Die AfD und die Inflation

By RimbobSchwammkopf (Own work) [CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], via Wikimedia Commons

Ein neoliberales Programm für einen armen Staat

Die AfD stellt sich selbst gern als Partei der „kleinen Leute“ dar. Dass sie das nicht ist, beweist sie einmal mehr mit ihren Forderungen für die kommenden Herbst- und Wintermonate

Krise hin oder her, drohende Stromausfälle, Gasumlage, in die Höhe schnellende Preise – das Vermögen in Deutschland ist weiter gewachsen. Betroffen von der Krise ist die Arbeiter*innenklasse. Die Großunternehmen, gerade die Energieversorger, verdienen sich eine goldene Nase.

Von Steve Hollasky, Dresden

Angenommen, man würde das Vermögen auf alle in Deutschland lebenden Menschen gleich verteilen, würde jede*r, egal wie alt; egal, ob Frau oder Mann 160.000 Euro erhalten. Im Wachsen begriffen sind dabei vor allem die Vermögen der Großunternehmen. Zugleich droht die Verarmung weiter Bevölkerungsschichten. Nichts wäre also logischer als den Reichtum anders zu verteilen.

Von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnisgrünen braucht man solche Schritte nicht zu erwarten – das haben diese Parteien hinlänglich bewiesen. Die AfD hingegen erklärt sich selbst gern zur Fundamentalopposition gegen diese Politik. Das heißt jedoch nicht, dass man auf die AfD hoffen sollte, wenn man in der Krise Schritte gegen die Verarmung weiter Bevölkerungskreise verlangt

Taktik, nicht Prinzip

Auf dem Parteitag der AfD 2015, erklärte Alexander Gauland, der zwischenzeitlich als Bundesvorsitzender amtierte, die Rechtspopulisten seien die „Partei der kleinen Leute“. Nähere Angaben, wer denn nun die „kleinen Leute“ seien, machte er nicht. Die Botschaft kam derweil unmissverständlich an, die AfD wolle die soziale Frage stellen und sich angeblich auf die Seite der Benachteiligten schlagen.

Gauland schwieg sich jedoch darüber aus, inwieweit dieser Ansatz Prinzip und nicht bloße Berechnung ist. Die Antwort auf diese Frage könnte Götz Kubitschek längst gegeben haben. Der Vordenker für den völkischen „Flügel“ des Thüringer AfD-Rechtsaußen Björn Höcke erklärte schon vor Jahren, man müsse dem Gegner das „Kronjuwel der Linken“, die Hoheit über die soziale Frage, streitig machen. Die damit verbundene Hoffnung ist, dauerhafte gesellschaftliche Relevanz zu erlangen. Mit seinem „Institut für Staatspolitik“ im sachsen-anhaltinischen Schnellroda brachte Kubitschek seine Botschaft an allerlei Akteur*innen innerhalb der AfD.

Nach außen hin mag sich das Auftreten der AfD dann auch ganz nett anhören. In seinem Interviewbuch „Nie zweimal in denselben Fluss“ erklärte der für die Einflüsterungen seines Freundes aus Schnellroda empfängliche Höcke, er wolle die Errungenschaften von 150 Jahren Arbeiter*innenbewegung nicht hergeben. Nur klaffen das eigentliche Prinzip der AfD und ihre Propaganda auch in der Krise weit auseinander.

Ein Krisenprogramm für Reiche

Das Krisenprogramm der AfD, wenn man für eine solche Ansammlung von Versatzstücken überhaupt den Terminus Programm verwenden möchte, ist ein Wunschzettel für Reiche, auch wenn er sich da und dort anders liest. In ihrer Rede im Bundestag am 7. September präsentierte Alice Weidel die Forderungen ihrer Partei, die vor allem darauf hinauslaufen, dass der Staat sich gesund sparen möge. So verlangte sie, die „Staatsausgaben“ müssten „auf das Wesentliche konzentriert werden“. Von Interesse war hierbei, was Weidel als „das Wesentliche“ ansieht und was nicht: Nur „innere und äußere Sicherheit, Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und öffentlicher Ordnung“, seien Aufgaben des Staates.

