In Gedenken an Erasmus Schöfer (1931 – 2022)

Ein großer Literat und Kämpfer ist gegangen

Am heutigen 7. Juni ist Erasmus Schöfer wenige Tage nach seiner 91. Geburtstag verstorben. Schöfer war Autor der „Kinder des Sisyfos“-Romantetralogie, Mitbegründer des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und Zeit seines Lebens sozialistischer Aktivist.

In Gedenken an Erasmus Schöfer veröffentlichen wir hier einen Artikel anlässlich seines 80. Geburtstags und mehrere Rezensionen seiner Bücher von Sascha Staničić, Bundessprecher der Sol

Der Vater der „Kinder des Sisyfos“

Erasmus Schöfer zum Achtzigsten (4. JUNI 2011)

Als ich dem in Köln lebenden Schriftsteller Erasmus Schöfer einmal einen Glückwunsch zum Geburtstag schickte, antwortete er mir mit einer Beschwerde. Wieso ich ihm nicht zu etwas gratuliere, was er vollbracht hat. Heute gratuliere ich ihm zu seinem achtzigsten Geburtstag – und zu der Leistung Achtzig zu werden und sich so viel Originalität, Kreativität, Offenheit und vor allem den Geist der Rebellion erhalten zu haben.

von Sascha Staničić

Schöfer wurde am 4. Juni 1931 in der Nähe Berlins geboren, hat als Kind Faschismus und Krieg miterleben müssen. Er ist Doktor der Philosophie, Arbeiter, Literat und politischer Aktivist. Seit 1962 hat er als freier Schriftsteller Theaterstücke, Hörspiele, Gedichte, Romane, Artikel verfasst. 1969 war er Mitbegründer des „Werkkreises Literatur der Arbeitswelt“. Dieser entstand aus der Schriftstellervereinigung „Gruppe 61“ und versuchte Literatur zu fördern, die sich mit der Arbeitswelt und der Arbeiterbewegung auseinander setzte und vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter selbst zu Wort kommen ließ. Arbeiterinnen und Arbeiter sollten selber als Schriftsteller agieren. Der Werkkreis veröffentlichte circa sechzig verschiedene Bände und erreichte eine Auflage von über einer Million Exemplare. Schöfer war in der Anfangszeit sein Sprecher und einer der entscheidende Köpfe. Bis zu 500 Mitglieder hatte er in seinen besten Zeiten und veröffentlichte sowohl Reportagen aus der Arbeitswelt („Ein Baukran stürzt um. Berichte aus der Arbeitswelt“) und Texte über die Geschichte der Arbeiterbewegung („Der rote Großvater erzählt“).

Schöfer war immer ein engagierter Schriftsteller, der gesellschaftliche Verhältnisse darstellt, kritisiert und zum Tanzen bringen will. Er war auch viele Jahre in der DKP, aber, wie er selbst sagt, „nie ein parteihöriger Schriftsteller.“

Werner Jung schreibt in seinem Nachwort zum kürzlich erschienen Sammelband „Diesseits von Gut und Böse“, in dem Artikel Schöfers aus fünf Jahrzehnten zusammengefasst wurden: „Die verbindende Klammer im Schaffen des Schriftstellers Erasmus Schöfer besteht darin, dass dieser Autor stets Literatur in der Bewegung und zugleich in Bewegung verfasst hat.“

Jung zitiert Schöfer auch mit dem Satz „Der realistische Schriftsteller versucht Typisches im Individuellen zu treffen.“ Das ist ihm in seinem Meisterwerk, der Romantetralogie „Die Kinder des Sisyfos“ einzigartig gelungen. In den zwischen 2001 und 2008 erschienen vier Romanbänden zeichnet Schöfer auf über zweitausend Seiten anhand des Lebensverlaufs seiner ProtagonistInnen die Geschichte der westdeutschen Linken von 1968 bis 1989 nach. Darin erweckt er nicht nur wichtige Kämpfe und Bewegungen wieder zum Leben – unter anderem die APO, den Widerstand gegen das Kernkraftwerk Whyl, die Kämpfe für den Erhalt der Glashütte Süßmuth und des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen – , er zeichnet auch Debatten und Auseinandersetzungen innerhalb der Linken nach. Beispielhaft in den Diskussionen zwischen zwei seiner Hauptfiguren, dem DKP-Mitglied Viktor Bliss und dem eher spontaneistisch veranlagten Gewerkschafter Manfred Anklam, im dritten Band „Sonnenflucht“, der im wesentlichen in Griechenland spielt und auch einen tiefen Einblick in die griechische Gesellschaft und Arbeiterbewegung gibt.

„Die Kinder des Sisyfos“ sind ein besonderes Stück Literatur. Zumindest mir ist kein vergleichbares Werk bekannt, das für die von Schöfer behandelte Thematik die Bezeichnung „bedeutendes literarisches Geschichtsbuch“ (sein Verleger Volker Dittrich) verdient hätte. Bedeutend daran ist auch, dass es sich nicht um eine reine Rückschau handelt, sondern dass Schöfers Empörung über die herrschenden Verhältnisse in jeder Zeile spürbar ist und diese Empörung geradezu dazu aufruft, es seinen ProtagonistInnen gleich zu tun und gegen diese Verhältnisse zu rebellieren. Dittrich sagt dazu, dass diese Romane heutigen AktivistInnen die Möglichkeit geben, „auf diese Erfahrungen zurückzugreifen, sich daran zu orientieren und sie für ihr eigenes Handeln nutzbar zu machen.“

Der Sisyfos-Mythos ist dabei nicht pessimistisch zu interpretieren. Schöfer sagte selber dazu: „Mir geht es bei dem Sisyfos-Mythos nicht um die Vergeblichkeit, sondern um die Beständigkeit in dem Versuch, den Stein auf den Berg zu bringen und sich nicht entmutigen zu lassen.“ Angesichts des Atom-GAUs in Fukushima, der zunehmenden Verarmung breiter Teile der Arbeiterklasse auch in den entwickelten kapitalistischen Staaten und der sich seit 2007 entwickelnden kapitalistischen Weltkrise ist ein solcher Aufruf gegen Entmutigung dringender denn je. Und angesichts der unzähligen Massenkämpfe der ArbeiterInnen, Armen und Jugendlichen, wie wir sie aktuell in Südeuropa sehen, ist es unerlässlich, die Erfahrungen vergangener Generationen und ihrer Kämpfe gegen den Kapitalismus der heutigen Generation zugänglich zu machen. Schöfers „Kinder des Sisyfos“ sind dazu ein wichtiger Beitrag. Dass sie auch eine literarische Freude sind, spannend wie ein guter „Tatort“ und eine eigenwillige Sprache verwenden, der es gelingt das Innerste der ProtagonistInnen nachempfindbar zu machen, machen aus den vier Bänden große Literatur.

