Stellungnahme des Internationales Sekretariats des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale vom 10.10.2022
1. Der Weltkapitalismus sieht sich heute mit einer verschärften Serie von multiplen Krisen konfrontiert – wirtschaftlichen, sozialen, geopolitischen und ökologischen. Weltweit und in praktisch allen Ländern herrscht heute eine höchst instabile und polarisierte Situation. Der Kapitalismus befindet sich in einem langwierigen Todeskampf und stolpert von einer Krise in die nächste. In vielen Ländern gibt es einen Aufschwung des Klassenkampfes und eine sozial und politisch explosive Situation. Die Wirtschaftskrise verschärft sich. Die Entscheidung Saudi-Arabiens und der OPEC, die Ölproduktion zu drosseln, wird die bestehenden Spannungen und Spaltungen noch verstärken. Gleichzeitig ist der blutige Krieg in der Ukraine eskaliert und in eine neue, intensivere Phase eingetreten, die in den letzten Stunden und Tagen militärische, politische und geopolitische Auswirkungen in der Ukraine, in Russland und auf internationaler Ebene hatte.
2. Die Krise der Lebenshaltungskosten hat die Arbeiter*innen und die Armen in fast allen Ländern getroffen und Streiks und Proteste in Großbritannien, Frankreich, den USA und anderen Ländern ausgelöst. Dies geschieht parallel zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Aussichten für den globalen Kapitalismus. Die politische Instabilität, die selbst die wichtigsten imperialistischen Mächte erfasst, spiegelt sich in Frankreich wider, wo Macron gezwungen war, von seinem Plan, das Rentenalter anzuheben, teilweise abzurücken. Es folgten die spektakuläre Kehrtwende und die politische Krise der neuen Regierung Truss in Großbritannien. Das Ausmaß der dortigen Krise deutet darauf hin, dass die Tories bei den nächsten Wahlen in eine historische Existenzkrise geraten könnten. Die Auswirkungen der Krise in Großbritannien können aufgrund der Größe der Wirtschaft und ihrer Abhängigkeit vom Finanzsektor auf die Weltwirtschaft übergreifen und eine internationale Finanzkrise auslösen. Die USA bleiben ein stark polarisiertes Land, in dem eine explosive Situation herrscht, die den Niedergang des US-Imperialismus widerspiegelt. Das ist ein zentraler Punkt im internationalen Klassenkampf.
3. Weltweit besteht eine stark polarisierte Situation. Dies spiegelt sich zum einen in den Wahlerfolgen der “Linken” – wenn auch einer verwässerten rosa Linken – in Lateinamerika wider. Die massiven Proteste im Iran sind von großer Bedeutung. Auf der anderen Seite ist das Wachstum der Rechtspopulist*innen und der extremen Rechten in Schweden, Italien und Norwegen zusammen mit dem starken Abschneiden von Bolsonaro in der ersten Runde der brasilianischen Wahlen zu nennen. Die große Mittelschicht und sehr unterprivilegierte Schichten der städtischen Armen in Brasilien und einigen anderen Ländern können eine gewisse soziale Basis für rechtsextreme Kräfte wie Bolsonaro bilden, wenn es keine sozialistische Massenalternative gibt. Das Fehlen von Massen-Arbeiter*innenparteien und einer radikalen sozialistischen Linken führt dazu, dass sich die Krise in einer sehr langwierigen Form entfaltet, mit Merkmalen von Revolution und Konterrevolution, die weltweit vorhanden sind.
4. Das Vakuum und die Führungskrise der Arbeiter*innenklasse spiegeln sich in den Massenaufständen in Sri Lanka, Sudan, Irak und zuvor in Chile und anderen Ländern wider, die keinen Weg nach vorne gefunden haben. Die Sackgasse, in die diese Bewegungen geraten sind, hat es den rechtsgerichteten bürgerlichen Kräften häufig ermöglicht, sich neu zu formieren und ihre Herrschaft zu festigen, allerdings auf einer äußerst instabilen Grundlage, die auf weitere soziale Explosionen hindeutet. Die Faktoren, die zu diesen Aufständen geführt haben, sind nicht beseitigt worden und werden sich in der nächsten Zeit wahrscheinlich noch verschärfen. Der anhaltende Kampf zwischen revolutionären und konterrevolutionären Zügen nimmt einen immer bittereren und schärferen Charakter an. Das Gleiche gilt für die verheerende wirtschaftliche, soziale und ökologische Krise, die Asien und Afrika erschüttert.
5. Vor diesem Hintergrund hat sich der Krieg in der Ukraine erheblich verschärft. Dies wird dramatische Auswirkungen auf die Weltlage und den Klassenkampf haben.
