Wichtige Lehren für Marxist*innen und den Kampf für nationale Selbstbestimmung
Am 5. Juli jährte sich zum sechzigsten Mal der algerische Unabhängigkeitstag von 1962, der das Ende des achtjährigen Unabhängigkeitskrieges markierte. Clare Doyle blickt zurück auf einen bedeutenden Kampf der Bewegung gegen den Kolonialismus nach 1945.
„Der Algerienkrieg von 1954 bis 1962 war ein grausamer Kolonialkrieg, der schätzungsweise eine Million muslimische Algerier*innen tötete und ebenso viele europäische Siedler*innen aus ihrer Heimat vertrieb. Er sollte zum Sturz von sechs französischen Premierministern und zum Zusammenbruch der Vierten Republik führen; er hätte beinahe de Gaulle zu Fall gebracht und – zweimal – das französische Mutterland in das Chaos eines Bürgerkriegs gestürzt“. Diese Beschreibung findet sich auf der Rückseite eines fundierten Buches des Historikers Alistair Horne mit dem Titel A Savage War of Peace, das 1977 veröffentlicht wurde.
Der algerische Unabhängigkeitskrieg dauerte doppelt so lange wie der Erste Weltkrieg und sein Sieg bedeutete das Ende von 130 Jahren brutaler französischer Kolonialherrschaft. Doch auch heute, sechs Jahrzehnte später, müssen die Algerier*innen sowohl in ihrer „Heimat“ als auch in der französischen Metropole einen harten Kampf für demokratische wie auch wirtschaftliche Gerechtigkeit führen.
In den französischen Schulen wird nur wenig über die massive Invasion und die imperiale Eroberung Algeriens im Jahr 1830 gelehrt. Nicht weniger als 37.000 französische Soldaten und mehr als 100 Kriegsschiffe waren daran beteiligt. Mehr als 5.000 Algerier*innen wurden getötet und Tausende weitere gefangen genommen. Jahrzehntelang waren die Völker Algeriens gezwungen, für die Franzosen auf dem ihnen geraubten Land oder in den Städten als Diener*innen der französischen Siedler*innen Schwerstarbeit zu leisten. Sprache, Religion, Kultur und Wohlstand der (mehrheitlich) berberischen und muslimisch-arabischen Völker Algeriens wurden brutal unterdrückt.
Erst in den letzten zwanzig Jahren wurde in den französischen Lehrplänen der gewaltige Kampf der Algerier*innen für die Unabhängigkeit auch nur erwähnt. Im Jahr 2012 „erkannte“ der Präsident der Parti Socialiste (PS), Francois Hollande, das durch Frankreichs Kolonisierung verursachte Leid an, entschuldigte sich aber nicht offiziell beim algerischen Volk. Es gab auch keine offizielle Anerkennung der grausamen polizeilichen Gräueltaten, die in Frankreich an Algerier*innen und ihren Unterstützer*innen begangen wurden. Der heutige Präsident Emmanuel Macron hält zwar öffentliche Reden, in denen er das blutige Polizeimassaker in Paris im Oktober 1961 an hauptsächlich algerischen Kriegsgegner*innen verurteilt, weigert sich aber, es als Staatsverbrechen einzustufen.
Der unverhohlene Rassismus der französischen Staatsmacht gegenüber Jugendlichen der zweiten und dritten Generation aus dem Maghreb inspirierte den weltberühmten Film La Haine, der in den notorisch vernachlässigten Banlieues (Vorstädten) von Paris spielt.
Die französischen „Sozialist*innen“
Ein Jahrzehnt des Chaos in Frankreich am Ende des Zweiten Weltkriegs (in dem der größte Teil der französischen Kapitalist*innenklasse mit den Nazis kollaboriert hatte) war auf das Versagen der Volksfrontregierungen (sowohl vor als auch nach dem Krieg) zurückzuführen, Frankreich vom Kapitalismus zu befreien. Weder die Führer*innen der Sozialistischen Partei (damals bekannt als Französische Sektion der Arbeiter*inneninternationale – SFIO) noch die der „Kommunistischen“ Partei Frankreichs (PCF) hatten dieses Ziel, trotz der Sehnsüchte der Arbeiter*innen Frankreichs.