Mit anderen Worten, das „Krisenprogramm“ der AfD besteht aus Rüstung, Polizei und einem restriktiven Staatsapparat.

Kein Wort davon, dass sich der Staat um „die kleinen Leute“ kümmern möge, auch wenn die AfD gern von „den kleinen Leuten“ spricht. Was die AfD vorhat, würde denen nicht viel nutzen. Denn nach Ansicht der Rechtspopulist*innen soll der Staat gerade nicht für die „kleinen Leuten“ da sein.

Dabei scheint sie mit ihrem Ruf nach Steuersenkungen den schwer belasteten einkommensschwachen Haushalten helfen zu wollen. Nur ist das Gegenteil der Fall.

Weidel verlangte in der zitierten Rede „die Senkung der Energiesteuern, der Mehrwert- und der Einkommenssteuer“. Was sich nach Entlastung für „die kleinen Leute“ anhört, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als fatale Ohrfeige für jene, deren Geldbeutel ohnehin schon leer ist.

Selbstverständlich gehört die Mehrwertsteuer abgeschafft. Sie ist die unsozialste aller Steuern, weil sie unterschiedslos alle Haushalte – unabhängig von ihrem Verdienst und Besitz – mit dem gleichen Steuersatz belastet. Nur zeigt Weidel keinen Weg auf, wie denn die entstehenden Defizite im Staatshaushalt geschlossen werden sollen.

Die Einkommenssteuer macht mit 255 Milliarden Euro gut ein Drittel der staatlichen Einnahmen aus. Sie zu senken würde genau dann finanzielle Löcher reißen, wenn es keinen Ersatz für die ausfallenden Einnahmen geben würde. Genau diesen Ersatz zeigt Weidel nicht auf, eine drastische Senkung der Staatsausgaben wäre die unweigerliche Folge. Diese Konsequenz liegt im Kalkül von Weidel. Erinnern wir uns, sie will die Staatsausgaben „auf das Wesentliche konzentrieren“. Sozialausgaben sind für sie – wie sie sagt – „Klientelpolitik“.

Dabei wäre es so einfach: Mit der Einführung einer Vermögenssteuer würde der Staatshaushalt mit einem Mal um Milliarden wachsen. Würde man die belasten, die an der Krise verdienen: Energie- und Rüstungskonzerne zum Beispiel, könnte man denen helfen, die unter der Krise leiden und das ist der größte Teil der Bevölkerung. Würde man die Superreichen belasten, könnte man den Armen und anderen Menschen aus der Arbeiter*innenklasse helfen. Wer den Reichen nichts nimmt, kann den Armen nichts geben.

Doch genau das will Alice Weidel gar nicht, deshalb verlangt sie eine scheinbar soziale Reduzierung der Staatseinnahmen, um auf der anderen Seite eine drastische Kürzung der Sozialleistungen vorzubereiten. Den Staat zu verarmen, nutzt den Reichen und schadet denen, die ohnehin zu wenig oder nichts haben, den „kleinen Leuten“, wie die AfD sie nennt.

Das wirkliche Prinzip der AfD

Was die AfD von armen Menschen hält, hat sie mehr als nur einmal bewiesen. Und bemerkenswerterweise schämt sie sich nicht einmal das ganz öffentlich auszusprechen. Der zweite Co-Vorsitzende der AfD, Tino Chrupalla, hielt im Juli in der Sendung „Berlin direkt“ kurzerhand fest, Empfänger*innen von Hartz IV sollten Zwangsarbeit leisten. Seiner Phantasie scheinen in dieser Frage keine Grenzen gesetzt: Wer Arbeitslosengeld II beziehe, der solle auf deutschen Flughäfen Koffer tragen, schilderte Chrupalla seine Position.

Damit stellt sich die AfD in eine Reihe mit Parteien wie der CDU, deren früherer Gesundheitsminister Jens Spahn 2018 dreist behauptete, Hartz IV sei „keine Armut“, sondern die „Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut“ oder der SPD, die nicht nur Hartz IV während ihrer Zeit in der Bundesregierung von 1998 bis 2005 eingeführt hatte, sondern auch immer wieder öffentlich verteidigte.