Rückschläge auf dem Schlachtfeld
6. Der Krieg in der Ukraine ist in eine blutigere Phase eingetreten, die voller Gefahren für die Ukraine, Russland und die Welt ist. Die verzweifelte, dramatische Kehrtwende Putins, der die Mobilisierung von 300.000 Reservisten ankündigte, verbunden mit seiner erneuten Drohung, Atomwaffen einzusetzen, sollte russisches Territorium bedroht werden, zeigt den Ernst dieser neuen Phase des Krieges. Es folgte die Ankündigung von “Volksabstimmungen” in vier Provinzen – Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja – und deren “endgültige” Eingliederung in die Russische Föderation.
7. Dies ist der größte Versuch einer Landnahme durch eine ausländische Macht in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein Gebiet von der Größe Portugals oder Serbiens, das 15 Prozent des ukrainischen Territoriums ausmacht. Dies stellt eine erhebliche Eskalation des Konflikts dar. Gleichzeitig hat die Ukraine erklärt, dass sie nicht in Friedensverhandlungen mit Russland eintreten wird, solange Putin Präsident bleibt, und einen Antrag auf beschleunigte Mitgliedschaft in der NATO gestellt.
8. Die westlichen imperialistischen Mächte reagierten mit verstärkten Sanktionen und weigerten sich, die annektierten Gebiete als Teil Russlands anzuerkennen. Der UN-Sicherheitsrat stimmte für eine Verurteilung der Annexionen, wogegen Russland aber ein Veto eingelegt hat. Bezeichnenderweise enthielten sich China, Indien, Brasilien und Gabun der Stimme. Es scheint unwahrscheinlich, dass der westliche Imperialismus die Ukraine in die NATO aufnehmen wird, aber wenn das geschehen sollte, wird es zu einer weiteren gefährlichen Eskalation des Konflikts kommen.
9. Während des Krieges ist die Bevölkerung in den vier Provinzen erheblich zurückgegangen. Es ist unklar, wie die Stimmung der Bevölkerung in diesen Gebieten gegenüber einem Beitritt zur Russischen Föderation ist. Die Menschen in diesen Gebieten haben das demokratische Recht, selbst zu entscheiden, welchen Status sie haben wollen – einen Teil der Ukraine, Russland, autonome Gebiete oder unabhängig. Dies kann jedoch nicht auf demokratische Weise unter den Bajonetten des russischen oder ukrainischen Militärs entschieden werden.
10. Putins Ankündigung einer Teilmobilisierung der Bevölkerung löste zunächst kleine, aber bedeutende Proteste in vielen russischen Städten aus, die brutal unterdrückt wurden. Einem Teil der Demonstrant*innen wurden Einberufungspapiere ausgehändigt, um sie zu bestrafen und einzuschüchtern und von weiteren Protesten abzuschrecken. Einigen Berichten zufolge sollen in Wirklichkeit bis zu einer Million Menschen einberufen werden. Es ist das erste Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, dass die Bevölkerung zum Militär mobilisiert wird.
11. Diese dramatische Veränderung der Lage wird der Masse der russischen Bevölkerung die Realität des Krieges drastisch vor Augen führen, die viele wahrscheinlich versucht haben, aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen, da sie bisher im wesentlichen nicht direkt davon betroffen waren. Die Mobilisierung ist ein großes Wagnis für Putin. Hunderttausende haben versucht, aus dem Land zu fliehen, um nicht in den Konflikt hineingezogen zu werden. Die Flüge aus Russland sind überfüllt, und die Preise für Flugtickets sind in die Höhe geschossen. Tausende standen an den Grenzen zu Kasachstan, Finnland, Georgien und anderen Ländern Schlange, weil sie verzweifelt versuchten, aus dem Land zu fliehen, um nicht in den Krieg zu ziehen. Auch wenn es sich um einen individuellen Akt des zivilen Ungehorsams handelt, so ist er doch ein wichtiger Vorbote für einen Stimmungsumschwung in der russischen Bevölkerung.
12. Putins Kehrtwende zu einer teilweisen Mobilisierung erfolgte nach den bedeutenden Fortschritten der Ukraine an der nordöstlichen Front des Krieges und der offensichtlichen Zurückdrängung der russischen Streitkräfte in der Region Charkiw. Innerhalb weniger Tage rückte das ukrainische Militär um 8000 bis 9000 Quadratkilometer vor. Zuvor waren die russischen Streitkräfte jeweils nur ein bis zwei Kilometer vorgedrungen. Die russischen Streitkräfte schienen von dem Angriff überrascht worden zu sein. Einigen Berichten zufolge ignorierten die russischen Kommandeure nachrichtendienstliche Warnungen, dass diese Offensive geplant war. Zu dieser Niederlage in der Ostukraine kommt nun noch der demütigende Rückzug der russischen Streitkräfte aus Lyman in Donezk hinzu, das nun von ukrainischen Streitkräften besetzt ist – ein Teil der von Putin nur 24 Stunden zuvor annektierten Gebiete. Diese jüngste Niederlage ist von strategischer Bedeutung und stellt einen weiteren Schlag für das russische Militär dar. Zu diesen Niederlagen auf dem Schlachtfeld kommt nun noch die Explosion auf der Brücke von Kertsch hinzu, die die Krim mit Russland verbindet. Dies ist eine wichtige Nachschublinie für die russischen Streitkräfte. Die Explosion ist eine weitere Demütigung für Putin, die Brücke war ein Prestige-Infrastrukturprojekt, das er eröffnete, als er damit prahlte, dass sie niemals angegriffen werden könne, da sie von Raketen und sogar militärisch ausgebildeten Delphinen verteidigt werde! Russland hat nun mit einer Reihe von Raketenangriffen in der Ukraine zurückgeschlagen und damit den Krieg weiter eskalieren lassen.
