, wofür wir uns einsetzen. Im Moment gibt es jedoch außer uns und anderen in TUSC keine ernstzunehmende Kraft in der Arbeiter*innenbewegung, die sich auf die Wahlebene begibt.
25. In Spanien wurde mit dem Eintritt von “Podemos” in die Regierung als Juniorpartner der PSOE – anstatt diese als Minderheitsregierung an die Macht kommen zu lassen – der Rubikon überschritten. Dies hat zu enormen Rückschlägen bei den Wahlen für Podemos geführt. Podemos wird von den Massen nicht mehr als Opposition zum “Establishment” gesehen, sondern als Teil davon. In Portugal haben der Linksblock (BE) und die Kommunistische Partei (PCP) ähnliche Fehler begangen, und zwar nicht, weil sie die sozialdemokratische PSP an die Macht kommen ließen, sondern weil sie – obwohl sie sich nicht formell an der Regierung beteiligten – einen Pakt schlossen, der der Regierung Stabilität verlieh, ohne diese jedoch zu zwingen, den Angriff auf den Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse zu stoppen. Anschließend stützten sie die Regierung weiter, während diese mit gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen gegen eine Reihe von Streiks vorging. Infolgedessen wurden beide Parteien von denjenigen bestraft, die sie zuvor gewählt hatten. Als Reaktion auf den Druck von unten und eine Streikwelle, die Portugal überrollte, stimmten der BE und die PCP dann nicht für den Haushalt der PSP, was zum Sturz der Regierung führte. Hätten sie daraufhin eine Einheitsfront gebildet, mit einem sozialistischen Programm, das mit der Notwendigkeit massiver gewerkschaftlicher Kampfmaßnahmen gegen die Sparpolitik verbunden wäre, hätten sie wichtige Schritte nach vorne machen können. Dies ist jedoch nicht der Ansatz, den sie verfolgt haben und sie haben bei den Parlamentswahlen weitere Stimmenverluste erleiden werden.
26. In Frankreich hat Mélenchon “La France Insoumise” nicht zu einer demokratisch strukturierten Partei entwickelt, die mit Massenkämpfen verbunden ist und sich auf die Arbeiter*innenklasse stützt. Stattdessen bleibt sie eine top-down Organisation, die sich überwiegend auf seine Rolle als Einzelperson konzentriert. Bei den Präsidentschaftswahlen tritt er unter dem Namen einer neuen Organisation, der “L‘Union Populaire”, an. Dennoch liegt Mélenchon in den Meinungsumfragen für die Präsidentschaftswahlen derzeit bei etwa zehn Prozent, und wenn er eine kämpferische, auf die Arbeiter*innenklasse ausgerichtete Kampagne führt, ist es möglich, dass seine Stimmenzahl jene sieben Millionen übersteigt, die er 2017 vor allem in Arbeiter*innenbezirken erhielt. So könnte Mélenchon sogar die derzeit dominierenden Kandidat*innen der Rechten schlagen und es in die zweite Runde schaffen. Dies wiederum würde die Notwendigkeit einer Arbeiter*innenpartei in einer wichtigen Schicht der Arbeiter*innenklasse aufwerfen. Dass die Linke das Potenzial hat, bei Wahlen einen Durchbruch zu erzielen, zeigt auch der Erfolg einer “Podemos-ähnlichen” Formation in Kroatien, Mozemo, die 2019 gegründet wurde. Ihr Kandidat gewann im Mai 2021 das Amt des Bürgermeisters von Zagreb, aber es ist nicht klar, welchen Charakter ihre soziale Basis hat und ob sie aus den grundlegenden Fehlern der Podemos-Führung gelernt haben.
