Verhärtete Fronten

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Der Ukraine-Krieg tobt weiter

Die ersten Tage der Invasion kamen einem Blitzkrieg gleich, aber inzwischen ist der Kampf um die Ukraine zu einem blutigen Stellungskrieg geworden. Einstweilen geht es darum einzelne Städte zu erobern, zu halten oder sich zurückzuziehen, um neu anzugreifen. Tausende Menschen müssen dafür ihr Leben lassen. 

Von Jens Jaschik, Dortmund

In der medialen Berichterstattung fällt es immer schwerer, Propaganda und Wahrheit zu unterscheiden. Mal ist es die Ukraine die Siege erringt, mal ist es Russland. Fakt ist aber, dass der Krieg ununterbrochen weiterläuft und ein baldiges Ende vorerst nicht in Aussicht steht. Die russische Militärführung greift immer mehr zu brutalen Mitteln. Ganze Städte werden ausgebombt und Massaker verübt. Andererseits gibt es blutige Vergeltungsmaßnahmen seitens des ukrainischen Militärs und den angeschlossenen – teils rechtsextremen – Milizen.

Nationale Frage

Der russische Revolutionär und Internationalist Leo Trotzki erklärte 1934, dass „der Charakter des Krieges nicht bestimmt [wird] durch das isoliert genommene Moment des Beginns (‚Verletzung der Neutralität‘, ‚feindlicher Einmarsch‘ usw.), sondern durch die Haupttriebkräfte des Krieges, seine Gesamtentwicklung und die Ergebnisse, zu denen er letzten Endes führt.“ Haupttriebkraft des Ukraine-Krieges ist der Konflikt zwischen den imperialistischen Großmächten, in denen das ukrainische Volk und die verschiedenen nationalen Minderheiten in der Ukraine zu Spielbällen degradiert werden. Die pro-kapitalistische Selenskyj-Regierung ist nicht fähig, einen Frieden zu erringen, der nicht zu neuer Unterdrückung und Vertreibung führt. 

Am 19. Mai erklärte Michail Podoljak, Berater von Selenskyj, im ukrainischen Fernsehen: „Es ist für mich eine Prinzipienfrage, dass wir das Gebiet Cherson befreien, und zwar unter maximaler Härte gegenüber allen Kollaborateuren sowie den russischen Soldaten. Ebenso das Gebiet Saporischschja. Wir brauchen Zugang zum Asowschen Meer und seinen Ressourcen. Was das Gebiet Charkiw angeht, bin ich dafür, dass sie dort überhaupt das Wort ‚russisch‘ vergessen. Auch in den Gebieten Donezk und Luhansk sollen sie das Wort ‚russisch‘ aus ihrem Wortschatz streichen. Die kriminellen Elemente, die sich dort als Politiker bezeichnen, müssen physisch beseitigt werden.“

Immer wieder hatten ukrainische Politiker*innen das Ziel ausgegeben, die Krim bzw. die Gebiete im Osten zurückzuerobern, die sie seit 2014 nicht mehr kontrollieren. Das „Friedens“programm der Herrschenden bereitet den Boden für neue Kriege und Bürgerkriege. Die Arbeiter*innenklasse muss ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und sich unabhängig organisieren. Solche Organisationen könnten mit den ukrainischen Oligarchen aufräumen, einen Klassenappell an die russischen Soldaten richten und allen Nationalitäten das Recht auf Selbstbestimmung garantieren. Dies ist der einzige Weg für dauerhaften Frieden.

Heimatfront in Russland

Inzwischen erfährt man weniger von Anti-Kriegs-Protesten in Russland. Immer wieder kommt es zu Aktionen von Aktivist*innen, doch diese sind vereinzelt. Viele Umfragen aus Russland geben an, dass eine Mehrheit den Krieg unterstützt. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht viele Menschen in Russland gibt, die gegen den Krieg sind – zumal den russischen Umfragen nicht zu trauen ist. Auf Facebook erklärte, der russische Rapper Oxxxymiron, der in London, Istanbul und Berlin Konzerte unter dem Slogan „Russians against War“ organisierte: „Ich bin absolut davon überzeugt, dass die Ergebnisse der ‚sozialen Umfragen‘ aus Russland, die erklären, dass die überwiegende Mehrheit der Russ*innen für den Krieg sind, und bereitwillig vom Rest der Welt akzeptiert werden, völlig scheiße sind. In einer Atmosphäre, in der Kritik am Krieg zum Verlust von Bildung und Arbeit oder zur Strafverfolgung führen kann, sagen die Menschen nicht ihre wahre Meinung.“

Am 23. Mai trat der russische Botschafter bei der UN, Boris Bondarew, zurück und erklärte öffentlich, dass er sich für den aggressiven Krieg gegen die Ukraine schämt. Der Angriffskrieg sei nicht nur ein Verbrechen gegen das ukrainische Volk, sondern auch das bisher schwerste Verbrechen gegen das russische Volk. Das Ziel von Putin und seinen Anhänger*innen sei es, an der Macht zu bleiben, in pompösen Palästen zu leben und mit Jachten zu segeln. Der Krieg diene den Interessen einer kleinen Minderheit, und diese Minderheit sei bereit tausende Leben – Russ*innen und Ukrainer*innen – für ihre Interessen zu opfern. Die russischen Medien und Politik bestehe nur noch aus Lügen, Hetze und Kriegstreiberei. Bondarew hat damit überraschend treffend den russischen Gangsterkapitalismus beschrieben. Mit Fortlaufen des Krieges wird es zu weiteren Brüchen an der Heimatfront kommen.

Die allgemeine Krise des Kapitalismus und die enormen Kosten des Krieges werden zwangsläufig die Widersprüche in der russischen Gesellschaft verschärfen und zu sozialen Verwerfungen führen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es erst Anfang dieses Jahres zu einem Volksaufstand in Kasachstan kam, in dem die Gewerkschaften eine wichtige Rolle einnahmen. Vor nicht mal anderthalb Jahren sind in Belarus Massenproteste gegen Lukaschenkos Marionettenregierung ausgebrochen. Die Hammerschläge der Ereignisse werden zu neuen Massenbewegungen in Russland und seinen Vasallenstaaten führen. In diesen Kämpfen muss die Arbeiter*innenklasse eine Organisation und ein Programm entwickeln, die fähig sind, den Oligarchen-Kapitalismus auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern. Das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale, dem die Sol angeschlossen ist, ist mit Aktivist*innen aus Russland, Belarus, Kasachstan und der Ukraine in Kontakt, um ein solches sozialistisches Programm zu diskutieren und in die kommenden Kämpfen zu tragen.