13. Im Krieg hängt die Bedeutung einer Landnahme nicht von der Größe des eroberten Gebietes ab. Gelegentlich kann die Besetzung großer Gebiete von geringer Bedeutung sein. In anderen Fällen kann die Besetzung kleiner Gebiete eine große Wirkung haben. Es kommt darauf an, welche strategische Bedeutung das betreffende Gebiet hat und welche Auswirkungen es auf die gegnerischen Armeen hat. Die Folgen der Offensive in der Region Charkiw waren erheblich. Sie war ein schwerer Schlag für das Prestige und das Ansehen der russischen Armee und des Regimes von Putin. Sie hat auch das Vertrauen und die Moral des ukrainischen Militärs gestärkt. Militärisch gesehen wurden die Nachschublinien für die russischen Streitkräfte in der Region beschädigt. Putin wurde durch diesen Rückzug in die Enge getrieben.
14. Die Niederlage der russischen Armee in diesem Gebiet hat die vermeintliche Unbesiegbarkeit des russischen Staates erschüttert. Sie hat Putins umkämpftes Regime erzürnt und es zu drastischen Maßnahmen gezwungen, um zurückzuschlagen. Der militärische Sieg an dieser Front ist zum Teil auf die hohe Moral der ukrainischen Streitkräfte zurückzuführen, die sich in der niedrigen Moral der russischen Streitkräfte widerspiegelt. Die Moral der konkurrierenden Armeen ist in der Kriegsführung von entscheidender Bedeutung. Napoleon argumentierte, dass im Krieg “drei Viertel des Sieges auf die Moral und nur ein Viertel auf das Gleichgewicht der Streitkräfte zurückzuführen sind”. Die Vorstöße in der Ukraine haben auch gezeigt, dass die vom Westen gelieferte moderne Artillerie allmählich wirksam wird, wenn sie gegen ältere und weniger wirksame russische Waffen eingesetzt wird. Ein noch längerer Krieg wird die Moral noch weiter schwächen, wenn sich die Leichensäcke stapeln und sich die wirtschaftliche und soziale Lage verschlechtert.
15. Gleichzeitig erweist sich die Schlacht im Süden um Cherson als ein viel blutigeres und schwierigeres Terrain für die ukrainischen Streitkräfte, die dort ebenfalls eine Offensive gestartet haben. Die russischen Streitkräfte waren dort besser auf einen Angriff vorbereitet und die Befestigungen viel stärker. Russland ist entschlossen, dieses Gebiet der Ukraine zu halten, weil es die Halbinsel Krim schützt. Hier scheinen die ukrainischen Streitkräfte nicht über ausreichende Artillerieunterstützung zu verfügen, um vor einer Bodenoffensive eingesetzt werden zu können. Infolgedessen erleidet die Ukraine größere Verluste durch Artillerieangriffe. Allerdings scheint es den ukrainischen Streitkräften nun auch dort gelungen zu sein, die Frontlinie um Cherson zu durchbrechen, was als einer der schnellsten Vorstöße in diesem Krieg bezeichnet wird. Russland hat nun keine der annektierten Provinzen mehr vollständig unter seiner Kontrolle. Es hat jetzt weniger Gebiete unter seiner Kontrolle als nach der ersten Woche des Krieges.
16. Es ist unwahrscheinlich, dass die Erfolge der Ukraine im Nordosten zu einem unmittelbaren Sieg der Ukraine oder zu einem Ende des Krieges führen werden. Es ist auch nicht sicher, dass diese ukrainischen Siege von Dauer sein können. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass Russland letztendlich mit einer Niederlage konfrontiert werden könnte, wenn die Situation nicht umgedreht wird. Diese Möglichkeit bzw. der Zerfall des russischen Militärs nimmt mit der Entwicklung des Krieges zu. Ein Zeichen für die Turbulenzen innerhalb der russischen Kommandostruktur ist die Entlassung des Chefs des westlichen Kommandos, Generaloberst Alexander Schurawljow. Sergej Surowkin wurde zum Oberbefehlshaber an der ukrainischen Kriegsfront ernannt. Er ist bekannt für seine brutale Taktik, die er 2017 im Krieg in Syrien eingesetzt hat. Ein Zusammenbruch oder ein weiterer Teilzusammenbruch der russischen Streitkräfte ist nicht auszuschließen. Das hätte existenzielle Folgen für Putin und möglicherweise sein mafiöses Regime. Es ist die drohende Niederlage, die jetzt Putins Reaktion bestimmt.
