Erfolg, aber kein Durchbruch an den Unikliniken
Elf Wochen lang, 77 Streiktage und 25 Verhandlungsrunden zwischen der Tarifkommission und den Klinikleitungen haben deutlich gezeigt, wie enorm die Bereitschaft bei den Beschäftigten ist, für eine Entlastung einzutreten.
Von Anne Pötzsch und Steve Hollasky, Dresden
Damit verdeutlichen diese Wochen auch den unbeschreiblichen Druck, unter dem Krankenhausbelegschaften seit Jahren zu leiden haben. In den Ausständen für einen Tarifvertrag Entlastung wird aber auch für eine bessere medizinische Versorgung für Millionen Menschen gestritten. Die schlechte Personalsituation in den Kliniken sorgt in allen Bereichen für eine Minderversorgung der Patient*innen und eine Gefährdung von Gesundheit und Leben. Der vereinbarte Tarifvertrag Entlastung für die Unikliniken in Nordrhein-Westfalen bedeutet für die Beschäftigten zwar einen großen Schritt nach vorne, kann jedoch nicht als Durchbruch gesehen werden.
Inhalt des TV Entlastung in NRW
Der Tarifvertrag ist in Modelle eingeteilt. Die Modelle stellen immer bestimmte Berufsgruppen in den jeweiligen Uni-Klinken dar.
Modell 1: Hier ist die Pflege zusammengefasst. In allen Bereichen/Abteilungen gibt es verbindliche Pflegekraft-Patient*innen-Ratios, die eine bessere Besetzung auf den Stationen sichern sollen. Wird die vereinbarte Besetzung in der Schicht unterschritten, wird ein Belastungspunkt ausgelöst.
Modell 2: Hier findet man die Therapeut*innen, Radiologie, die Servicebereiche, und den Betriebskindergarten. Es soll ein Personalaufbau von zehn bis fünfzehn Prozent stattfinden. Wird der vereinbarte Stellenaufbau im Kalenderdurchschnitt nicht erreicht, erhalten die Angestellten in diesen Bereichen fünf Entlastungstage.
Modell 3: Case- und Patient*innenmanagment erhalten hier pauschal drei Entlastungstage pro Jahr, ohne das ein Stellenaufbau oder andere Entlastungsmaßnahmen vereinbart worden sind.
Modell 4: Hier gibt es zwischen den Unikliniken Unterschiede, welche Bereiche eingruppiert sind. Zu den Bereichen zählen unter anderem die Ambulanzen, die Labore, die IT, der Patient*innenbegleitservice oder der Botendienst. Im Tarifvertrag sind pro Klinik dreißig zusätzliche Stellen für alle Bereiche des Modell 4 ausgehandelt worden. Werden die dreißig Stellen nicht besetzt, erhalten die Beschäftigten im Modell 4 pauschal drei Entlastungstage im Jahr.
Ausbildung: Die Auszubildenden können sich auf einige Verbesserungen freuen. Die Dienstpläne für die praktischen Einsätze müssen nun acht Wochen vorher vorliegen und dürfen nicht aufgrund von Personalmangel geändert werden. Die Auszubildenden sind komplett aus der Personalbesetzung rausgerechnet und haben Anspruch auf 15 Prozent Praxisanleitung in jedem Einsatz. Das ist mehr als gesetzlich festgelegt ist. Auch in den Schulen gibt es verbindliche Personalbesetzungen. Eine Lehrkraft darf maximal zwanzig Schüler*innen unterrichten, wodurch eine höhere Lehrqualität garantiert werden kann.
Fallstricke
Problematisch ist der Zeitpunkt des Inkrafttretens am 01.01.2023. Die Beschäftigten müssen nun noch weitere fünf Monate warten, bis sie bei zu großer Arbeitsbelastung entlastet werden. Die ausgehandelten Ratios für die Pflegekräfte könnten erst 2024 greifen, denn die Arbeitgeber*innen haben ganz 18 Monate Zeit für die Bereitstellung einer Software, die die Belastungssituationen erfasst und die gesammelten Punkte in das Dienstplanprogramm überführt. Bis dahin erhalten die Pflegenden pauschal fünf Belastungstage. 18 Monate für das Schreiben einer Software ist überzogen, denn es gibt bereits gut funktionierende Programme für die Erfassung der Belastungssituation (z.B. an der Charité in Berlin). Mit der Einstellung von entsprechendem IT-Personal wäre es innerhalb weniger Wochen möglich. Durch die Einstellung von neuem IT-Personal könnte auch Modell 4 schon in Teilen erfüllt werden.