Doch die AfD geht noch viel weiter und so können Weidels Einlassungen im Bundestag kaum überraschen. Schon im Januar 2020 hatte der sächsische Landesvorsitzende der AfD, der zum „Flügel“-Netzwerk um Björn Höcke gehörende Jörg Urban, auf einer öffentlichen Veranstaltung seiner Partei in Olbernhau dem eingeladenen Gastredner zugestimmt, als dieser forderte, Empfänger*innen staatlicher Transferleistungen, wozu auch Kinder- und Wohngeld zählen, sollte das Wahlrecht aberkannt werden. Künftig, so der Vortragende, solle man sich entscheiden, ob man staatliche Leistungen annehme oder aber wählen wolle, zumindest, wenn es nach seinen Vorstellungen gehe.

Interessant auch wer der damalige Gastredner war: Markus Krall, Mitglied im Vorstand der Degussa-Goldhandel GmbH und einer der Stars am Himmel des marktfundamentalistischen Milieus. Natürlich brabbelte auch er für den Rückzug des Staates und einer Kürzung von Sozialleistungen. In der durch kapitalistische Prinzipien wie Profitstreben, Privatisierungen und Effizienzdenken geschundenen Pflege und in den Krankenhäusern, machte Krall bei dieser Gelegenheit ein „sozialistisches Tohuwabohu“ aus.

Dass hinter der Politik der AfD stehende Kalkül ist weitaus älter als die Partei selbst. Der schlanke Staat, den Weidel, Chrupalla, Urban und Co. vor Augen haben, dürfte der Blütentraum der deutschen Unternehmer sein. Wenn der Staat weniger einnimmt, kann er weniger Sozialleistungen ausschütten, was wiederum zu wenigstens zwei Folgen führen dürfte: Aus purer Angst um die eigene Existenz wären Menschen bereit jede noch so mies bezahlte Arbeit zu akzeptieren und die Profite würden wachsen, weil die steuerliche Last auf Unternehmen verringert würde.

Ob die von der AfD verlangte Senkung von Mehrwertsteuer und CO2-Abgabe in Form niedrigerer Preise wirklich an die Verbraucher*innen weitergereicht würde bleibt indessen eine offene Frage. Diese mit „Ja“ zu beantworten fällt nach der Erfahrung mit dem Tankrabatt, der bestenfalls zu Teilen im Benzintank der Verbraucher*innen landete, äußerst schwer. Schlanker Staat und sinkende Steuersätze für Unternehmen sind die Zutaten für eine Umverteilung von unten nach oben. Die AfD ist der letzte Rettungsanker für deutsche Unternehmen, nicht für die Beschäftigten, Rentner*innen und Arbeitslosen.

Weidels Denkschule

Dass sich Weidel für derlei neoliberale Ideen begeistert, kann bei einem Blick in ihre Biografie kaum für Augenreiben sorgen. Erst im letzten Jahr hatte Weidel der „Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft“ den Rücken gekehrt (solidaritaet.info berichtete). Die Gesellschaft hat sich mit ihren etwa 300 Mitgliedern der Bewahrung von Hayeks Erbe verschrieben. Weidel hatte sie nach langjähriger Mitarbeit verlassen und war im Streit gegangen. Einer der Hauptgeldgeber der Gesellschaft, die Hayek-Stiftung, hatte mit der Verringerung der Zahlungen gedroht, sollte die Hayek-Gesellschaft nicht einen Trennungsstrich zwischen sich und der AfD ziehen.

Die Verstrickungen von Hayek-Gesellschaft und AfD dürften auch nach Weidels Exodus nicht gelöst sein, schließlich hatten zahlreiche Mitglieder der Hayek-Gesellschaft zugleich auch das Parteibuch der Rechtspopulist*innen in der Gesäßtasche, weshalb seinerzeit auch Stefan Kooth, Vorsitzender der Gesellschaft, Weidel beigesprungen war.