Sozialistische Revolutionen hätten sich wie ein Lauffeuer über einen verwüsteten Kontinent ausgebreitet. Sie hätten in der UdSSR und in Osteuropa eine politische Revolution gegen die bürokratische Diktatur Stalins entfacht. Der Lauf der Geschichte wäre verändert worden.
Die Französische Kommunistische Partei war Teil der Dritten Internationale, als sie als Mehrheit aus dem Kongress der SFIO in Tours 1920 hervorging. Damals sollte ihre Politik die volle Unterstützung des Kampfes gegen den Imperialismus sein. Als jedoch nach dem Krieg der antikoloniale Kampf in Algerien unter der Führung der Nationalen Befreiungsfront (FLN) begann, unterstützte sie ihre eigene Bourgeoisie und deren totale Ablehnung der Selbstbestimmung. Die PCF stimmte 1956 sogar für „Sondervollmachten“ für die Regierung des „Sozialisten“ Guy Mollet, um die Repression in Algerien zu verstärken und Hunderttausende von Wehrpflichtigen auf das Schlachtfeld zu schicken.
Auf beiden Seiten des Mittelmeers – in Algerien und Frankreich – gab es viele Arbeiter*innen und Wehrpflichtige, die eine klare Klassenposition bezogen. Sie beteiligten sich an heldenhaften Streiks und Meutereien gegen die Pläne Frankreichs, seine Kolonie zu behalten. Sie riskierten, für ihre Aktionen entlassen oder inhaftiert zu werden – oder Schlimmeres.
Ihre Bemühungen wurden von den linken Politiker*innen Frankreichs nicht geteilt. Obwohl viele ihrer Mitglieder und Unterstützer*innen für die Unabhängigkeit eintraten, stellten sich die linken Parteien erst mit großer Verspätung auf die Seite der heldenhaften algerischen Freiheitskämpfer*innen.
Ein junger François Mitterrand unterzeichnete als Justizminister in der Regierung von 1956 das Gesetz über die Sondervollmachten. Anderthalb Jahrzehnte später, 1969, nach den revolutionären Ereignissen vom Mai 1968, gründete Mitterrand eine neue sozialistische Partei, die PS, und führte sie 1981 in die Regierung. Das ehrgeizige Reformprogramm der PS, das die Existenz des Kapitalismus immer noch nicht in Frage stellte, wich jedoch innerhalb von zwei Jahren den Gegenreformen und dem Sieg der Rechten.
Befreiungskampf
Gegen den Staatsstreich von General Charles de Gaulle im Jahr 1958 regte sich in den französischen Parlamentsparteien kaum Widerstand. Er nahm die Macht selbst in die Hand und errichtete seine Fünfte Republik mit repressiven Gesetzen und einzigartigen bonapartistischen diktatorischen Befugnissen für das Staatsoberhaupt. Er führte eine partielle Militärherrschaft ein, indem er Gesetze per Dekret durchsetzte, Wahlen für eine gewisse Zeit ausschloss und andere demokratische Rechte außer Kraft setzte.
Nachdem er anfangs entschlossen war, Algerien französisch zu halten, und einige der blutigsten Operationen des Krieges billigte, kam de Gaulle zu dem Schluss, dass die menschlichen und finanziellen Kosten zu hoch waren und eine Einigung erzielt werden musste.
Er führte im Januar 1961 ein Referendum unter den französischen Wähler*innen durch, um die Unterstützung für die Selbstbestimmung Algeriens zu ermitteln. Über 75 Prozent der Wähler*innen in Frankreich und 70 Prozent der französischen Wähler*innen in Algerien stimmten zu.
Es fanden langwierige Friedensverhandlungen statt, aber die Aussicht auf ein Abkommen führte zur Gründung der Organisation der geheimen Armee (OAS, Organisation armée secrète), zu einem Ausbruch brutaler Gewalt und zu einem Putschversuch in Algier im April 1961. Die OAS war ein Zusammenschluss verschiedener Gruppen, die die „pieds noirs“, die Französ*innen, die sich zum Teil schon vor Generationen in Algerien niedergelassen hatten, vertraten. Sie wurde von General Raoul Salan und anderen französischen Generälen im Ruhestand geleitet und gab sich den Slogan „Algerie Francaise“ (französisches Algerien).