Die Modelle 2-4 sind nicht zufriedenstellend, da bereits seit Jahren für die Berufsgruppen Stellen ausgeschrieben sind und diese nie ausreichend besetzt werden konnten. Auch sind die Abteilungen in Modell 4 in jeder Uniklinik unterschiedlich aufgestellt. Viele Bereiche sind bereits outgesourct, wodurch einige Bereiche und viele Beschäftigte keine Entlastung durch den neuen Tarifvertrag erhalten (Beispiel: Die Zentralsterilisation ist am Uniklinikum Essen mit aufgenommen im TV E, im Uniklinikum Köln ist die Zentralsterilisation outgesourct und erhält keine Entlastung mit dem TV E.)
Zudem gibt es eine Deckelung der Entlastungstage. Im ersten Jahr nach der Einführungsphase können maximal elf Entlastungstage erreicht werden. Jede weitere belastete Schicht wird nicht honoriert. Von diesen elf Entlastungstagen können auch nur sechs Tage frei genommen werden, die restlichen fünf Tage werden ausgezahlt. Bei den fünf pauschal ausgelösten Entlastungstagen im Einführungszeitraum können in 2023 maximal vier Tage frei genommen werden, der andere Tag wird ausgezahlt. Somit erfolgt keine adäquate Entlastung der Beschäftigten in den Klinken. Sie brauchen vor allem weniger Belastung auf den Stationen und mehr Erholung – und kein Trostpflaster in Form von Geld, welches über die unermessliche Arbeitsbelastung hinwegsehen lassen soll.
Rolle der Medien
Es ist immer wieder erstaunlich, wie bürgerliche Medien zu Arbeitskämpfen berichten. Zu manchen Arbeitskämpfen kann täglich ausführlich berichtet werden, andere Arbeitskämpfe bekommen nicht mal eine Randnotiz in Zeitungen. Auffällig ist hier, dass vor allem Ausstände dann ein mediales Echo bekommen, wenn die Arbeitgeber*innenseite massiv in die Öffentlichkeit vordringt. Dies geschieht vor allem, wenn Profite in Gefahr und Kapital angegriffen wird und die Bevölkerung die Auswirkungen des Streiks unverzüglich miterlebt. Beispiel dafür sind die Kämpfe bei der Lufthansa. Hebt der Flieger nicht, weil das Personal die Arbeit niedergelegt hat, können keine Umsätze eingefahren werden, da die Kund*innen nicht zahlen oder das Geld zurückerstattet bekommen. Die Arbeitgeber*innen und die Presse betreiben dann breite Propaganda gegen die Streiks. Es soll Unmut bei den Menschen erzeugt werden, obwohl in der Gesellschaft anfänglich immer breite Solidarität für die streikenden Beschäftigten vorhanden ist. Man hat das Gefühl, dass die bürgerlichen Medien (vor allem der Springer-Verlag) sich mehr mit den Kapitalnöten der Arbeitgeber*innen beschäftigt als mit der Lebensrealität der Arbeiter*innen, welche oft in relativer Armut und Überlastung leben.
Streikt aber das Personal im Gesundheitswesen, halten sich die Arbeitgeber*innen und die Politik und damit auch die Medien zurück. Man möchte durch mediale Berichterstattung keine Solidarität in der Bevölkerung schaffen, da dies zu Tarifabschlüssen drängen könnte. Denn eines hat die Pandemie gezeigt: die Bevölkerung steht breit hinter den Pflegekräften und allen anderen Beteiligten in den Kliniken, Praxen und Versorgungseinrichtungen.
Berichteten Medien dann doch einmal vom Streik in NRW, waren die Beiträge kurz und spiegelten oft die beängstigenden Aussagen der Klinikleitungen wieder. Wenn Artikel in Printmedien verfasst wurden, offenbarten sie nicht selten eine beeindruckende Unkenntnis über den laufenden Arbeitskampf. So bezeichnete die Rheinische Post die Forderung nach mehr Gehalt als verständlich, lehnte aber die Arbeitskampfmaßnahmen ab, weil diese Patient*innenwohl gefährden würden. Wissentlich oder unwissentlich wurden so Unwahrheiten verbreitet: Die Forderungen waren zu keiner Zeit Entgelterhöhungen und die Versorgung pro Patient*in war während des Streiks mitunter sogar besser als zuvor, weil weniger Patient*innen versorgt wurden und sich Pflegekräfte besser auf diese konzentrieren konnten.