Auch inhaltlich muss nicht die Nähe der Hayek-Gesellschaft zur AfD, wohl eher die Berührungsängste der Stiftung überraschen: Der aus Österreich stammende Ökonom Friedrich August von Hayek gilt als einer der entscheidenden Vordenker des Neoliberalismus. Nach dem Putsch gegen den demokratisch gewählten, sozialistischen Präsidenten von Chile, Salvador Allende, im Jahre 1973, besuchte Hayek mehrmals das Land und lobte die Turboprivatisierungen und den Sozialabbau in Chile, ebenso wie die dafür verantwortliche Regierung der Militärjunta. In einem Leserbrief in der chilenischen Zeitung „Mercurio“, erklärte Hayek 1981 rundheraus, er ziehe „einen liberalen Diktator einer demokratischen Regierung ohne Liberalismus vor“. Und meinte damit, solange dieser den Unternehmen freien Lauf lasse, könne er sich sehr wohl auch mit einer Diktatur anfreunden.

Das von der Hayek-Gesellschaft vertretene Erbe des Ökonomen ist im Grunde in diesem Satz zusammengefasst: Der Markt und seine unsozialen Gesetze gehen über alles; soziale Leistungen werden abgelehnt. Menschen auch nur Chancengleichheit (von wirklicher sozialer Gleichheit gar nicht zu reden) zu garantieren, betrachtete Hayek zu seinen Lebzeiten als „extremen Totalitarismus“.

Es sei Weidel nach ihren eigenen Worten „schwergefallen“, die Gesellschaft, die dieses Erbe bewahren will, zu verlassen. Hört und liest man ihre Positionen zu Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik gerade in der aktuellen Krise, glaubt man ihr dieses Bekenntnis aufs Wort. Hayek würde Weidel wohl auf die Schultern klopfen.

Dabei schreckte Weidel auch nicht davor zurück einen Teil des AfD-Programms, nämlich den nach Kürzung sozialer Leistungen, angepasst an die aktuelle Situation in ihrer Bundestagsrede zu präsentieren und einen anderen Teil, und zwar jenen, der uns die Rechtspopulisten als EU-Gegner*innen präsentiert, zu negieren. Ausgerechnet die von AfD-Seiten viel gescholtene Europäische Zentralbank (EZB) soll nach dem Willen der Hayek-Anhängerin „für stabiles Geld“ sorgen, somit also den Leitzins erhöhen. Die Stabilität der Geldmenge ist einer der Grundsätze neoliberaler Politik, die jedoch gerade den „kleinen Leuten“ in die Tasche greift. Dass nun seitens der AfD eine Institution der Europäischen Union als Teil der Lösung wirtschaftlicher Probleme präsentiert wird, zeigt überdeutlich, dass die AfD selbst dazu bereit ist, sich bis zu einem gewissen Grad mit der EU auszusöhnen, wenn es gegen die „kleinen Leute“ geht, die sie ja angeblich vertreten will.

Die Verantwortlichen nicht verantwortlich machen

Von der AfD dürften diese jedoch allenfalls den Stiefelabsatz zu spüren bekommen, wenn die Rechtspopulist*innen über deren Köpfe hinweg nach oben wandern. Dass sie ihren Weg mit ein paar netten Versprechungen verschönert, kann daran kaum etwas ändern. Die in einem AfD-Faltblatt mit dem Titel „Die Preistreiber stoppen, Jetzt!“ nebulös versprochene Erhöhung des Wohngeldes und das „kommunale Wohngeld“, müssen inhaltsleere Ankündigungen bleiben. Einem von der AfD geschröpften Staat wird das Geld für derlei Sozialleistungen fehlen.

Zudem muss das darin präsentierte plötzliche Interesse der AfD an Mieter*innen Staunen machen. In Dresden begrüßte die AfD vor gut einem Jahr den 2005 umgesetzten Verkauf aller bis dahin kommunalen Wohnungen in einem Flugblatt als eine „erfolgreiche Privatisierung“. Infolge des Verkaufs der Dresdner Wohnungen an Privatinvestoren – zuerst nannte Fortress und nun die Vonovia die Wohnungen ihr eigen – waren in der sächsischen Landeshauptstadt die Mieten in die Höhe geschossen, Wohnraum wurde abgerissen und gerade in Plattenbausiedelungen hat die Vonovia so gut wie keine Maßnahmen ergriffen, um die Substanz der Gebäude zu erhalten. Das ist für die AfD also eine „erfolgreiche Privatisierung“! Dass sie auf Seiten der privaten Vermieter*innen steht, bewies die Partei bei mehr als einer Stadtratssitzung. Vielfach übertrug sie in Debatten zum Thema „Mieten und Wohnen“ ihre Redezeit an „Haus & Grund“, einen Lobbyverband privater Vermieter.