Ein 2017 erschienener Nachruf auf Jean-Jacques Susini – den „politischen Kopf“ hinter der OAS (und Gegenstand des Films Der Schakal) – vermittelt ein Bild von den letzten Grausamkeiten, die von den gegen die Unabhängigkeit kämpfenden Siedlern begangen wurden. „In nur sechs Wochen 1961-62 tötete die OAS in der Stadt (Algier) mehr Menschen als die FLN während des gesamten Algerienkrieges“. Die Kampagne der OAS erreichte ihren Höhepunkt am 7. Juni 1962, als die alte Bibliothek der Stadt (mit ihren 6.000 wertvollen Werken) in Brand gesteckt und das historische Rathaus in die Luft gesprengt wurde. Auch die Stadtbibliothek und vier Schulen wurden in die Luft gesprengt. All dies geschah, als das Abkommen von Evian gerade abgeschlossen wurde.
Nach Jahren auf der Flucht wurde dieser Susini durch eine 1968 von de Gaulle verkündete Amnestie rehabilitiert – der Mann, der mehr als einmal versucht hatte, ihn zu töten! Nach weiteren Haftstrafen wegen Raubes, Entführung und Mordes wurde Susini 1987 vom neuen „sozialistischen“ Präsidenten Francois Mitterrand erneut amnestiert. „1997“, so der Nachruf weiter, „tauchte Susini aus der Versenkung auf und kandidierte für den Front National von Jean-Marie Le Pen im Norden von Marseille, einem Wahlkreis mit hoher Arbeitslosigkeit und starker Einwanderung“.
Auf de Gaulle wurden mehrere Attentate verübt, als er sich um eine Einigung mit der FLN bemühte, aber das Ende des Krieges stärkte seine Unterstützung im Inland – nicht zuletzt in den Kreisen der Großunternehmer*innen –, da die französische Wirtschaft zu boomen begann.
Zehn Jahre nach seinem Amtsantritt und sechs Jahre nach der Algerien-Einigung war es der einmonatige Generalstreik im Mai 1968, der De Gaulles besondere Form der bonapartistischen Herrschaft erschütterte. Studierende und Arbeiter*innen schrien auf den Straßen: „Zehn Jahre sind genug!“ Nach der Demütigung durch den revolutionären Generalstreik mit zehn Millionen Menschen gelang es de Gaulle zwar, die anschließenden Parlamentswahlen zu gewinnen, aber seine Autorität war unwiederbringlich erschüttert. Im folgenden Jahr zog er sich aus dem Amt zurück und starb Ende 1970 in seinem Landhaus in Colombey-les-Deux-Églises.
Als im April 1962 in Frankreich das Referendum über die Algerienregelung abgehalten wurde, stimmten mehr als 90 Prozent der kriegsmüden Wähler*innen dafür. In Algerien sprachen sich am 1. Juli 99,7 Prozent der Wähler*innen dafür aus. Die Entscheidung wurde am folgenden Tag in Frankreich offiziell veröffentlicht und am 3. Juli erklärte Frankreich Algerien für unabhängig. Die FLN-Führung, die nun das Sagen hat, wählte den 5. Juli – auf den Tag genau 132 Jahre nach der Ankunft der Franzosen in Algier – zum Unabhängigkeitstag.
Marxist*innen und der Krieg
Die Geschichte des algerischen Unabhängigkeitskrieges ist ebenso tragisch wie heroisch. Die Wut über die Entbehrungen und die Armut des Lebens der berberischen und arabisch-muslimischen Bevölkerung war übergekocht. Die Siege und die Tragödien, die Fortschritte und die Rückschläge sind zu zahlreich, um sie in diesem Artikel aufzuzählen. Der berühmte Film von Gillo Pontecorvo – Schlacht um Algier – zeigt sowohl den unglaublichen Heldenmut als auch die abscheuliche Brutalität. Es gab Verrat, Gemetzel und Vergewaltigungen an Frauen, Säuglingen, Gefangenen und alten Menschen.
Die größte Tragödie war das Fehlen einer revolutionären Führung mit einer klaren Vorstellung davon, wie sich der Kampf entwickeln sollte. Wäre die Arbeiter*innenklasse so organisiert gewesen, dass sie die Schlüsselrolle im Kampf für die Beendigung der Kolonialherrschaft gespielt hätte, hätte sich die Revolution zu einem umfassenden Kampf für den Sozialismus ausweiten können. Es wäre ein Leuchtfeuer für die unterdrückten Völker nicht nur Nordafrikas, sondern weltweit entfacht worden, um mit Kapitalismus und Krieg Schluss zu machen. Ein sozialistischer Aufruf hätte die Unterstützung eines Teils der Siedler*innen, der „pieds noirs“ und der algerischen Jüd*innen in Algerien gewinnen und die Basis der Unterstützung für die französische imperialistische Herrschaft und Gruppen wie die OAS untergraben können.