Wachsende Spannungen
17. Das ukrainische Regime und einige der westlichen imperialistischen Mächte wollen den jüngsten militärischen Sieg als Grundlage für den Versuch nutzen, Russland aus der gesamten Ukraine zu vertreiben, von der es derzeit weniger als zwanzig Prozent besetzt hält. Einige, darunter Selenskji, haben die Frage aufgeworfen, Russland ganz aus der Ukraine, einschließlich der Krim, zu vertreiben. Die Rückeroberung der Krim wäre ein weitaus schwierigeres Ziel für die Ukraine. Die Krim ist die Basis für russische Reservekräfte, Munition und Ausrüstung. Zweifellos gab es auf der Krim eine wichtige soziale Basis für die Wiedereingliederung in die Russische Föderation im Jahr 2014. Wie es dort heute aussieht, ist ungewiss. Erschwerend für die Ukraine kommt jedoch hinzu, dass seit 2014 schätzungsweise 500.000 bis 800.000 Russ*innen auf die Halbinsel gezogen sind. Es wäre ein blutiger, brutaler Kampf nötig, damit die Ukraine sie wieder zurückerobern kann.
18. Die Durchsetzung der Mobilisierung in Russland hat die Flucht von Hunderttausenden aus dem Land ausgelöst, hauptsächlich aus der Mittelschicht, die es sich leisten kann, das Land zu verlassen. Die Einberufung wurde durchgesetzt, aber in vielen Bereichen mit großen Problemen. Ein Teil der Bevölkerung akzeptiert dies zweifellos, allerdings nur widerwillig. Erhebliche Teile der Bevölkerung sehen es immer noch als ihre “patriotische Pflicht” an. Diese beträchtliche Bevölkerungsschicht gibt es derzeit zweifellos, vor allem außerhalb der großen städtischen Zentren, und sie wird sich dem Aufruf zur “Verteidigung des Vaterlandes gegen die westliche Aggression” anschließen. Das Putin-Regime betreibt eine massive Propagandakampagne, dass die westlichen Mächte Russland angreifen und schwächen wollen. Seine Rede, in der er die Annexion erklärte, war eine Anprangerung der Heuchelei des westlichen Imperialismus, die den russischen Chauvinismus anheizen sollte.
19. Putins Angriffe auf die historische Rolle des westlichen Imperialismus in Indien, das Abschlachten der indigenen Völker Amerikas, die Ausplünderung Afrikas und die Kriege gegen China werden in einigen Teilen der neokolonialen Welt Widerhall finden. Ebenso wie sein Hinweis, dass die USA bereits in Hiroshima und Nagasaki Atomwaffen eingesetzt und damit “einen Präzedenzfall geschaffen” haben. Gleichzeitig griff er den Westen hysterisch als “Satan” an und verteidigte in einem Appell an konservativere reaktionäre Elemente vehement “traditionelle” Familienwerte. Dies ist Teil der Propaganda des Regimes für eine Eskalation des Konflikts. Die offensichtliche Sabotage der Nord-Stream-Gaspipeline dürfte Teil dieser Strategie sein, auch wenn beide Seiten die jeweils andere Seite beschuldigen, dies getan zu haben. In der EU und auf dem Balkan gibt es Spannungen und Zusammenstöße wegen Gas, Sanktionen usw. In einigen Ländern Mitteleuropas und des Balkans gibt es Anzeichen für eine weit verbreitete Ablehnung von Sanktionen gegen Russland.
20. Gleichzeitig wächst der Widerstand gegen den Krieg, und er wird weiter wachsen, sollte er sich zu einem noch längeren und blutigeren Konflikt ausweiten. Der Ausschluss von Universitätsstudenten von der Einberufung spiegelt die Befürchtungen des Regimes wider.
21. Die Fortsetzung eines langwierigen, blutigen Krieges mit geringen Aussichten auf einen Sieg wird schließlich zu einem großen Bewusstseinswandel und zur Entwicklung einer massiven Opposition gegen Putin und seinen Krieg führen. Wie lange es dauert, bis sich dies entwickelt, wird sich im Zuge der sich rasch entwickelnden Ereignisse zeigen. Putin hat jedoch ein großes Risiko auf sich genommen, indem er diesen Weg eingeschlagen hat, und er wird diese Entwicklung beschleunigt haben.