In keinem Material, welches die AfD zur Krise veröffentlichte, in keiner Stellungnahme, in keiner Verlautbarung und keiner Rede, benannte die AfD die wirklichen Nutznießer der Krise: Die Großunternehmen, die Rüstungsindustrie, die auf Aufträge hoffen darf, oder die Energieversorger, die riesige Profite einstecken. Permanent nimmt die AfD diese aus der Schusslinie und verweist auf den Staat und die Regierung. Ohne Zweifel hat die Politik von SPD, Grünen und FDP die Situation mit zu verantworten und die unter ihrer Regierung verabschiedeten Entlastungspakete wirken wie ein Tropfen auf den heißen Stein, nur verdienen an all dem eben die deutschen Großunternehmen, denen die AfD nicht zu nahe rücken will.

Was die AfD umsetzt ist der politische Klassenkampf von oben. Ihr Programm ist ein Verarmungsprogramm für die Masse der Bevölkerung. Den Lehrsatz, nach dem wirklich soziale Politik weder nationalistisch, noch prokapitalistisch sein kann, beweist die AfD auf ihre Art. Der alte gewerkschaftliche Grundsatz, nach dem sich nur Reiche einen armen Staat leisten können, wirft gleißendes Licht auf die Politik der AfD.

Sonderfall Thüringen

Björn Höcke bildet den Sonderfall in der AfD – könnte man meinen. Er mag am weitesten rechts in der AfD stehen und ist zugleich sozial und sogar oft antikapitalistisch – könnte man meinen. Denn zumindest versucht sich Höcke bei allerlei Gelegenheiten so zu präsentieren. Sei es, als er sich noch in einer frühen Phase der Coronapandemie in einem auf youtube hochgeladenen Video positiv zum deutschen Gesundheitswesen äußerte, denn diese habe gezeigt, dass es gut gewesen sei, die Krankenhäuser nicht zu privatisieren, wie der AfD-Rechtsaußen dort feststellt. Gemessen daran, dass Deutschland inzwischen mehr privatisierte Krankenhausbetten hat als die USA und hier kräftig mit Krankheit Profit gemacht wird, offenbarte Höcke ein erschreckendes Unwissen über die Situation in der Pflege.

Oder sei es im gleichen Video, in dem er eine ökologische und soziale Marktwirtschaft dem Kapitalismus als vermeintlichen Gegenentwurf gegenüberstellt.

Man muss also gar nicht so genau hinschauen, um festzustellen, dass Höckes verbale Bekenntnisse zu sozialen Maßnahmen zu Gunsten der Schwächsten bloße Lippenbekenntnisse sind. Um die aktuelle Krise zu überwinden, schlug er in einer Rede im Thüringer Landtag im Juli vor, man solle eine Freihandelszone – man beachte die Wortwahl – „in Nordostpreußen schaffen“. Gemeint sein dürften damit Teile von Ostdeutschland und Polen.

Sieht man einmal großzügig über die imperialen Träume des Herrn Höcke hinweg, die mit dieser grotesken Bezeichnung unweigerlich verbunden sind, sichert eine Freihandelszone nicht den Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse, wohl aber die Profite. Eine Freihandelszone schützt nicht vor Verarmung, sie schützt aber die Großunternehmen vor staatlichen Eingriffen, weil sie Reglementierungen wie Arbeitsschutz- oder Umweltgesetze zurückdrängt.

