Dortmund: Es war Mord

Foto von Christoph Scholz, https://www.flickr.com/photos/140988606@N08/31747766292 (CC BY-SA 2.0)

Neue Erkenntnisse zum Tod von Mouhamed Dramé

Am 15. September wurde bei MONITOR ein Bericht zur Tötung des 16-jährigen Geflüchteten durch die Polizei in Dortmund veröffentlicht. Dort präsentierte die Staatsanwaltschaft den bisherigen Ermittlungsstand und widersprach der Darstellung der Polizei grundlegend. Inzwischen ist klar, dass für die Polizist*innen nie eine Gefahrensituation bestand. Die Reaktion der Polizei war nicht nur unverhältnismäßig, die Tötung erfolgte ohne Grund.

Von Jens Jaschik, Sol Dortmund

Am 8. August erschoss die Polizei den 16-jährigen Geflüchteten Mouhamed Dramé vor einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt. Der suizid-gefährdete Jugendliche war mit einem Messer gesehen worden und die Polizei wurde verständigt. Zum Einsatz kamen zwölf Polizist*innen – später hieß es, dass sogar 13 Polizist*innen beteiligt waren. Nach Angaben der Polizei ereignete sich folgendes: Der Jugendliche ohne Deutschkenntnisse reagierte nicht auf Ansprachen, sondern wurde schnell aggressiv. Pfefferspray und Taser mussten zum Einsatz kommen. Als der Jugendliche trotz alledem mit einem Messer auf die Polizist*innen zustürmte, blieb den Polizist*innen nichts anderes übrig als den Jugendlichen durch fünf Schuss aus einer Maschinenpistole in Bauch, Kiefer, Unterarm und Schulter zu töten. Ein Telefonat zwischen einem Sozialarbeiter und der Polizei während des Einsatzes und eine neue Zeugenaussage, widerlegen jedoch die Darstellung der Polizei.

Nach der Tat waren die Medien voll mit Berichten, die sich schützend vor die Polizei stellten. „Experten“ erklärten, wieso den Polizist*innen keine andere Wahl blieb bei einen Messerangriff den Angreifer zu erschießen. Wieso zwölf Polizist*innen nicht ausreichen, einen 16-jährigen Jugendlichen zu überwältigen. Wieso zwischen der normalen Dienstwaffe eines Polizisten und einer Maschinenpistole kein Unterschied besteht. SPD-Mitglied und Polizeipräsident Gregor Lange übernahm sofort die Darstellung der eingesetzten Polizist*innen und forderte Vertrauen in die Polizei. Man dürfe jetzt keine Vorverurteilungen treffen. Bei einer Talk-Runde von WDR5 bezeichnete Lange die Tötung des 16-jährigen durch die fünf Schüsse aus einer Maschinenpistole lapidar als Fehler. Auch CDU-Innenminister Herbert Reul stellte sich schützend vor die Polizei, und erklärte, dass den Polizist*innen keine andere Wahl blieb, Mouhamed zu erschießen, um sich zu schützen. Die Polizei hätte an dem Abend eine schwere Entscheidung treffen müssen. Aber all diese Berichte, Erklärungen und Ausreden nehmen Bezug auf eine Situation, die so nie stattgefunden hat. Denn 13 Polizist*innen haben gelogen, um sich selbst zu schützen.

Was wirklich passiert ist

Die Wahrheit über die Geschehnisse vom 8. August ist schockierend. Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ereignete sich folgendes. Mouhamed Dramé hockte auf dem Hof der Jugendhilfeeinrichtung und hielt sich ein Messer an den Bauch. Der unbegleitete Flüchtling aus dem Senegal, dessen Eltern auf der Flucht verstorben sind, war unmittelbar suizid-gefährdet. Einen Tag zuvor verbrachte er 24-Stunden in der LWL-Klinik, weil die Gefahr der Selbsttötung bestand. Die Jugendhilfeeinrichtung an die Mouhamed weitergeleitet wurde konnte ihm nur begrenzt helfen, da sie nicht auf unbegleitete Geflüchtete ohne Deutschkenntnisse spezialisiert war. Obwohl der Polizei mitgeteilt wurde, dass es sich um einen Jugendlichen handelt, bei dem Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet, rückte sie mit 13 Polizist*innen an, die mit Anti-Terror-Waffen ausgerüstet waren. Von Anfang an war das Auftreten der Polizei aggressiv. Die Polizist*innen schrien Mouhamed an und als dieser nicht auf die für ihn fremde Sprache reagierte, schossen sie so viel Pfefferspray auf ihn, dass ihm die ätzende Flüssigkeit das Gesicht runterlief. Danach waren es nur noch wenige Momente bis die Polizist*innen das Leben von Mouhamed beendeten. Mouhamed stand auf und wischte sich die Flüßigkeit vom Kopf. Fast zeitgleich feuert die Polizei mit zwei Elektroschockern auf Mouhamed. Kurz drauf feuert ein Polizist zwei Feuerstöße aus seiner Maschinenpistole auf Mouhamed. Fünf von sechs Schüssen treffen Mouhamed. Inzwischen wird auch gegen einen weiteren Schützen – den Einsatzleiter – ermittelt. Auch er soll nach Zeugenaussage auf Mouhamed geschossen haben. Kurz darauf verschworen sich alle 13 Polizist*innen ihre Tat zu vertuschen. Inzwischen wurden die Handys der Polizist*innen beschlagnahmt, um die Chatverläufe auswerten.