27. “Die Linke” hat völlig darin versagt, die wachsende Wut auf das kapitalistische Establishment in Deutschland zu nutzen; sie hat bei der Bundestagswahl fast die Hälfte ihrer Stimmen verloren und hat den Einzug ins Parlament nur knapp geschafft, wobei sie unter die 5Prozent-Hürde fiel. In der nächsten Periode könnte es zu Spaltungen in der Partei Die Linke kommen. Im Allgemeinen ist es unwahrscheinlich, dass diese Formationen als direkte Vorläufer für die Entwicklung neuer Massenarbeiter*innenparteien fungieren. Neue Kräfte, die aus den bevorstehenden massiven Klassenkämpfen entstehen können, werden die Hauptantriebskraft für diese Formationen sein. Wir können zwar nicht vorhersagen, wie schnell sich neue Formationen entwickeln werden, aber wir müssen uns darauf einstellen, dass der Prozess sehr schnell vonstatten gehen kann, sobald die Arbeiter*innenklasse eine praktikable Möglichkeit sieht, auf politischer Ebene für ihre Interessen zu kämpfen. So wie Syriza in Griechenland innerhalb von sechs Jahren von 4,6 Prozent der Stimmen zum Sieg bei den Parlamentswahlen gekommen ist, können neue Parteien sehr schnell den Durchbruch schaffen. Da einige von ihnen Lehren aus dem letzten Jahrzehnt ziehen werden, werden diese dazu tendieren eine bessere Ausgangsposition zu haben als die “neuen Formationen” der ersten Welle. Es ist natürlichmöglich, dass einige der an der ersten Welle Beteiligten eine Rolle bei der Entwicklung der neuen Formationen spielen werden. Es ist auch nicht falsch, in einigen Fällen in bestehenden Formationen zu intervenieren, während wir unser eigenes unabhängiges Programm und Profil beibehalten. Selbst wenn eine bestehende Formation eindeutig im Niedergang begriffen ist, kann dies in einigen Fällen taktisch richtig sein, wenn es dazu beiträgt, unser Profil zu schärfen und einen breiteren Kreis von Beschäftigten und jungen Menschen zu erreichen.
“Alte Waffen” wieder aufgreifen
28. Eines der Merkmale dieser Periode ist, dass die Arbeiter*innenklasse auf der Suche nach Mitteln, um ihre Wut über die bestehende Ordnung auszudrücken, vorübergehend auf der Wahlebene zu allen möglichen “Waffen” greifen kann. Das bedeutet, dass, wenn es ihnen gelingt, sich trotz ihrer geringen Verwurzelung am Leben zu erhalten, nicht ausgeschlossen werden kann, dass verschiedene neue “linke” Formationen in Zukunft auf der Wahlebene wieder “auferstehen”, auch wenn sie die Arbeiter*innenklasse in ihren Regierungsbeteiligungen verraten haben. Dies ist jedoch nicht dasselbe wie eine Entwicklung als Kampfparteien der Arbeiter*innenklasse.
29. Es fällt auf, dass in einigen Ländern die kommunistischen Parteien, die im Allgemeinen eine stärkere Basis in der Arbeiter*innenklasse haben als die “neuen linken Formationen”, einen gewissen Zuwachs an Stimmen bei Wahlen verzeichnen konnten. Bei den Kommunalwahlen 2021 in der zweitgrößten Stadt Österreichs, Graz, erreichten sie mit 29 Prozent der Stimmen den ersten Platz. In Griechenland scheint die KKE, die eine gewisse Basis in der Arbeiter*innenklasse aufrecht erhalten konnte, aber eine stark sektiererische Haltung hatte, nun offener für die Zusammenarbeit mit anderen in der Arbeiter*innenbewegung zu werden.