Die großen Verlage haben eine Veröffentlichung der Sisyfos-Tetralogie abgelehnt. Auch darin drückt sich der Klassencharakter dieser Gesellschaft aus. Ein Sarrazin bekommt Vorabdrucke seiner rassistischen Hetztiraden in SPIEGEL und BILD und wird in einem großen Verlag aufgelegt. Dann ist es nicht schwer, eine Millionenauflage zu erreichen. Ein Schöfer baut auf linken Kongressen selber kleine Büchertische auf und bewirbt seine Bücher. Bei einem solchen Kongress drückte er mir einen Werbezettel für den ersten Band „Ein Frühling irrer Hoffnungen“ in die Hand, der mein Interesse weckte. Ich las das Buch und schrieb eine Besprechung dazu, in der Hoffnung, so einen kleinen Beitrag zur Verbreitung zu leisten. Irgendwann erhielt ich einen Anruf des Autors, der über meine Rezension gestolpert war und wissen wollte, wer da auf einer marxistischen Webseite begeistert, aber nicht unkritisch, über seinen Roman schrieb. Ich habe seitdem das Glück gehabt, ihn etwas kennen zu lernen. Dass der Autor den Rezensenten kontaktiert, sagt auch etwas über den Menschen Schöfer aus, der einem trotz Altersunterschied auf gleicher Augenhöhe begegnet. Sein ehrliches Interesse an den Meinungen anderer, seine Offenheit und auch seine Fähigkeit sich leidenschaftlich auseinanderzusetzen, haben mich beeindruckt.

Also: Herzlichen Glückwunsch zum Achtzigsten, Erasmus! Hoffen wir, dass die Kinder des Sisyfos immer mehr werden!

Erasmus Schöfer – Das neue Wort

Aus dem 1982 erschienenen Gedichtband „Zeit-Gedichte“ über die Militärdiktatur in Chile

Sohn,

du hast ein neues Wort gelernt:

Chile.

Nicht aus der Schule

kommst du mit der Frage.

Du hörtest mich zu deiner Mutter sagen:

Chile –

und fragst, warum ich das so sage

wie damals:

Angela –

mit dieser Stimme.

Wie so oft:

Vietnam –

mit dem finstern Gesicht,

sagst du.

Chile ist ein Land,

das liegt so weit wie Vietnam.

Und Chile heißt,

dass unser Hauswirt bei der Polizei anruft:

Hier wohnen Kommunisten!

Im Morgendämmern

halten Jeeps vor unserm Haus,

kommen zehn Soldaten in grauen Uniformen,

klingeln nicht, brechen die Tür auf,

stehn an deinem Bett,

Maschinenpistolen, die sind kälter

als die Plastikdinger deiner Freunde,

stehn an deinem Bett,

fragen nach deinem Vater und du hörst sie sagen nebenan:

Hände hoch! Keine Bewegung!

Doch das ist kein Spiel.

Vor ihren schwarz glänzenden Läufen

geht dein Vater zu den Jeeps,

die Nachbarn schauen aus den Fenstern

und deine Mutter

nimmt dich in den Arm

und weint nicht.

Später sagt sie dir,

ich sei mit sehr vielen Freunden

im Stadion des 1. FC Köln.

Bald werden wir ihm Essen bringen

und etwas Warmes für die Nacht!

Zusammen packt ihr einen Koffer.

Das ist Chile.

Chile heißt auch,

dass der Hauswirt mittags wieder anruft

bei der Polizei:

Die Mutter ist nicht besser als der Mann

und eine rote Hure!

Abends schon kommen Zivilisten,

Gummiknüppel und Pistolen in den Gürteln,

die lachen diesmal, sind besoffen,

reißen deiner Mutter die Kleider ab,

stoßen sie auf den blauen Teppich

und stechen die Schwänze in ihren Leib

wie Messer,

dass sie schreit und schlägt.

Aber die Männer lachen nur.

Sie gehen durch die Zimmer,

schmeißen Bücher von den Borden,

auch deine: Rotfuchs, Spartakus der Sklavenfeldherr,

machen damit Feuer an im Hof,

obwohl es warm ist.

Sie werfen die Möbel um,

in denen du gewohnt hast,

und scheißen in die Küche –

auf das abgerissne Lenin-Bild.

Die Mutter stoßen sie in unser Auto,

du willst mit ihr,

doch sie schlagen dir ins Gesicht

und fahren ab. Du stehst vor unserm Haus, allein,

und diesmal schaut kein Nachbar

aus dem Fenster. Das, mein Sohn, ist Chile.

Und Chile heißt,

dass nachts Herr Müller

aus dem Nachbarhaus

durch die zerbrochne Tür kommt,

in allen Zimmern hast Du Licht gelassen aus Angst,

steigt über Scherben und Möbeltrümmer

an dein Bett,

wo du angezogen nicht schläfst

auf deinen nassen Kissen.

Er streicht dir übers Haar.

Nimmt deinen Bären, deinen Legokasten

und dich mit durch den Garten in sein Haus.

Am Morgen fragt er dich nach unsern Freunden

und bringt dich

zur Familie Zimmermann ins Vorgebirge.

Du siehst die Panzer in den Straßen,

Soldaten, hörst Schüsse, Männer

liegen auf dem Boden, Blut, verbrannte Bücher.