Die Anführer*innen der wichtigsten kämpfenden Kraft in Algerien – der Nationalen Befreiungsfront und ihrer Armee, der ALN – kamen aus der verarmten nicht-französischen ländlichen Elite. Ihr übergeordnetes Ziel war die nationale Befreiung von der französischen Kolonialherrschaft. Um jedoch die Freiheit aller unterdrückten Menschen von einem Leben in Armut und Ausbeutung zu erreichen, musste ein umfassender Kampf gegen das Privateigentum an Land und Industrie geführt werden.
Lenin und Trotzki, die die siegreiche Russische Revolution vom Oktober 1917 und die Einsetzung einer sozialistischen Arbeiter*innenregierung anführten, waren zu dem Schluss gekommen, dass die Revolution gegen den Imperialismus und gegen den Grundbesitz und die feudalen Verhältnisse auf dem Lande „permanent“ sein müsse. Damit meinten sie, dass sie nicht in Etappen durchgeführt werden kann, sondern zu einem Kampf für die Beendigung des Privateigentums nicht nur an Grund und Boden, sondern auch an Banken, Großindustrie und Handel „übergehen“ muss. Dies war ein klares Beispiel, dem die Arbeiter*innen und Armen anderer Länder folgen sollten.
In Algerien war dieser Ansatz in den objektiven Bedürfnissen der Massen verwurzelt und für den Kampf um echte Unabhängigkeit von entscheidender Bedeutung. Die FLN-Führer*innen waren nicht für eine umfassende Verstaatlichung, sondern sahen sich 1963 gezwungen, den gesamten landwirtschaftlichen, industriellen und kommerziellen Besitz zu beschlagnahmen. Sie gingen dazu über, die Verstaatlichung grob und ohne demokratische Kontrolle und Verwaltung durch die betroffenen Arbeiter*innen durchzuführen. Die Regierung übernahm die Verantwortung für die Produktion, die Verarbeitung und den Versand fast aller landwirtschaftlichen Erzeugnisse wie Wein, Tabak und Weizen, aber auch für Textilien und Bekleidung, Zement, Phosphate und die auf der lokalen Erzförderung basierende Metallherstellung. Aber die Überlassung von Öl und Gas an die Franzosen und die Anwendung bürokratischer Kontroll- und Verwaltungsmethoden in der gesamten Wirtschaft führten zu sehr schlechten wirtschaftlichen Ergebnissen.
Die Vierte Internationale
Zur Zeit des algerischen Aufstandes gegen die französische Herrschaft unterstützten die Trotzkist*innen in Frankreich und Großbritannien in und um die Vierte Internationale den von der FLN geführten Kampf von ganzem Herzen. Die „International Socialists“, die Vorläufer der Socialist Workers’ Party in Großbritannien [In Deutschland gilt das Netzwerk Marx21 als Vertreterin dieser Strömung, Anm. des Übers.], waren weniger enthusiastisch. Aus ideologischen Gründen, da sie der Ansicht waren, dass Stalins Konterrevolution den Kapitalismus wiederhergestellt hatte, hatten sie eine „neutrale“ Haltung eingenommen: „Weder Moskau noch Washington, sondern der internationale Sozialismus“. Sie sind also gleichgültig gegenüber einem Kampf, der zu einer großen Niederlage des französischen Imperialismus führen könnte.
Die Anhänger*innen von Ernst Mandel innerhalb der Vierten Internationale verloren das Vertrauen in das Potenzial der „großstädtischen“ (europäischen) Arbeiter*innenklasse, sich in eine revolutionäre Richtung zu bewegen. Sie unterstützten die Guerilla- und Bauernkräfte, die gegen den Imperialismus kämpften, ohne ein Wort der Kritik an deren Programmen zu äußern, in denen von einem Kampf für den Sozialismus keine Rede war. Einige „Trotzkist*innen“ gingen sogar so weit, die Regime von Tito in Jugoslawien und Mao Tse-tung in China zu unterstützen, für die eine echte Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung ein Gräuel war, und bezeichneten sie als „unbewusste Trotzkist*innen“.