30. In Belgien hat die aus dem Maoismus hervorgegangene PTB (“Arbeiter*innenpartei”) 2019 landesweit 8,6 Prozent und in Wallonien 13,8 Prozent der Stimmen erhalten. Sie hat jetzt mehr als 150 gewählte Vertreter, darunter zwölf im Bundesparlament. Trotz ihrer politischen Schwächen, einschließlich einer undemokratischen Top-Down-Struktur, könnte die PTB weitere Schritte nach vorne machen, da sie eine Pro-Arbeiter*innen-Rhetorik vertritt, die einzige zweisprachige Partei im Parlament ist und zusammen mit der extremen Rechten eine der wenigen Parteien ist, die nicht Teil der aktuellen Koalitionsregierung ist. Der Economist kommentierte, dass “unzufriedene Wähler*innen in strukturschwachen Regionen in ganz Europa Futter für die radikale Rechte waren”, dass aber die “geschickte Politik” der PTB “diesen Trend umgedreht und Wähler*innen auf die andere Seite gezogen hat”. Als ernsthafte trotzkistische Kraft die in Belgien aufzubauen versucht, müsste man Forderungen an die PTB stellen. Diejenigen, die sich bei der Spaltung 2019 von uns getrennt haben, scheinen jedoch die “Strategie” zu verfolgen, so zu tun, als gäbe es die PTB nicht, und haben keinen systematischen Zugang zu jenen, die sich von ihr angezogen fühlen. Außerdem erreichte die Kommunistische Partei Österreichs bei den Kommunalwahlen 2021 in der zweitgrößten Stadt Österreichs, Graz, mit 29 Prozent der Stimmen den ersten Platz. Die Kommunistische Partei scheint ihre Unterstützung durch Kampagnen auf lokaler Ebene und durch die Tatsache, dass ihre Stadträte nur einen Arbeiter*innenlohn beziehen, aufgebaut zu haben. Ein Novum in dieser Ära ist auch, dass fast ein Drittel der Wähler*innen bereit war, für kommunistische Kandidat*innen zu stimmen.
31. Angesichts der schwachen Basis aller etablierten Parteien müssen wir auf alle Möglichkeiten auf der Wahlebene vorbereitet sein. Zurzeit erleben die sozialdemokratischen Parteien in einer Reihe von Ländern ein gewisses Wiederaufleben bei Wahlen. Meistens, wie in Deutschland, wo die SPD ihr drittschlechtestes Ergebnis in der Geschichte erzielt hat, obwohl sie die Wahl “gewonnen” hat, ist dies das Ergebnis eines Rückgangs der Stimmen für die traditionellen Parteien des Kapitalismus und nicht eines dramatischen Anstiegs für die sozialdemokratischen Parteien. Nichtsdestotrotz wird es in der ersten Phase neuer sozialdemokratisch geführter Regierungen in Teilen der Arbeiter*innenklasse zwangsläufig Hoffnungen geben, dass die Dinge “besser werden”. Diese Hoffnungen werden jedoch nur oberflächlich sein und sich relativ schnell zerschlagen. In einigen Fällen werden die sozialdemokratischen Parteien zuverlässigere Vertreterinnen der Interessen der Kapitalist*innenklasse sein als die zunehmend geschwächten und gespaltenen Kräfte der traditionellen kapitalistischen Parteien. Es ist auch auffällig, dass die Grünen, die in den letzten Jahrzehnten oft eine miese Rolle in den Regierungen gespielt haben, in einer Reihe von Ländern einen neuen Aufschwung erleben, der durch den Wunsch nach Maßnahmen gegen den Klimawandel angeheizt wird. Sie sind jetzt Teil von Koalitionsregierungen in Deutschland, Irland, Österreich, Belgien, Finnland und Luxemburg, manchmal mit offen rechtsgerichteten Parteien. Das unvermeidliche Ergebnis wird sein, dass alle Illusionen zerschlagen werden, dass sie eine linke Alternative zu den etablierten Parteien darstellen oder dass sie in der Lage sind, wirksame Maßnahmen zur Bewältigung der Klimakrise zu ergreifen.
Rechtspopulismus
32. Der andere Weg, den Teile der Arbeiter*innen- und Mittelklassen bei Wahlen nutzen, um ihre Wut auszudrücken, sind natürlich rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte. Die rechtsextremen “Brüder Italiens”, die offen die Herrschaft Mussolinis feiern, haben die Lega in den Meinungsumfragen inzwischen überholt, was teilweise auf die Unterstützung der Lega für die Regierung Draghis zurückzuführen ist. In Frankreich liegt der neoliberale, ultrarassistische Talkshow-Moderator Zemmour in einigen Umfragen für die Präsidentschaftswahlen knapp hinter Le Pen, wobei beide zwischen 15-20 Prozent der Stimmen erhalten. Auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine*r von beiden die Präsidentschaftswahlen gewinnt. Überall auf dem Kontinent gibt es angesichts des Vakuums auf der Linken und des Bankrotts der großen kapitalistischen Parteien Raum für die Entwicklung rechtspopulistischer Kräfte. In Britannien zum Beispiel, einem der wenigen Länder, in dem es derzeit keine nennenswerte Formation dieser Art gibt, liegt das nur daran, dass dies vorübergehend in der Unterstützung des Johnson-Flügels der Tory-Partei aufgegangen ist. In dem Maße, wie die Wut über Johnsons Versagen darin den Lebensstandard in ärmeren Arbeiter*innengemeinden zu erhöhen, wächst, werden neue rechte Formationen entstehen.