22. Nach dem Einmarsch Russlands und dem Scheitern eines entscheidenden Sieges haben die Führer*innen des westlichen Imperialismus den Krieg mit dem Ziel fortgesetzt, Russland zu schwächen. Einige wollen damit einen Regimewechsel in Moskau herbeiführen, der zum Sturz von Putins Regime führen soll. Die westlichen imperialistischen Führer*innen haben jedoch keine einheitliche Position in dieser Frage. Einige befürchten, dass das, was an die Stelle Putins treten würde, noch schlimmer sein könnte.
23. Putin sieht sich der Kritik von russischen Nationalisten ausgesetzt, die den Krieg unterstützen, ihn aber entschlossener führen wollen. Die militärische Niederlage, die Russland in Charkiw und anderswo erlitten hat, hat sie gestärkt und Putin dazu gebracht, diese neuen Maßnahmen zu ergreifen, denen noch weitere folgen werden. Zuvor hatte er es vermieden, die Reserve einzuberufen, weil er befürchtete, damit noch mehr Widerstand gegen den Krieg zu provozieren. Jetzt bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu versuchen, zurückzuschlagen.
24. Eine Änderung der Kriegsziele Putins wurde seinem Regime bereits früher aufgezwungen, da es ihm nicht gelang, die Hauptstadt Kiew einzunehmen und die gesamte Ukraine zu besetzen. Das Regime war gezwungen, sein ursprüngliches Ziel, Kiew und die gesamte Ukraine einzunehmen, aufzugeben und den Krieg fortzusetzen, um die östlichen Provinzen und den Donbass zu kontrollieren, die einen Korridor zur Krim bilden.
25. Dies ist nun sein wichtigstes Kriegsziel, und selbst dieses ist in Gefahr. Die Einberufung von mindestens 300.000 Reservisten erfolgte in diesem Sinne. Militärisch gesehen dürfte die Einberufung jedoch nur eine begrenzte Wirkung haben und könnte sich für Putin als Rückschlag erweisen. Es wird Monate dauern, bis diese neuen Kräfte ausgebildet und eingesetzt sind. Einigen Berichten zufolge verfügt der russische Staat nicht über genügend Offiziere, um die vorhandenen Wehrpflichtigen und die neuen Rekruten der Armee auszubilden, ganz zu schweigen von einem Zustrom von 300.000 Mann. Selbst wenn sie eingesetzt werden, wird der Widerwille, in einen blutigen militärischen Konflikt eingezogen zu werden, die Moral vieler oder der meisten dieser neuen russischen Streitkräfte weiter untergraben. Wie das alte britische Militärsprichwort sagt, ist ein Freiwilliger mehr wert als hundert unter Druck gesetzte Männer!
26. Auf der Krim zielt das Regime auf die Verpflichtung der Tataren ab, was eine Form der nationalen Unterdrückung ist. Auch andere ethnische Gruppen, z. B. in Dagestan, wurden ins Visier genommen, was zu Unruhen geführt hat. Dies deutet nicht darauf hin, dass durch die Einberufung eine zuverlässige Kriegsmaschine zusammengeschweißt wird.
27. Das ukrainische Militär wird wahrscheinlich versuchen, die kommenden Wochen vor dem Wintereinbruch zu nutzen, um weitere Vorstöße zu sichern und das bereits Eroberte zu konsolidieren. Die Angliederung der vier Provinzen an die Russische Föderation bedeutet, wie Putin ausdrücklich klargestellt hat, dass jeder Angriff der ukrainischen Streitkräfte auf diese Provinzen als ein Angriff auf die Russische Föderation betrachtet wird, der mit allen Mitteln verteidigt wird! Auch wenn er noch nicht auf den Fall von Lyman reagiert hat, fällt dies in diese Kategorie.
Nukleare Eskalation?
28. In dieser Situation könnte ein in die Ecke gedrängter Putin, wenn er mit einer existenziellen Bedrohung seines Regimes konfrontiert wird, unvorhersehbar und verzweifelt zuschlagen, einschließlich des möglichen Einsatzes einer taktischen Atomwaffe oder einer anderen Massenvernichtungswaffe, wie er bereits angedroht hat. Russland verfügt über schätzungsweise 2.000 solcher “kleinen” Atomwaffen.
29. Die Möglichkeit, dass Putin auf den Einsatz einer solchen Waffe oder anderer Massenvernichtungswaffen zurückgreift, ist durch die militärischen Rückschläge seines Regimes gestiegen und könnte sich weiter erhöhen, wenn die russische Armee weitere Niederlagen erleidet oder sich aufzulösen beginnt. Ob er seine Drohungen, diese Waffen einzusetzen, wahr macht, ist zwar alles andere als sicher, aber zusammen mit der Möglichkeit einer nuklearen Explosion im Kraftwerk von Saporischschja sind sie ernst zu nehmen. Er hat sie höchstwahrscheinlich als Taktik eingesetzt, um zu versuchen, den westlichen Imperialismus in die Schranken zu weisen. Doch die Gefahr, dass er versucht, diese Drohungen in die Tat umzusetzen, ist ernst zu nehmen.