Die Vorläufer von Militant und der Socialist Party, die damals eine Zeitung namens Socialist Fight herausgaben, unterstützten die algerische Revolution uneingeschränkt. Sie strebten nicht nur den Sieg über de Gaulle an – in Algerien und in Frankreich –, sondern auch einen internationalen Kampf der Arbeiter*innen und Bäuer*innen für den Sozialismus. Sie forderten die Führer*innen der FLN auf, ein vollständig sozialistisches und internationalistisches Programm anzunehmen.
Ihre Unterstützung für die FLN war nicht nur verbal. Als Facharbeiter aus Großbritannien nach Marokko und Tunesien reisten, um Waffen zur Unterstützung des Kampfes herzustellen, wurde vereinbart, zwei Socialist Fight-Mitglieder – den Zimmermann John Smith und den Elektriker Jimmy Deane – an die marokkanisch-algerische Grenze zu schicken, um den Zaun zu durchbrechen und Nachschub zu den Freiheitskämpfer*innen zu bringen.
Bei den Gesprächen zwischen der FLN und der französischen Regierung in Evian unterstützte Socialist Fight den drohenden Aufstand der französischen Wehrpflichtigen in Algier, der die Unterzeichnung des Abkommens im März 1962 beschleunigte. In den Jahren 1961 und 1962 setzte sich die Gruppe für die Freilassung von Michel Raptis (auch bekannt als Pablo) und Sal Santen – beides führende Persönlichkeiten der Vierten Internationale – ein, die in den Niederlanden wegen Urkundenfälschung und Unterstützung der Freiheitskämpfer*innen in Algerien verhaftet worden waren.
Socialist Fight forderte die FLN auf, ein umfassendes Programm des sozialistischen Wiederaufbaus zu verabschieden, um „die Kontrolle in die Hände des Volkes zu legen und die Produktionsmittel – das Land und seine Bodenschätze – zu vergesellschaften“ (April 1962).
Ben Bella
Am 25. September 1962 wurde die Demokratische Sozialistische Republik Algerien mit Ahmed Ben Bella als erstem Präsidenten gegründet. Die landwirtschaftlichen Betriebe und die meisten in französischem Besitz befindlichen Industrien wurden in öffentliches Eigentum überführt, die großen französischen Öl- und Gaskonzerne blieben jedoch bis 1971 unangetastet. Das von Ben Bella (und dem späteren Vereinigten Sekretariat der Vierten Internationale, USFI) propagierte System der „Selbstverwaltung“ (autogestion) wurde in den Staatsbetrieben eingeführt. Sie war jedoch eher bürokratisch als demokratisch.
Die FLN war für ein riesiges Land zuständig, das durch den Krieg verwüstet worden war, aber ein enormes Potenzial besaß. Ben Bellas Politik war populär, aber es gab keine Strategie für die Errichtung eines demokratischen Arbeiter*innenstaates und die Ausbreitung des Kampfes für den Sozialismus von Algerien auf den Rest des Maghreb und Afrikas oder auf Frankreich, Europa und darüber hinaus.
Im Juni 1965, als die herrschende Clique hochrangiger Armeeoffiziere versuchte, ihre Macht zu festigen und die Entwicklung der Bewegungen von unten zu blockieren, wurde Ben Bella in einem unblutigen Staatsstreich unter Führung des Verteidigungsministers Houari Boumédiène gestürzt. Er wurde acht Monate lang in einem unterirdischen Gefängnis festgehalten und musste in den folgenden 14 Jahren unter Hausarrest leben. Nach seiner Freilassung im Oktober 1980 lebte Ben Bella in Frankreich, wurde aber 1983 ausgewiesen. Er zog in die Schweiz, wo er die Bewegung für Demokratie in Algerien gründete – eine gemäßigte islamische Oppositionspartei mit wenig Aussicht auf Erfolg.
Ein halbes Jahrhundert, nachdem er sein Land zum Sieg im Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich geführt hatte, und wieder zurück in seinem Geburtsland, starb Ben Bella 2012 im Alter von 95 Jahren.