33. Im Allgemeinen sind rechtsextreme Gruppierungen nach wie vor hauptsächlich auf die Wahlebene beschränkt. Dennoch hat ihr Wachstum und jenes des Rechtspopulismus in einigen Ländern faschistischen Banden Auftrieb gegeben und zu einem gewissen Wachstum rechtsextremer Aktivist*innen bei Polizei und Militär geführt. Auch rassistische Übergriffe und rechtsextreme Terroranschläge haben zugenommen, wobei letztere in der Regel von “einsamen Wölfen” verübt werden. Gleichzeitig ist die antirassistische Stimmung der Mehrheit, insbesondere der jungen Menschen, gewachsen, wie die massenhafte Unterstützung der BLM-Bewegung im Jahr 2020 gezeigt hat. Wenn sich Massenbewegungen der Arbeiter*innenklasse entwickeln, werden die Rechtspopulist*innen tendenziell zurückgedrängt. Dennoch können und werden sie angesichts des Fehlens von Massenarbeiter*innenparteien mit kämpferischen Programmen in dieser Phase wieder auftauchen.
34. In Osteuropa sind rechtsnationalistische Kräfte in Polen und Ungarn an der Macht, und gewinnen in einigen anderen Ländern an Unterstützung. In Estland beispielsweise liegen die nationalistischen Rechtspopulist*innen in Meinungsumfragen zum ersten Mal vorn. In Polen konnte die Partei “Recht und Gerechtigkeit” (PiS) die Parlamentswahlen 2020 unter anderem deshalb gewinnen, weil sie der Arbeiter*innenklasse während ihrer ersten Regierung ein paar Brosamen zukommen ließ, darunter die Senkung des Rentenalters, die Erhöhung des Mindestlohns und die Einführung eines Kindergeldes. Gleichzeitig wurde der Nationalismus geschürt, die Repression verschärft und die Rechte von Frauen und LGBTQ-Personen angegriffen. Als die PiS-Regierung in Polen 2016 zum ersten Mal versuchte, die bereits extrem eingeschränkten Abtreibungsrechte anzugreifen, wurde sie durch eine Massenbewegung zum Rückzug gezwungen. Jetzt hat sie ein praktisch vollständiges Verbot des Rechts auf Abtreibung durchgesetzt.
Schlussfolgerung
35. Wir treten in eine Periode ein, die eine Reihe von Komplikationen mit sich bringt, insbesondere das Fehlen von Massenarbeiter*innenparteien und den anhaltende Raum für Rechtspopulismus. Es wäre jedoch ein schwerer Fehler, diese Komplikationen als die wichtigsten Merkmale der Ära zu betrachten, in die wir eintreten. Was im Mittelpunkt stehen wird, sind die Krisen des Kapitalismus und die Massenkämpfe, die sich als Reaktion darauf entwickeln werden. Unter den Hammerschlägen der Erfahrung seit 2007/8 hat das Verständnis breiter Teile der Arbeiter*innenklasse im Vergleich zu der Zeit nach dem Zusammenbruch des Stalinismus bereits große Fortschritte gemacht. Vor dem Hintergrund der Pandemie hat eine weitere Radikalisierung stattgefunden, auch wenn sie noch nicht voll zum Vorschein gekommen ist. Die kommenden Ereignisse werden wesentlich größere Sprünge nach vorne bringen und die Möglichkeit bieten, starke Sektionen des CWI auf dem Kontinent aufzubauen, auf dem wir unseren Aufbau begonnen haben.