Und du hast viele Tage schulfrei.

Aber die Kinder dürfen nicht mehr

mit dir spielen.

Das ist Chile.

Später sagt der Doktor Zimmermann,

dein Vater sei schwer krank

und deine Mutter weit verreist –

du glaubst es fast,

denn er ist Arzt.

Noch später hörst du sie im Nebenzimmer reden

über die Militärregierung

und hörst:

dein Vater sei erschossen worden

auf der Flucht

und deine Mutter im Gefängnis Ossendorf

weil sie in der Gewerkschaft

Funktionär gewesen ist und

hinter einer roten Fahne ging.

Chile, mein Sohn,

das gab es vor vierzig Jahren

hier bei uns in Deutschland

und kann es wieder geben,

wenn wir nicht wachsam sind

und lernen

aus den Erfahrungen der Sozialisten.

Wenn du jetzt weinst,

mein Sohn,

wie manchmal, als wir

abends dich allein ließen

wegen der Schulung

oder den Sonntagsausflug mit dir

durch die Kölner Straßen machten,

begleitet von viel Polizei und Wasserwerfern,

hörst du –

da haben wir geholfen,

Angela Davis zu befrein

und die Bomben aufzuhalten

gegen Vietnams Schulkinder!

Millionen deiner Eltern haben so

in USA, Laos, in Guinea und Italien

gekämpft gegen die Ausbeuter und Unterdrücker

für den Sozialismus

in dem nichts die Eltern daran hindern kann,

bei schönem Wetter mit ihren Kindern

sonntags ins Bad zu gehen.

Hast du das neue Wort verstanden, Sohn?

Hier nimm mein Taschentuch.

Kommst du nun morgen mit zur Kundgebung

für Chile?

Rezension: Winterdämmerung von Erasmus Schöfer, vierter Band der Reihe „Die Kinder des Sisyfos“

Für einen fünften Band! (27.8.2008)

Am Ende weht die rote Fahne über dem stillgelegten Gelände des Krupp-Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen. In der Silvesternacht 1989, heimlich gehisst von einem renitenten Arbeiter. Mit dieser Symbolik antwortet Erasmus Schöfer all denen, die in seiner Sisyfos-Metapher einen Pessimismus entdecken wollen. Denn pessimistisch ist das vierbändige Werk des 76-jährigen sicher nicht. Aber wenn es auch mit dem Festhalten an der Notwendigkeit der Veränderung der Gesellschaft endet, so doch ohne eine Vision dafür. Auch deshalb kommt der Rezensent nach der Lektüre von “Winterdämmerung” zu einer ungewöhnlichen Schlussfolgerung: für einen fünften Band der “Kinder des Sisyfos”!

von Sascha Staničić, Berlin

Schöfer schreibt über die Geschichte der westdeutschen Linken von 1968 bis 1989. Seine ProtagonistInnen kämpfen gegen Springer, gegen das AKW Whyl, sind bei Betriebsbesetzungen und Streiks dabei und in diesem vierten Band beim Kampf gegen die Startbahn West am Flughafen Frankfurt/Main und beim AufRuhr für den Erhalt des Krupp-Werks in Duisburg-Rheinhausen. Sie sind engagiert im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt (der tatsächlich von Schöfer mit begründet wurde), in der Gewerkschaft, der DKP, kulturell und in sozialen Bewegungen. Sie debattieren das Für und Wider des Sozialismus, der Partei. Sie stellen in Frage und suchen, kämpfend, nach Antworten.

Da ist Viktor Bliss: von Berufsverbot belegter DKP-Lehrer, der bei dem Versuch, Menschen aus einem Feuer zu retten, am ganzen Körper schwere Brandverletzungen davon trägt und im vierten Band den schweren Weg zurück ins Leben findet, unterstützt von seiner Enkelin Ann, die ihn aus den USA zum ersten Mal besucht. Da ist Armin Kolenda: Redakteur der DDR-nahen Demokratischen Zeitung und Mitarbeiter im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Und da ist Manfred Anklam: ex-trotzkistischer, etwas spontaneistischer Arbeiter, Gewerkschafter und Betriebsrat, der für einige Jahre die Karrieretreppe zum Werkleiter bei Krupp-Rheinhausen aufsteigt und dann zu einem führenden Kopf des Kampfes um den Erhalt des Werks wird (unschwer ist Helmut Laakman hier zu erkennen) und 1989 dann in die SPD eintritt. Hinzu kommen eine Reihe anderer Figuren, die andere Aspekte der Wirklichkeit der Linken in Deutschland repräsentieren sollen. Der Stoff ist reich an Figuren, Geschichten, Meinungsstreit und es ist unmöglich in einer Rezension dieser Länge allen Aspekten des Textes gerecht zu werden.

So nimmt die Geschichte des Gewerkschafters Sonnefeld einen großen Raum ein. Dieser ist ein kritischer und engagierter Redakteur einer gewerkschaftlichen Kulturzeitung, geschätzt von seinen KollegInnen und politischen MitstreiterInnen. Er beginnt eine neue Beziehung mit einer alleinerziehenden Mutter und scheint zum ersten Mal in seinem Leben privates Glück gefunden zu haben. Kurz bevor er mit seiner Partnerin und ihren zwei Kindern in ein gemeinsames Haus zieht – bringt er in einem nicht nachvollziehbaren Gewaltakt die Tochter seiner Freundin um. Kurze Zeit später nimmt er sich selber das Leben. Dieser Teil des Buches bewegt, wühlt auf und irritiert. Man fragt sich, ob auch diese Geschichte ein Teil realer Geschichte ist (und ja, es hat einen solchen Fall gegeben). Die Tat, die Reaktionen der Mutter des Opfers, die gleichzeitig den Mörder liebt(e), und des persönlichen wie politischen Umfelds des Täters ergreifen den Leser und stellen ihn vor die Frage: wie möglich ist das Unmögliche im Handeln von Menschen? Wie tief schlummern (auch) in gutmeinenden, ja nach aller Beurteilungsmöglichkeit guten und positiv engagierten, Menschen unerkennbare Abgründe? Und: kann man diesen Menschen dann noch als Menschen sehen und sich mit ihm als Menschen auseinandersetzen, oder gibt es nur noch den Täter?