30. Es ist möglich, dass Russland als Warnung eine Waffe über dem Meer oder einem anderen unbewohnten Gebiet detonieren lässt. Aber auch dann bestünde die Gefahr, dass es zu Vergeltungsmaßnahmen kommt.
31. Der stellvertretende Vorsitzende von Putins Sicherheitsrat, Dmitri Medwedew, argumentiert, dass die NATO und der Westen im Falle eines russischen Atomwaffeneinsatzes nicht mit einem nuklearen Sprengkopf reagieren oder direkt in der Ukraine intervenieren würden. Wie der Westen auf einen solchen Angriff reagieren wird, hängt zum Teil davon ab, was Putin zu tun versuchen wird. Eine nukleare Antwort ist jedoch sehr unwahrscheinlich.
32. Die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen und die anschließende Nichtanwendung könnte Putin weiter schwächen, wenn sein Bluff auffliegt. Gleichzeitig steht Putin unter dem Druck Chinas und anderer mit Russland sympathisierender Regime, diesen Weg nicht einzuschlagen. Ob die Elitetruppen, die solche Waffen kontrollieren, für Putin zuverlässig wären, würde sich bei den Ereignissen zeigen, aber die Arbeiter*innenklasse kann sich nicht darauf verlassen, dass sie den Einsatz einer solchen Waffe verhindern kann. Die Ernsthaftigkeit dieser Bedrohung verdeutlicht die neue Ära, in der sich der Weltkapitalismus jetzt befindet.
33. Der Charakter des Staatsapparats, den Putin aufgebaut hat – ein extrem autokratischer Mafia-Staat – bedeutet, dass die Kontrollen und Gegengewichte, die in einer anderen historischen Epoche existierten, nicht mehr in dem Maße vorhanden sind, wie sie es früher waren. Dieser Prozess hat sich in anderen autoritären bonapartistischen Regimen entwickelt oder wird sich entwickeln. Die Gefahr kann auch in anderen Konflikten auftauchen, die in der Ära der permanenten kapitalistischen Krise und des Konflikts, in der wir heute leben, ausbrechen werden. Nichtsdestotrotz könnte es irgendwann zu Spaltungen in Putins Regime kommen, und es könnte eine Art Palastputsch stattfinden, wenn ein Teil des Staates und der herrschenden Elite handelt, um Putin wegen des Schadens und der Bedrohung, die er ihren Interessen zufügt, abzusetzen.
34. Das bedeutet nicht, dass ein totaler Atomkrieg, der die Menschheit vernichten würde, droht. Aber der Einsatz von nuklearen oder anderen Massenvernichtungswaffen ist in der kommenden Zeit eine erhöhte Möglichkeit. Wenn Putin oder ein anderes Regime eine solche Waffe einsetzt, dann wird dies den Charakter der modernen Kriegsführung im Vergleich zu der Zeit nach 1945 verändern.
35. Putin könnte damit rechnen, dass die Androhung des Einsatzes einer solchen Waffe die Ukraine so terrorisieren könnte, dass sie den Osten an Russland abtritt, und eine Warnung für den westlichen Imperialismus darstellt. Dies dürfte jedoch nicht der Fall sein. Es ist unwahrscheinlich, dass der Krieg dadurch beendet wird. Putin müsste abwägen, ob ein solcher Schritt seinen Interessen in der Ukraine, in Russland und auf internationaler Ebene förderlich wäre. Wie wir jedoch bei der Führung des Krieges gesehen haben, könnte er die Situation auch falsch einschätzen. Der Westen wäre gezwungen, in irgendeiner Weise zurückzuschlagen, wenn auch nicht unbedingt mit einer Atomwaffe, was sehr unwahrscheinlich ist. Vor allem wegen der Reaktion, die dies in der Bevölkerung auslösen würde, aber auch wegen der Gefahr einer Eskalation.
36. Krieg ist nicht nur eine Frage der Logik. Er wird auch nicht nur von kurzfristigen wirtschaftlichen Vorteilen oder Interessen bestimmt. Im Krieg sind Fragen der Macht, des Prestiges und der strategischen Interessen entscheidende Faktoren. Dies gilt insbesondere für ein bonapartistisches Regime, das sich in einer existenziellen Krise befindet.
37. Der Einsatz einer Atomwaffe würde mit Sicherheit Massenproteste und Demonstrationen für Frieden und ein Ende des Konflikts in Europa, den USA und anderswo, einschließlich Russland, auslösen. Er würde die Unterstützungsbasis von Putins Regime schwächen, nicht stärken. In einigen Gebieten der neokolonialen Welt ist aufgrund der Feindseligkeit gegenüber den USA und dem westlichen Imperialismus, der für die Eskalation verantwortlich gemacht werden könnte, eine eher gemischte Reaktion möglich.