Und er verlangte allen Ernstes nach einem „neuen Wiener Kongress“, um den Frieden in Europa zu sichern. Mit dem ersten „Wiener Kongress“ 1814/15 sicherten die herrschenden Könige und Fürsten in Europa nachdem Napoleons Eroberungszug gestoppt worden war vor allem die Friedhofsruhe auf dem Kontinent. Demokratische Hoffnungen in der Bevölkerung – gerade in Deutschland – wurden mit ein paar Unterschriften auf den Papieren des Wiener Kongresses ausgelöscht – damals 1815. Für Höcke bleibt das ein Vorbild und ein Ausweg aus der Krise des Jahres 2022.

Mit diesen Plänen beweist Höcke fernab aller sozialen Beteuerungen seine grundsätzliche Nähe zu den neoliberalen Ideen von Alice Weidel oder Tino Chrupalla. Doch genau diese prokapitalistische und damit unsoziale Politik wird von großen Teilen der Bevölkerung in Ostdeutschland abgelehnt, weckt sie doch beklemmende Erinnerungen an die Zeit nach 1990 als nach dem Sturz des stalinistischen Regimes nicht etwa ein Schritt nach vorn zu einer sozialistischen Demokratie, sondern ein Schritt zurück zum Kapitalismus gemacht wurde. Millionen Industriearbeitsplätze gingen für immer verloren als die bis dahin schlimmste Deindustrialisierung in Friedenszeiten brutal umgesetzt wurde.

Höcke denkt strategisch genug, um sich darüber im Klaren zu sein, dass man sich von jenen, die diese Katastrophe zu verantworten hatten, in Wort und Schrift absetzen muss. Wobei die Frage zu beantworten wäre, ob es eher ihm oder seinem Souffleur Götz Kubitschek klar ist. Der hat in einer Artikelreihe in seinem Magazin „Sezession“ unlängst programmatisch auf den „heißen Herbst“ von rechts eingestimmt.

Im dritten Teil dieser Reihe teilt der Kopf des in rechten Kreisen beliebten Antaios-Verlags auch Richtung AfD aus. „Falls die AfD nicht willens und in der Lage sein sollte“, heißt es dort, „das Potential der kommenden Proteste zu nutzen“, werde sie bald Konkurrenz ausgesetzt sein. Mitunter sei dies schon existent, konstatiert Kubitschek, und spielt auf die „Freien Sachsen“ an, die die „Querdenken“-Proteste im letzten Winter im Freistaat zu großen Teilen organisiert hatten. Insbesondere die sächsische AfD wirke „träge“, so Kubitschek. Dabei gehe es um die Frage wie eine „Politik zum Wohle des deutschen Volkes“ aussehe. Die Anerkennung der einfachen Tatsache, dass das „deutsche Volk“ in jene zerfällt, die von der Krise profitieren, die Unternehmer und jene, die unter der Krise zu leiden haben und sie bezahlen müssen, die Arbeiter*innenklasse, sucht man bei Kubitschek selbstverständlich vergeblich.

Höcke hat diese Artikel auf seiner Facebookseite geteilt. Die Kampagne seines Landesverbandes läuft zu großen Teilen, zumindest bis jetzt, nicht unter dem Label der eigenen Partei. Weshalb? Sieht der rechte Flügel die AfD als schon zu sehr im System angekommen an? Sammelt Höcke Truppen, um irgendwann den Schritt aus der AfD hinauszugehen? Will Höcke weiter nach rechts, und davon ist unbedingt auszugehen, so muss er die AfD irgendwann spalten. Insofern ist die AfD als Ganzes auch keine faschistische Partei im Werden. Wer eine solche Formation bilden will, muss die Rechtspopulist*innen entzweien. Ist das Kubitscheks und Höckes Absicht?

Höckes Äußerungen zur von ihm beabsichtigten Bildung einer Freihandelszone in Polen und Deutschland beweisen, dass auch für ihn die soziale Frage – ob Krise oder nicht – lediglich taktisches Gewicht besitzt.