SPD, DDR und DKP

Ein wichtiges und wiederkehrendes Thema ist die Entwicklung des sogenannten “real existierenden Sozialismus” und der diesen in der Bundesrepublik vertretenden Partei DKP. Dies ist logische Folge davon, dass das Verhältnis zur DDR für alle Linken in der Bundesrepublik eine Gretchenfrage war, drückt aber wahrscheinlich auch den autobiographischen Gehalt der Bücher aus, denn der Autor war, wie er selber betont kritisches, DKP-Mitglied.

Auch wenn das Buch kein Geschichtsbuch, sondern ein Roman ist, beschreibt es doch auch Geschichte und bietet Erklärungsmodelle für gesellschaftliche Entwicklungen an. Gerade für die in “Winterdämmerung” beschriebene Periode bis zum Zusammenbruch der stalinistischen Staaten und dem vermeintlichen Sieg des Kapitalismus, sehe ich Lücken in der politischen und historischen Seite von Schöfers Werk.

Wie schon in den ersten drei Bänden wird auch in diesem Band die SPD-Linke und vor allem der Jugendverband Jusos unterbelichtet. Es dominiert der Blick von DKP-Mitgliedern und anderen radikalen Linken auf die SPD, der zu selten zwischen bürgerlicher Führung und der damals noch bestehenden Massenbasis unter Lohnabhängigen unterscheidet. Linke, kämpferische Arbeiter, die trotzdem die SPD (kritisch) unterstützen kommen dementsprechend kaum vor. Es fällt auf, dass Schöfer weniger einfache ArbeiterInnen als SPD-UnterstützerInnen darstellt, sondern vielmehr Intellektuelle, die sich für Willy Brandts Ostpolitik begeisterten. Der Zustrom von 100.000 nach dem Sturz der sozialliberalen Koalition in die SPD und die in den folgenden Jahren einsetzende Linksverschiebung in der Partei wird gar nicht behandelt. Ob sich darin wieder spiegelt, dass die DKP und viele radikale Linke unfähig waren, sich zu den sozialdemokratisch orientierten Massen in eine Beziehung zu stellen und diese durch eine Politik der Einheitsfront für eine revolutionäre Perspektive zu gewinnen sei dahin gestellt… wobei hier das Problem auch darin besteht, dass die DKP eine solche revolutionäre Perspektive schon aufgegeben hatte, wie Schöfer auch deutlich macht. Aber auch darin, dass für einen Sozialismus à la DDR in der westdeutschen Arbeiterklasse kein Blumentopf zu gewinnen war.

Es fehlt dem Buch eine zutreffende Analyse der Frage, was der Stalinismus war und warum er scheiterte. Dieser erscheint den Hauptfiguren doch eher als Buch mit sieben Siegeln. So sagt Bliss an einer Stelle: „Auf Stalin habe ich keine Antwort. Außer Verzweiflung.“ Sein späterer Kampf für Gorbatschows Reformen und für eine Öffnung der DKP lässt jede Analyse der Gründe für den Bürokratismus vermissen und beklagt nur deren Symptome – bürokratischen Zentralismus, fehlende Diskussionskultur, Misstrauen etc. Da wird vom Kampf der Bürokraten gegen die Reformer in der Sowjetunion gesprochen und nicht erkannt, dass doch nur die einen Bürokraten gegen die anderen Bürokraten kämpften – mit dem Ziel begrenzte Reformen von oben durchzuführen, um eine Revolution von unten – die die Macht der Bürokratie hätte gefährden können – zu verhindern. Dass gerade diese vermeintlichen Reformer dann zu Steigbügelhaltern für die Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse in diesen Ländern wurden, wird leider auch kaum heraus gearbeitet. Kann man das von einem Roman erwarten? Ich denke ja, denn es handelt sich in gewisser Hinsicht um einen historischen Roman, der sich nicht auf die fiktive Darstellung der “Abenteuer” seiner ProtagonistInnen beschränkt, sondern durch die Erzählung kleiner, individueller Geschichte(n), auch große Geschichte schreibt und politische Erklärungsansätze anbietet. Dies hätte umfassender geschehen können, wenn es zum Beispiel einen linken Sozialdemokraten als Hauptfigur gegeben hätte und wenn ein Trotzkist eine Rolle spielen würde, durch die unter anderem die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus mehr analytischen Tiefgang hätte gewinnen können.

1989 als Ende oder Neuanfang?

Am Ende des Buches kommen die zentralen Hauptfiguren zusammen und diskutieren die Lage der Welt und den Zustand der Linken. Sie stellen ihre eigenen bisherigen Überzeugungen in Frage und öffnen sich für (für sie) neuen Ideen. Schöfer stellt hier viele der Gedankenprozesse und Debatten dar, die sich zum Ende der 80er Jahre unter vielen linken AktivistInnen vollzogen. Und es entspricht auch der Realität, wenn hier kleinbürgerliche, dem Klassenkampf fremde und unmarxistische Ideen im Mittelpunkt stehen: Viktor Bliss” Enkelin begeistert sich für die alternativen Lebenskonzepte der Kommune Kaufungen, bei anderen stehen Robert Jungks Ideen hoch im Kurs, der die Klassenfrage in eine Gattungsfrage auflöst und Manfred Anklam tritt Ende 1989 in die SPD ein und verabschiedet sich so von jeder revolutionären und klassenkämpferischen Perspektive und orientiert stattdessen auf Brandt und Lafontaine und eine sozialere Republik mittels einer SPD-geführten Bundesregierung.

Doch warum hält nicht eine der Hauptfiguren am Marxismus, der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse, der Notwendigkeit eines auf gesellschaftlichem Eigentum und demokratischer Planung basierenden Wirtschaftssystem fest? Warum drückt nicht eine Person die Perspektive aus, dass es zu einer Renaissance der Arbeiterbewegung, von Masenkämpfen, des Sozialismus, kommen wird? Sicher sahen das 1989 nicht viele so, aber es gab sie – nicht zuletzt die Trotzkisten. Solche Aussagen hätten eine Brücke zu den Kämpfen der Gegenwart bilden können.