38. In einigen Ländern ist dies bereits zu beobachten. Imran Khan in Pakistan spiegelte dies vor seinem Sturz wider. Auch die Anprangerung der westlichen Heuchelei in Bezug auf den Ukraine-Krieg durch Südafrika in der UN-Vollversammlung hat dies verdeutlicht.
39. Die Bourgeoisie im Westen würde sich in solche Proteste einmischen und sie sogar initiieren, indem sie sich den Mantel der “Verteidiger der Demokratie gegen den tyrannischen Putin” umhängt. Die “Linke” und die meisten Gewerkschaftsführer*innen in den meisten Ländern würden in einer solchen Situation höchstwahrscheinlich nicht für eine unabhängige Klassenposition eintreten, was Sozialist*innenen und das CWI tun müssten. Der US-Imperialismus und die anderen westlichen Mächte wären jedoch nicht in der Lage, eine solche Bewegung als Grundlage für einen Gegenangriff auf die russischen Städte zu nutzen. Die Bewegungen würden wahrscheinlich vom Schrecken vor dem Krieg und der Bedrohung durch einen Atomkrieg sowie von Forderungen nach Frieden beherrscht werden.
Geopolitische Konsequenzen
40. Der Krieg in der Ukraine hat bereits erhebliche Auswirkungen auf die geopolitischen Beziehungen in der Welt gehabt. Das Wiederaufflammen der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschan und Armenien spiegelt dies zum Teil wider. Gleiches gilt für die kurzen Auseinandersetzungen zwischen Kirgisistan und Tadschikistan. Eurasien ist nun weit weniger stabil, da Russland nun als geschwächt wahrgenommen wird.
41. Die Komplikationen, mit denen Putin in der Ukraine konfrontiert ist, haben auch Xi und das chinesische Regime sowie Modi in Indien dazu veranlasst, “Zweifel” an den Geschehnissen in der Ukraine zu äußern. Beide haben sich von Russland distanziert. Dennoch können sie den westlichen Imperialismus und die Ukraine nicht unterstützen. Eine Niederlage Russlands wäre für das chinesische Regime trotz seiner Vorbehalte und Zweifel an der Rolle Russlands in diesem Krieg nicht positiv. Die chinesisch-russische Zusammenarbeit als Block gegen den westlichen Imperialismus ist, wie bei allen entstehenden Blöcken, instabil. China hat eigene Interessen, sowohl wirtschaftliche als auch geopolitische. Obwohl China immer der dominierende Partner in den Beziehungen zu Russland war, haben die Rückschläge Putins in der letzten Zeit Chinas Position weiter gestärkt. Ein gewisser Interessenkonflikt innerhalb Eurasiens zwischen Russland und China ist wahrscheinlich, da die Region immer instabiler wird.
42. Da der Ukraine-Krieg in diesem Jahr in den Mittelpunkt gerückt ist, hat der US-Imperialismus auch die Spannungen mit China verschärft. Der Trend zur Abkopplung der US-Wirtschaft von China wurde von Biden durch die Einführung von immer mehr Handelsbeschränkungen verstärkt. Zuletzt wurden grenzüberschreitende Geschäfte in den Bereichen künstliche Intelligenz, Quantencomputer und Biotechnologie verstärkt geprüft. Es besteht die klare Absicht, die Lieferketten und Finanzmärkte dem chinesischen Einfluss zu entziehen. Es ist ein Kampf um die Kontrolle der Lieferketten und Zukunftstechnologien. Wie weit dieser Prozess gehen kann, ist jedoch unklar. Ein völliger Bruch mit der chinesischen Wirtschaft, ihren Versorgungsketten und ihrer Rolle als wichtiges Montagezentrum wäre für den US-Kapitalismus katastrophal.
43. Diese wirtschaftlichen Trends, die den zunehmenden Interessenkonflikt zwischen dem aufstrebenden China und dem niedergehenden US-Imperialismus widerspiegeln, finden ihr Echo in der zunehmenden militärischen Aufrüstung im Südchinesischen Meer sowohl durch China als auch durch den US- und den westlichen Imperialismus. China hat mindestens drei der von ihm im umstrittenen Gebiet des Südchinesischen Meeres errichteten Inseln ausgerüstet und vor kurzem als Reaktion auf den provokativen Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, Militärübungen für eine Invasion Taiwans abgehalten. Das Potenzial für einen militärischen Konflikt in der Region hat sich in letzter Zeit erhöht und ist in einem bestimmten Stadium des anhaltenden Interessenkonflikts zwischen dem staatskapitalistischen China und dem US-amerikanischen und westlichen Imperialismus implizit. Ob es dazu kommt, ist ungewiss und nicht vorherbestimmt. Das Risiko ist jedoch in der Situation vorhanden.