Prof. Rafael Behr, Polizeiwissenschaftler an der Akademie der Polizei, erklärt gegenüber MONITOR, dass es überhaupt in dem Fall Beweismittel gäbe, sei ein Zufall. So hatten alle 13 Polizist*innen „vergessen“ ihre Bodycams einzuschalten. In seinem Aufsatz „Körperverletzung im Amt“ schreibt der Wissenschaftler Tobias Singelstein, dass bei Ermittlungen Polizist*innen eine Mauer des Schweigens errichten, Aussagen verweigern und sich gegenseitig decken. Trotz dieser Wendung in den Ermittlungen, sind die Medien überraschend still geworden. Man wünscht sich, dass nach all den Artikeln, die die Polizei in Schutz nahmen, jetzt eine Welle von Artikel über rassistische Polizeigewalt, wie Polizist*innen ihre Macht missbrauchen und lügen, veröffentlicht werden.

Konsequenzen

Innenminister Reul musste seinen ersten öffentlichen Erklärungen zurückziehen und präsentierte die vorläufigen Ermittlungsergebnisse auch dem Innenauschuss des Landtags NRW. Viele Fragen blieben auf Grund der laufenden Ermittlungen unbeantwortet. Das Innenministerium hat angekündigt Todesfälle bei Polizeieinsätzen der letzten fünf Jahre neu zu überprüfen. Inzwischen wird gegen fünf Polizist*innen wegen der Tötung von Mouhamed ermittelt, die anderen wurden in den Innendienst versetzt. Aber das ist nicht genug. Es ist nötig weiter auf die Straße zu gehen und Konsequenzen zu fordern. Alle 13 Polizist*innen, die sich verschworen haben, um ihr Verbrechen zu vertuschen, sollten aus dem Dienst entlassen werden. Die Polizist*innen gegen die jetzt ermittelt wird, sollten für ihre Taten konsequent bestraft werden.

Es ist traurig, aber wahr: Die Tötung von Mouhamed Dramé ist nur der Höhepunkt von einer Reihe rassistischer Polizeigewalt in Dortmund und ganz Deutschland. In der Dortmunder Nordstadt ist es ein offenes Geheimnis, dass die Polizei aggressiv, rassistisch und sexistisch agiert, aber selten wird davon berichtet. Wir müssen dafür kämpfen, dass die Polizei grundsätzlich unter die demokratische Kontrolle der Öffentlichkeit, dass heißt durch Gewerkschaften, Anwohner*innenvertretungen und Vertreter*innen des Migrationsrats und der gestellt wird, um polizeiliche Übergriffe zu ahnden und deren Zahl zu reduzieren. Diese Kontrollgremien müssen Einsicht in alle Akten und Dienstpläne bekommen, sowie das Recht haben gegebenenfalls Polizist*innen zu suspendieren. Die Polizei- und Versammlungsgesetze der letzten Jahre müssen zurückgenommen werden und die ständige Aufrüstung der Polizei beendet werden. Es braucht einen unabhängigen Ermittlungsausschuss der die weiteren Untersuchungen bei der Tötung von Mouhamed Dramé übernimmt, sowie in anderen Fällen von Polizeigewalt.

Gleichzeitig müssen wir den Kampf gegen rassistische Polizeigewalt mit dem Kampf für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit verbinden. Die Dortmunder Nordstadt ist besonders von Armut, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit geprägt. Diese Situation führt dazu, dass manche ihren Ausweg in Kriminalität oder Gewalt suchen. Der Staat reagiert darauf mit repressiver Gewalt, statt die Ursachen zu bekämpfen. Wir müssen uns für bezahlbaren und guten Wohnraum, Arbeit und kostenlose Bildung für alle einsetzen. Es braucht Investitionen in soziale Projekte. Mit einem solchen sozialistischen Programm können wir mehr Menschen für den Kampf gegen Rassismus und Polizeigewalt gewinnen. Um das zu erreichen, ist es notwendig, dass wir uns gemeinsam organisieren und dem bestehenden System den Kampf ansagen.

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