Nebenbei bemerkt liegt Schöfer mit Anklams Eintritt in die SPD doch ziemlich daneben. Manfred Anklam ist in seiner “Krupp-Phase” an Helmut Laakmann angelehnt, einer der wichtigsten Führungsfiguren des Kampfes in Rheinhausen. Dieser trat tatsächlich in die SPD ein, aber nicht 1989, sondern mitten im Kampf 1987 und nicht aufgrund der SPD-Führung, sondern trotz der SPD-Führung. Und Ende 1989 ist kaum mehr jemand in die SPD eingetreten, Anklams Schritt repräsentiert also keine 1989 unter Linken reale Entwicklung.

Ein großes Werk

“Winterdämmerung” ist, trotz der in dieser Rezension in den Mittelpunkt gestellten Kritik an den politischen Aussagen, mehr als lesenswert, wie die gesamte Tetralogie Schöfers. Ihm ist ein großes Werk gelungen. Sicher keine vollständige Chronik der westdeutschen Linken, aber doch eine Darstellung, die den Leser und die Leserin die Kämpfe und das Denken der radikalen Linken in Westdeutschland besser verstehen lässt.

Schöfer lässt sein Werk im Jahr 1989 enden, dem Jahr, dass die größte Zäsur seit 1945 bedeutete. 1989 war der Tiefpunkt für die Linke und die Arbeiterbewegung. Ein Buch über die Geschichte der Linken in diesem Jahr enden zu lassen, läuft Gefahr, ob gewollt oder nicht, den Eindruck zu erwecken, dass danach nicht mehr viel gekommen ist. Seitdem sind 19 Jahre vergangen. Jahre, in denen der Sieg des Kapitalismus über DDR und Sowjetunion bewiesen hat, was eine kapitalistische dominierte Welt bedeutet: wachsende Armut und soziale Verwerfungen auch in den entwickelten kapitalistischen Ländern, steigende Umweltzerstörung, mehr und mehr Kriege. Aber auch Jahre, nach denen die Linke im Wiederaufbau begriffen ist, und das nicht entlang der Ideen, die am Ende des Buchs präsentiert werden. Sondern im Rahmen der globalisierungskritischen Bewegung, des lateinamerikanischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, großer betrieblicher und gewerkschaftlicher Kämpfe und des Wiederaufbaus neuer linker Parteien in vielen Ländern, wie in Deutschland der Partei DIE LINKE. Dies könnte der Stoff eines fünften Bandes sein. Dieser könnte zeigen, dass der rote Faden des Widerstands und des Sozialismus 1989 nicht vollständig gerissen wurde. Er könnte nicht nur einen Optimismus der Hoffnung verbreiten, wie dies am Ende von “Winterdämmerung” steht, sondern einen Optimismus der Tat – dem Eintritt von Hunderttausenden und Millionen in Kämpfe, Streiks, Massenbewegungen seit der Belagerung des WTO-Gipfels in Seattle 1999.

Buchtipp: “Unsichtbar lächelnd träumt er Befreiung” – Erasmus Schöfer unterwegs mit Sisyfos (14. JANUAR 2007)

 Zum 75. Geburtstag von Erasmus Schöfer ist im letzten Jahr im Dittrich Verlag ein Sammelband mit Texten von und über den Autor der Roman-Tetralogie „Die Kinder des Sisyfos“ erschienen. Für Leserinnen und Leser der drei bisher erschienen Bände dieser Romanreihe, die eine Geschichte der bundesdeutschen Linken zwischen 1968 und 1989 darstellt, sind die Texte ein wichtiger Beitrag um Autor und Werk besser zu verstehen.

von Sascha Staničić

Schöfer ist und war Zeit seines Lebens Literat und politischer Aktivist und hat beides verbunden, wie kaum ein anderer. Wie Günter Wallraff in einem in dem Buch abgedruckten Gespräch mit Schöfer sagt, hätte es den Werkkreis Literatur und Arbeitswelt ohne Schöfer nicht gegeben. Wallraff bezeichnet Schöfer als spiritus rector, Kopf, Geburtshelfer und hauptverantwortlichen Organisator des Werkkreises, der bis in die 80er Jahre hinein im Fischer Taschenbuch Verlag ca. sechzig Bände in millionenfacher Auflage veröffentlichte, die sich mit der Arbeiterbewegung und der Arbeitswelt befassten und vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter selber zu Wort kommen ließen. Da wurden Streikberichte genauso veröffentlicht, wie die unter dem Titel „Der rote Großvater erzählt“ berühmt gewordenen Erinnerungen von sozialistischen Aktivisten der Arbeiterbewegung.

Der Werkkreis hatte bis zu dreißig lokale Gruppen im ganzen Bundesgebiet, in denen Journalisten, Schriftsteller und schreibende Arbeiter zusammen kamen. Günter Wallraff sagt dazu treffend: „Heute wäre diese Gruppenarbeit (…) wieder angesagt, noch stärker als damals. Was jetzt an Mobbing, an Wegnahme erkämpfter Rechte, an totalen Infragestellungen und Rückfällen in frühkapitalistische Zustände vorherrscht. Und es wird so gut wie nicht darüber berichtet, oder nur am Rande, hier und da mal Spurenelemente in Tages- oder Wochenzeitungen. Aber als zentrales Thema ist es völlig aus dem Blickpunkt. Aber es wäre längst überfällig. Die Verhältnisse schreien förmlich danach.“

Dies ist ein Hinweis auch auf die Aktualität von Schöfers Werk. Denn seine Romane sind nicht nur ein „bedeutendes literarisches Geschichtsbuch“, sondern sie geben heutigen AktivistInnen die Möglichkeit, „auf diese Erfahrungen zurückzugreifen, sich daran zu orientieren und sie für ihr eigenes Handeln nutzbar zu machen“, wie es sein Verleger Volker Dittrich in seinem einleitenden Beitrag zum Sammelband ausdrückt.