Die Gesichter von erschöpften Pflegenden zierten anderthalb Jahre die Titelbilder der Medien. Politiker*innen nahmen die Pflege als Begründung für Coronaschutzmaßnahmen und wiesen dadurch konsequent auf die schlechten Zustände im Gesundheitswesen hin. Doch das Einzige, was man für das ausgebrannte Personal übrig hatte, waren leere Worthülsen.
Vorschläge der Sol
Völlig richtig haben ver.di-Offizielle und Streikende auf die schlechten Rahmenbedingungen hingewiesen und damit – wörtlich – das kapitalistische System gemeint. Kapitalismus macht krank, das haben eigentlich alle Arbeiter*innen im Gesundheitswesen erkannt. Die pro-kapitalistische Regierung wird aus freien Stücken keine signifikanten Änderungen einführen. Sie steht unter dem Einfluss des Kapitals und wird immer für das Kapital einstehen, auch wenn dafür die Gesundheit der gesamten Bevölkerung gefährdet ist oder Menschen sterben. Deshalb müssen die Arbeiter*innen und die Gewerkschaften die Regierung und die Arbeitgeber*innen durch Arbeitskämpfe zu Veränderungen zwingen.
Zurecht wurde angemerkt, dass das Klatschen der Bevölkerung den Beschäftigten im Gesundheitswesen nichts brachte. Doch die Gewerkschaftsführungen zeigen nicht auf, wie eine starke und wirksame Solidaritätsbewegung aussehen könnte. Es liegt in der Verantwortung des DGBs und von ver.di, breit für ein nach Bedarf ausgerichtetes, öffentliches Gesundheitswesen anstelle von Marktorientierung zu mobilisieren. Es ist eine gesellschaftspolitische Bewegung nötig, von Demonstrationen bis hin zu Streiks! Dafür bedarf es starker demokratischer Gewerkschaften. ver.di sollte in jeder seiner Betriebsgruppen über die Kämpfe im Gesundheitswesen aufklären. Der DGB sollte eine flächendeckende Kampagne in all seinen Gewerkschaften und in der Öffentlichkeit starten. Die Gewerkschaftsmitglieder müssen demokratisch darüber entscheiden, wie man vorgehen möchte. Ziel sollte eine breite Solidaritätsbewegung aus den Betrieben für eine bessere Gesundheitsversorgung sein.
Die Streikbewegung an den Unikliniken unterlag mehr demokratischer Kontrolle durch die Beschäftigten als es normalerweise bei Streiks üblich ist. Doch für eine wirklich demokratische Kontrolle durch die Streikenden sollten in allen bestreikten Betrieben tägliche Streikversammlungen stattfinden, wo die Beschäftigten jeden einzelnen Schritt gemeinsam abstimmen können und in betriebsübergreifenden gewählten Streikdelegiertenkonferenzen zusammengetragen und miteinander abgestimmt wird.
Die Entlastungsbewegung muss auch mit politischen Forderungen verbunden werden: Das DRG-System muss abgelöst werden durch eine bedarfsgenaue Abrechnung der Leistungen bei den Krankenkassen, wodurch kein Kostendruck in den medizinisch-pflegerischen Einrichtungen entsteht. Einzelne Menschen und Konzerne dürfen monetär nicht mit den Krankheiten anderer Profite machen wie Chefärzt*innen, Klinikleitungen oder Aktionär*innen. Privatisierungen und Klinikschließungen müssen beendet werden, um allen den Zugang zu einer qualitativ guten medizinischen Versorgung zu ermöglichen – sowohl in der Stadt als auch auf dem Land. Alle Bereiche im Krankenhaus wie Reinigung, Technik und Labore müssen wieder durch Insourcing in die Klinikverwaltung zurückgeführt werden, um Lohndumping und Ausbeutung zu beenden. Letztlich zeigt die ganze Misere im Gesundheitswesen auch: Profitorientierung dient nicht der Masse der arbeitenden Bevölkerung, sondern einer kleinen reichen Minderheit. Daher muss der Kampf für ein bedarfsgerechtes, ausfinanziertes und kostenfreies Gesundheitswesen für alle auch mit dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus verbunden werden.