Spätere Entwicklungen
Die FLN – die Partei, die den algerischen Unabhängigkeitskrieg gewonnen hat – ist in Algerien seit diesem Sieg 1962 fast ununterbrochen an der Macht und regiert das Land auch heute noch. Nachdem sie anfangs echte Reformen in Bereichen wie Gesundheit und Bildung durchgesetzt hatte, verstrickte sie sich jedoch in Korruption und Mauscheleien. Sie hat die einst revolutionäre Nationale Befreiungsarmee eingesetzt, um alle Widerstände zu beseitigen. Im Jahr 1980 war es der „Berberfrühling“, 1988 die „Jugendrevolte“. Im Jahr 1991 löste die Armee einen blutigen Bürger*innenkrieg aus, als die Islamische Heilsfront (FIS) die erste Runde der Parlamentswahlen gewann. Bis zu 200.000 Menschen kamen ums Leben.
Der Ausnahmezustand dauerte 19 Jahre lang an. Er wurde erst 2011 aufgehoben, als die Welle der Revolution über Nordafrika schwappte. Die damalige FLN-Regierung kam relativ glimpflich davon, ist aber ständig der Gefahr neuer Explosionen gegen die herrschende Clique ausgesetzt. Sie zögert nicht, die üblichen Waffen der Machthaber gegen friedliche Demonstranten einzusetzen – Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke. Und das führt nur dazu, dass die Jugend verärgert und ermutigt wird.
Im Februar 2019 erklärte der viermalige Präsident Abdelaziz Bouteflika, der bereits 86 Jahre alt und an den Rollstuhl gefesselt ist, seine Absicht, erneut Präsident zu werden. Sein Hauptanliegen war es nicht, Arbeitsplätze und Wohnungen für die junge Bevölkerung des Landes zu schaffen, sondern seine Kumpanen vor dem Gefängnis zu bewahren – die machtgierigen Oligarchen, die bei jeder Gelegenheit die Wirtschaft plündern und in notorischem Luxus leben.
Die Flamme der Revolte loderte unweigerlich auf, bis der Achtzigjährige davon überzeugt war, nicht noch einmal für das höchste Amt zu kandidieren. Am 16. März dieses Jahres gingen bis zu 14 Millionen Menschen auf die Straße. Die Freitagsdemonstrationen, die den Namen „Hirak“, d. h. „Bewegung“, erhielten, waren die größten in der Geschichte Algeriens. Millionen von Menschen, darunter viele Frauen, gingen im ganzen Land auf die Straße, um zu protestieren. Die durch die Covid-Bestimmungen auferlegten Beschränkungen dämpften die Bewegung, und die Beteiligten fanden keine Partei oder Gewerkschaft, die eine Lanze für die verkrusteten Verhältnisse im Land brach.
Welche Zukunft?
Der derzeitige Präsident Abdelmadjid Tebboune, der 2019 an die Macht kam, sollte die revolutionären Umwälzungen jenes Jahres zu einem Ende bringen. Doch er hat nichts unternommen, um das Leben der inzwischen 45 Millionen Menschen starken Bevölkerung zu verbessern. Fünfundvierzig Prozent der Menschen unter 25 Jahren haben keine richtige Arbeit. Die Wut staut sich weiter an. Nichts wurde unternommen, um den brennenden Wunsch der algerischen Berg- und Berberbevölkerung nach Erfüllung ihrer nationalen und sprachlichen Rechte aufzugreifen.
Im Jahr 2021 lösten Waldbrände, die vorsätzlich gelegt wurden, um Land für Spekulationszwecke zu roden, eine neue Protestwelle aus. Das Leben in Algerien auf der Grundlage von Großgrundbesitz und Kapitalismus wird auch in Zukunft von großen Konflikten zwischen den Klasseninteressen geprägt sein.
Mina Boukhaoua schreibt im Namen von Yassar Thawri, Thamuỿli thazelmaȡt (Gauche Révolutionnaire, oder CWI in Algerien), dass es dringender denn je ist, die Saat einer neuen revolutionären Partei in ihrem Land zu säen, die das sozialistische Ziel der Verstaatlichung der wichtigsten Säulen der Wirtschaft mit demokratischer Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung auf ihre Fahnen schreibt. Nur so kann man den Opfern gerecht werden, die die heldenhaften Freiheitskämpfer*innen Algeriens vor mehr als sechzig Jahren gebracht haben.