Diese Aktualität springt einem in dem abgedruckten Fragment des in Arbeit befindlichen vierten Bandes der Roman-Reihe geradezu entgegen. Unter der Kapitel-Überschrift „Arbeitsfreiheit“ wird hier die Entlassung des Mannesmann-Betriebsratsvorsitzenden Manfred Anklam beschrieben. In seiner Reaktion auf die Zustimmung zu dieser Entlassung durch seine Gewerkschafts-„Kollegen“ im Betriebsrat legt er die Finger in die Wunden der Gewerkschaften und klagt die Bürokratie an: „Kaum haben wir einen von uns dank Mitbestimmung in den Aufsichtsrat gehievt, versteht er die Logik der Bosse!“ Und über den Gewerkschaftschef: „Aber er hats gewusst, natürlich hat ers gewusst dass sie uns Reisholzer kaputt machen wolln, egal ob wir den besten Stahl in Deutschland schmieden, nur um aus Montan rauszukommen, kein Sterbenswort davon hat er uns wissen lassen, damit wir schön brav produzieren bis zur letzten Tonne und keinen Stunk machen und er, ihr werdets erleben, in der nächsten Regierung Arbeitsminister wird, egalb ob bei Schmidt oder Strauss, oder vielleicht wie der Leber Verteidigungsminister und die ganze IG Metall wird jubeln Einer von uns im Kabinett! Kein Wort mehr von Gegenmacht! Das ist die Konzertierte Aktion über die Hintertreppe meine Herrn, deshalb scheiß ich auf ihre Mitbestimmung, egal ob Montan oder nicht, mit der sie uns eingeseift haben, und ein ganzer stolzer betriebsrat, 14 Mann und eine Frau, nickts ab wenn ihm der Vorsitzende weggeschossen wird! Hab ich mir denn meine Bude renovieren lassen auf betriebskosten wie der Feckler von F&G? Hab ich unsre Ellie vernascht? Hab ich Lustreisen nach Brasilien gemacht mit Mannesmannknete wie der Loderer? Hab ich das? Wie?“

Dieser Auszug aus dem in diesem Jahr hoffentlich zu erwartenden vierten Band mit dem Titel „Winterdämmerung“ macht große Vorfreude.

Der Sammelband „Unsichtbar lächelnd träumt er Befreiung“ enthält unter anderem auch einen Brief Heinrich Bölls an Erasmus Schöfer, in dem er diesem 1984 als Lektor des LAMUV-Verlags erklärt, warum dieser seinen Roman „Tod in Athen“ – die ursprüngliche Fassung des dritten Tetralogie-Bandes „Sonnenflucht“ nicht herausbringt. Außerdem interessante Gespräche mit Schöfer selber und verschiedene Artikel zu „Die Kinder des Sisyfos“. Besonders interessant ist unter anderen der Text von Rüdiger Scholz, in dem auch auf den autobiographischen Gehalt der Romanreihe eingegangen wird, aber auch einige interessante literaturtheoretische Positionen vertreten werden. So zum Beispiel zu Schöfers sehr eigener darstellung von Liebe und Sexualität, die zu Kontroversen mit seinem Verleger Dittrich geführt hat. Scholz schreibt dazu: „Die sexuelle Liebe erhält eine eigene Sprache jenseits pornographischer Darstellung. Schöfer hat versucht, eine neue Liebessprache zu entwickeln, die der Lebensmacht Liebe auch als körperlicher Liebe gerecht wird und damit klar macht, dass die Alternative Liebe oder politische Arbeit nicht existiert.“

Scholz arbeitet auch andere interessante Aspekte von Schöfers Roman heraus: die männliche Perspektive, die historische Faktizität, die konsequente Perspektive von unten (im gesellschaftlichen Sinne). Doch Scholz irrt in einem Punkt. Er schreibt: „Die Romane konstatieren das Scheitern der Hoffnungen, die Grundhaltung ist pessimistisch, elegisch, resignativ. Schon der Gesamttitel „Die Kinder des Sisyfos“ zeigt die Vergeblichkeit des Handelns.“ Darauf antwortet Schöfer selber in einem in der jungen Welt veröffentlichten Interview: „Mir geht es bei dem Sisyfos-Mythos nicht um die Vergeblichkeit, sondern um die Beständigkeit in dem Versuch, den Stein auf den Berg zu bringen und sich nicht entmutigen zu lassen. Die Menschen, von denen ich schreibe, das sind diejenigen, die zwar auch oft verzweifeln, vielleicht die Hoffnung mal verlieren, aber doch im Grunde wissen, dass sie weitermachen wollen, dass die humanitären Ideale und Einrichtungen, die in der Geschichte unserer abendländischen Gesellschaften erarbeitet wurden, bewahrt, verteidigt und weiter entwickelt werden müssen.“