Rassistische Spaltung

Ob nun marktfundamentalistischer oder völkischer Flügel, der Arbeiter*innenklasse haben beide Entwürfe der AfD-Politik nichts zu bieten. Umso wichtiger ist für beide die arbeitende Bevölkerung, die Jugendlichen und Rentner*innen zu spalten, in jene, die hier geboren sind und jene, die in dieses Land fliehen mussten oder mehr oder weniger freiwillig hierher gekommen sind. In ihrer Rede vor dem Bundestag am 7. September forderte Alice Weidel ein Ende der „illegalen Zuwanderung“. Als würden Geflüchtete die Energie- und Verbraucher*innenpreise festlegen. Das tun dafür umso unkontrollierter deutsche Unternehmer, gegen die Weidel und Co. nicht die Stimme erheben.

Diese rassistische Spaltung, mit der die Wut von den wirklich verantwortlichen abgelenkt wird, bringt die Arbeiter*innenklasse in den nächsten Wochen in größte Gefahr, sollte die AfD Erfolg mit ihrer Propaganda haben. Hasst man den syrischen Nachbarn mehr als den Vermieter, der für die Erhöhung der Miete verantwortlich ist, dann wird man sich gegen die Preistreiberei – von der eben und gerade auch Geflüchtete betroffen sind – nicht erfolgreich zur Wehr setzen können.

Deutlicher als durch rassistische Äußerungen kann eine Partei kaum unter Beweis stellen, dass sie die Interessen der Arbeiter*innenklasse eben nicht vertritt. Augenscheinlicher als durch die propagierte Spaltung von Menschen entlang ethnischer, religiöser und sprachlicher Linien kann die AfD im Grunde kaum beweisen, dass sie auf der Seite der Unternehmer*innen und Krisenprofiteure steht.

Klassenkampf statt Rechtspopulismus!

Die AfD hierfür auch moralisch zu verurteilen ist sicherlich nicht falsch, wird aber jene, die in die Richtung der AfD-Propaganda tendieren, nicht überzeugen. Rassismus ist hochpolitisch, er hat eine Tradition als Machtinstrument der Herrschenden, die bis in die beginnende Industrialisierung zurückreicht. Wenn die Beherrschten gespalten sind, können sie sich nicht wehren, sondern gehen aufeinander los.

Und so muss auch die Antwort auf diese Herausforderung politisch sein. Gerade in den bevorstehenden Monaten kann hiergeborenen Arbeiter*innen deutlich werden, dass ihre Interessen sehr viel mehr denen ähneln, die hierher fliehen müssen, als denen, für die sie schuften müssen, denen sie mehr Geld in Form von Heizkosten oder Miete zu überweisen haben.

Die Chancen dafür stehen nicht einmal schlecht, wenn die Arbeiter*innenbewegung es richtig angeht: Hauptsächlich darf es eben nicht um eine kleine Drehung einer Stellschraube hier und dort gehen. Es geht um die ganz große Frage: Der Kapitalismus entpuppt sich mehr und mehr als hochinstabiles und für die Mehrheit der Menschheit gefährliches System. Und dennoch verdient eine kleine Minderheit weiterhin an ihm.

Das muss ein Ende haben! Die großen Energiekonzerne gehören unter demokratischer Kontrolle durch die Belegschaften und die Gesellschaft verstaatlicht. Es ist nicht falsch Massensteuern einzuschränken oder gar abzuschaffen, denn sie gehen zu Lasten auch der arbeitenden Bevölkerung. Aber man muss die in den Staatshaushalt auf diese Art gerissenen Löcher wieder schließen, indem man die großen Vermögen der Superreichen und die Profite der Großunternehmen belastet. Der Kapitalismus gehört abgeschafft und durch eine sozialistische Demokratie, in der wir alle gemeinsam über den erwirtschafteten Reichtum entscheiden, ersetzt.

Die AfD wird solchen Maßnahmen nicht zustimmen, denn sie ist prokapitalistisch und damit letzten Endes immer unsozial. Ihre diesbezügliche programmatische Nähe zu den anderen prokapitalistischen Parteien ist unübersehbar. Insofern muss man sie dort stellen, wo diese Parteien sie niemals stellen werden: An der Klassenfrage. Im „heißen Herbst“ gilt das umso mehr als in den bisherigen Monaten und Jahren der Auseinandersetzung mit den marktfundamentalistischen Rassist*innen in dieser Partei.

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