Ein Schwachpunkt aus marxistischer Sicht bleibt auch in den Texten dieses Sammelbandes, wie auch in der Romanreihe selber, die Auseinandersetzung mit den sich sozialistisch nennenden Staaten der DDR, Sowjetunion und Osteuropas. Diese Auseinandersetzung wird geführt, aber sie geht viel zu wenig in die Tiefe und bringt keine treffende Analyse dieser bürokratisch-diktatorischen Gesellschaften hervor. Schöfer war DKP-Mitglied und nennt sich heute Mitglied der „KPW“ (Kommunistische Partei der Welt). Es ist beeindruckend, wenn er sagt: „Ich bin nie ein parteihöriger Schriftsteller gewesen. Nach 1980 habe ich fünf Jahre am Tod in Athen gearbeitet, der 1986 erschien. Da stand die ganze Verzweiflung eines Kommunisten über die im Namen Stalins begangenen Verbrechen schon drin. Ich hatte eine ganz einfache Maxime, die hieß, ich sage, was ich sagen will und was ich zu sagen für nötig halte ohne Rücksicht auf so genannte Parteidisziplin. Und wenn das den Genossen nicht passt, dann sollen sie mich ausschließen und ein Verfahren gegen mich machen. Ich von mir aus gebe aber den Gedanken nicht auf, dass eine Kommunistische Partei in diesem Land einen Sinn hat und dass man sie so entwickeln muss, dass sie auch eine größere Überzeugungskraft findet.“ Was fehlt, ist das Verständnis, dass eine sozialistische oder kommunistische Partei nur dann an Überzeugungskraft gewinnen kann, wenn sie mit dem System Stalin, dem System Honecker, dem System Breschnew bricht und ein Programm authentischer sozialistischer Demokratie vertritt. Etwas mehr Trotzki würde Schöfer und seinen Protagonisten in diesem Zusammenhang gut tun. Und trotzdem ist Rüdiger Scholz in seinem Fazit zuzustimmen: „Die Romane als Repräsentation bundesdeutscher Geschichte der linken Bewegung seit den 60er Jahren sind ein großer Wurf. Das Unternehmen ist einzigartig, Schöfers Wissen und Kraft zur Verdichtung von immensem historischen Material bewundersnwert. Hält der noch ausstehende vierte Roman Winterdämmerung die Höhe der drei vorliegenden, wird die Sisyfos-Tetralogie die authentischste Romandarstellung bundesdeutscher Geschichte vom Aufbruch in den 60er Jahren bis zum Ende des Sowjetsozialismus“

Schade nur, dass die Auflage der Bücher nur im vierstelligen Bereich liegt und keiner breiteren Leserschaft zugänglich ist.

Eine Geschichte von deutschen Linken  

„Die Kinder des Sisyfos“ – Romantetralogie von Erasmus Schöfer (25. JANUAR 2006)
 

Gelebte Geschichte bringt Erasmus Schöfer in seiner auf vier Bände angelegten Romanreihe „Die Kinder des Sisyfos“ zu Papier. Aus jeder Zeile liest der Leser und die Leserin die Verbundenheit Schöfers mit seinem Stoff heraus. Es stellt sich nicht die Frage, ob das Werk autobiographische Züge hat. Es stellt sich nur die Frage, wo diese auftauchen. Und doch bewahrt Schöfer eine kritische Distanz zu seinen Protagonisten und der ereignisreichen Geschichte, die er nachzeichnet.

von Sascha Staničić

Diese Geschichte ist nicht mehr und nicht weniger als die Geschichte der radikalen deutschen Linken von 1968 (im ersten Band „Ein Frühling irrer Hoffnungen“) über die 70er Jahre (im zweiten Band „Zwielicht“) bis zum Jahr 1989. Erzählt entlang des Lebens dreier Männer.

Da ist zum einen Viktor Bliss, schreibender Intellektueller und in den 70ern aufgrund seiner DKP-Mitgliedschaft mit Berufsverbot belegter Lehrer. Armin Kolenda ist ein aus einer Ruhrpott-Bergmannsfamilie stammender linker Journalist, engagiert im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“. Dritte zentrale Figur ist Manfred Anklam, kämpferischer Gewerkschafter, Betriebsrat, Arbeiterintellektueller mit einem kurzen Gastspiel im maoistischen Komunistischen Bund Westdeutschlands (KBW).

Schöfer gelingt mit seinem Werk etwas Außergewöhnliches – er beschreibt große Geschichte durch kleine (und größere) Ereignisse und durch die Beteiligung nicht der großen Helden und Berühmtheiten der Bewegung, sondern von Wenigen der Vielen. Die kunstvolle Verbindung von Persönlichem und Politischem erzeugt die gesellschaftliche Atmosphäre der Zeit, zumindest aber gibt sie einen Einblick in das Denken und Fühlen einer Generation linker AktivistInnen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen und politischer Ereignisse.

Diese sind die Solidaritätsbewegung mit der vietnamesischen Befreiungsbewegung, das Dutschke-Attentat und die darauf folgenden Aktionen gegen die Springer-Presse, die Besetzung der Glashütte Immenhausen durch die Belegschaft, der Kampf gegen das Atomkraftwerk Wyhl, die Alltagsarbeit in der Werkstatt Literatur der Arbeitswelt, ein Streik bei Mannesmann. Im kürzlich erschienen dritten Band mit dem Titel „Sonnenflucht“ hat es zwei seiner Protagonisten nach Griechenland verschlagen. Der eine in einer Art persönlichem Exil zur Selbstfindung nach politischer Frustration und Trennung von der Frau. Der andere will ihn aus dieser Flucht zurückholen. In diesem dritten Band passiert weniger Geschichte, dafür aber umso mehr Reflexion gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse. Und nebenbei erfährt der Leser und die Leserin viel über die Geschichte Griechenlands vom Widerstand gegen die faschistische Besatzung im Zweiten Weltkrieg über den Bürgerkrieg danach bis zur Obristendiktatur von 1967 bis 1974.

Stalinismus

Die Reflexion über die eigene Desillusionierung, weil der Kapitalismus über zehn Jahre nach der 68er Rebellion eher stärker denn schwächer erscheint, ist jedoch geprägt von der stalinistischen Orientierung des einen und der spontaneistischen Orientierung des anderen. Letzter ruft im Laufe einer Diskussion aus: „Alle eure Heldensagen! Alle eure Siege! Worauf seid ihr eigentlich stolz? Redet doch mal von euren Niederlagen, damit man euch glauben kann! Dieser traurige, ärmliche Sozialismus, aus dem wegläuft, wer weglaufen kann! Unsre deutsche Mauer – ein Sieg! Der ungarische Aufstand – ein Sieg! Prag 68 – noch ein Sieg für den Sozialismus! Jetzt streiken die Arbeiter in Danzig – die Arbeiter! Ja, meine polnischen Kollegen, für eine unabhängige Gewerkschaft, die der Regierung nicht aus der Hand frisst! Dafür kämpf ich auch in Düsseldorf. Find ich gut.“ Spontane, ehrliche und richtige Empörung über den Stalinismus, ohne zu verstehen, dass dieser eben nicht der Sozialismus war, sondern eine bürokratische Diktatur gegen die Arbeiterklasse.

Diese theoretische Verwirrung über die Natur der angeblich sozialistischen Staaten, drückt sich auch an anderer Stelle aus, als das DKP-Mitglied Viktor Bliss in sein Tagebuch schreibt: „Als Marx und Engels den Ausgebeuteten die Strategie der Befreiung zeigten, die Einheit der Besitzlosen vor allem, haben da die Profitöre, im Besitz der Wissenschaft, immer schon mitgelesen und im voraus die Gegenstrategie geplant, enwickelt, unüberholbar gemacht? Haben sie weitblickend die Hände gerieben, als sie Lenin zwangen, die Kontrolle über das Vertrauen zu setzen, sie den Befreiten unentbehrlich machten durch ihre sprungbereite Drohung, die hässliche, ungeliebte Waffe zur Sicherung der schon siegreichen Revolution, berechnend, dass dies der Keim sein werde der Entfremdung zwischen der Befreiungsmacht und den Befreiten. Das Hoffnunggebende, der gerechte, menschenfreundliche Staat sollte sich entwickeln können im Schutz eines Misstrauens dem jeder Bürger, weil ein Mensch, ein möglicher Verräter war? Und die Kontrolle, die Vorsicht, ist sie nicht die Schwester der Unwahrheit, das Misstrauen Urheber der taktischen Lügen, die ihren Motor Wahrheit vergiften?“

Ein anschauliches Beispiel, dafür, dass die Stalinisten Marx, Engels und Lenin zwar lasen, aber nicht verstanden. Wenn Lenin von „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ sprach, so meinte er nicht die Kontrolle der Partei oder des Arbeiterstaates über die Arbeiterklasse, sondern die Notwendigkeit, dass Partei und Arbeiterstaat durch die Arbeiterklasse kontrolliert werden. Und Marx und Engels sprachen nicht von einer von den Befreiten getrenneten Befreiungsmacht, sondern davon, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann.

Und inmitten der politischen Ereignisse und Gedanken, gibt es das Persönliche: die Liebe, Sexualität (erfrischend explizit und unspektakulär dargestellt), Freundschaft, Ängste, den Tod.

Werkkreis

Schöfer selber war einer der Begründer des Werkkreises, der sich zum Ziel setzte, sowohl die Situation in den Betrieben darzustellen, als auch ArbeiterInnen zum Schreiben zu motivieren und diese dabei zu unterstützen. Die – nicht selten konfliktreiche – Zusammenarbeit von Intellektuellen und Berufsjournalisten mit einfachen „schreibenden Proleten“ zieht sich durch die Beschreibung des Werkkreises, der in den 70er Jahren Bücher wie „Der rote Großvater erzählt“ veröffentlichte und in dutzenden Bänden zu verschiedenen Themen eine Auflage von insgesamt über einer halben Million erreichte.

Beeindruckend im Zusammenhang mit der Rolle der Literatur in der Linken ist , unter anderem die Beschreibung eines Besuchs der Frankfurter Buchmesse im Jahr 1977 während der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer durch die RAF. Dort treten Autoren wie Engelmann, Böll, Grass, Wallraff als „literarischer Arm“ der linken Protestbewegungen auf. Die vergebliche Suche nach vergleichbaren Autoren und Günter Grass“ Unterstützung für Gerhard Schröder im letzten Bundestagswahlkampf dücken aus, wie weit die Linke in den letzten 15 Jahren zurück geworfen wurde.

Unkonventioneller Stil

Schöfers Stil ist gewöhnungsbedürftig, weil erfrischend unkonventionell. Ihn schert nicht alte oder neue Rechtschreibung, er hat seine eigene Form entwickelt, die weitgehend versucht die Schriftsprache der gesprochenen Sprache anzupassen. Interpunktion ist überflüssig und es wird geschrieben, wie gedacht wird – wechselhaft, mit Brüchen und Sprüngen.

Die ersten drei Bände von „Die Kinder des Sisyfos“ begeistern und werden zweifelsfrei für LeserInnen, die an den Ereignissen der Zeit teilgenommen haben, besonders spannend sein.

Und was fehlt in Schöfers Werk? Zweifellos spielen Frauen, zumindest in den ersten beiden Bänden, eine untergeordnete Rolle, was möglicherweise mit dem teilweise autobiographischen Charakter des Romans und sicher mit der realen Situation von Frauen in der deutschen Linken der 60er und 70er Jahre zu tun hat. Sie kommen vor allem vor, in den persönlichen Beziehungen der Protagonisten – als Ehefrauen, Liebhaberinnen, Mütter. Doch trotz dieser Tatsache sind gerade die weiblichen Figuren des Romans starke Persönlichkeiten (und oftmals stärker als die Männer) und definieren sich nicht durch ihre Männer. Im dritten Band wird dieses Ungleichgewicht dadurch aufgehoben, dass zwei der Hauptfiguren junge griechische Kommunistinnen sind.

Außerdem beschreibt Schöfer tatsächlich nur die radikale Linke und einen Teil der sozialen und außerparlamentarischen Protestbewegungen. Die Rolle und Bedeutung der SPD und der Jungsozialisten kann nur erahnt werden. Über diese wird gesprochen, sie werden erwähnt, aber es ist ein Versäumnis, dass Schöfer nicht eine Figur geschaffen hat, deren politisches Leben sich in der Sozialdemokratie abspielte, die in der Zeit einen millionanfachen Anhang in der Arbeiterklasse hatte und deren Mitglieder und AktivistInnen eine wichtige Rolle in betrieblichen Auseinandersetzungen und in der Linken spielen. Diese – von einem historischen Standpunkt betrachtete – Schwäche macht „Die Kinder des Sisyfos“ aber nicht weniger lesenswert.

Erasmus Schöfer, Roman-Tetralogie „Die Kinder des Sisyfos“, Bd.1 Ein Frühling irrer Hoffnung; Bd.2 Zwielicht; Bd. 3 Sonnenflucht , www.dittrich-verlag.de

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