44. Einige Kommentatoren haben kürzlich behauptet, dass China den Höhepunkt seines Wachstums und seiner potenziellen Entwicklung erreicht hat. Dies ist jedoch nicht sicher. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, verringert dies nicht die Möglichkeit, dass ein militärischer Konflikt zwischen den USA und China ausbricht, möglicherweise über Taiwan oder anderswo. In gewisser Hinsicht könnte eine Stagnation oder ein Niedergang in China die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das Land von einer innenpolitischen Krise ablenkt. Xi könnte den chinesischen Nationalismus anheizen und ein Abenteuer starten, um Taiwan wieder in China einzugliedern. Wie der US-Imperialismus auf eine solche Entwicklung reagieren würde, ist nicht sicher, aber sie hätte zweifellos entscheidende Folgen für die Weltbeziehungen und den globalen Kapitalismus.
45. China steht vor einer riesigen Schuldenkrise. Die Verlangsamung der Wirtschaft ist offensichtlich und trifft große Teile der Bevölkerung. Bis zu zwanzig Prozent der jungen Menschen sind arbeitslos. Die Krise der massiven Immobilienblase, die es gibt, wächst. Auf den Immobilienmarkt entfallen schätzungsweise zwanzig bis dreißig Prozent des chinesischen BIP. Die Hauspreise sind in China abgestürzt. Wenn man dann noch die erheblichen Proteste gegen die von COVID verhängten Lockdowns hinzunimmt, sind alle Voraussetzungen gegeben, dass das Regime mit einer sozialen und politischen Krise konfrontiert werden könnte.
46. Xi hat ein repressiveres und zentralisierteres Regime als bisher errichtet und die Macht in seinen Händen konzentriert. Eines seiner zentralen Ziele ist die Wiedereingliederung Taiwans in China. Der bevorstehende 20. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas wird Xi für eine dritte Amtszeit als Parteivorsitzender ernennen, in Wirklichkeit auf Lebenszeit, nachdem er 2014 die Begrenzung auf zwei Amtszeiten aufgehoben hat. Seine “Ideologie” ist nun die der Partei. Dies geht mit einer zunehmenden Zentralisierung und staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft einher. Eine Reihe von Verhaftungen einer Clique hochrangiger Sicherheitsbeamter wegen “Korruption”, darunter der ehemalige Vizeminister für öffentliche Sicherheit, Sun Lijun, und der ehemalige Justizminister, Fu Zhenghua, sowie die Polizeichefs von Shanghai, Chongqing und Shaxi sind von großer Bedeutung und fanden im Vorfeld des Parteitags statt.
47. Es scheint möglich, dass die Fraktion der Bürokratie um Xi herum gehandelt hat, um Teile der Elite zu unterdrücken, die zu “unabhängig” geworden sind und möglicherweise in Opposition zu Xis Fraktion, seinem Regime und seiner Politik stehen. Ein Teil der Bürokratie möchte möglicherweise die größere Machtkonzentration in Xis Händen eindämmen und wünscht sich eine “kollektivere” Führung. Dies war ein Prozess in der ehemaligen UdSSR unter Chruschtschow nach Stalins Tod. Als Reaktion darauf, dass die gesamte Macht in Stalins Händen konzentriert war, gab es in den Führungsetagen der KPdSU eine “kollektivere” Kontrolle. Inmitten dieser jüngsten Ereignisse in China kursierten unbegründete Gerüchte über einen Militärputsch und den Hausarrest von Xi, die möglicherweise darauf hindeuten, dass sich im Vorfeld des Parteitags eine Art Machtkampf anbahnte. Selbst wenn dies in letzter Zeit nicht der Fall war, deutet es darauf hin, was sich innerhalb des chinesischen Regimes zu einem bestimmten Zeitpunkt entwickeln könnte, nämlich ein eher pro-kapitalistischer, weniger zentralisierter Flügel in Opposition zu dem eher zentralisierten, autoritären Regime, das Xi durchgesetzt hat.
48. Die Frage der demokratischen Forderungen ist und wird bei den bevorstehenden Umwälzungen in China eine entscheidende Rolle spielen. Dies gilt insbesondere für die Arbeiter*innen, die Armen und die junge städtische, hoch gebildete Mittelschicht. Teile der herrschenden Elite und der Kapitalist*innenklasse, die gegen Xi sind, können sich in künftigen Auseinandersetzungen als “Demokrat*innen” präsentieren, die an die sehr große, junge Mittelschicht appellieren, wenn es um demokratische Rechte in den sozialen Medien, LGBTQ-Rechte und andere Themen geht. Gleichzeitig können Xi oder andere Parteifraktionen Unterstützung gewinnen, indem sie demagogisch Korruption und die “superreiche” Elite anprangern.
49. Angesichts der zunehmenden Opposition im eigenen Land und wachsender sozialer und wirtschaftlicher Probleme ist es nicht ausgeschlossen, dass Xi eine internationale Krise um Taiwan auslöst und versucht, es wieder in China einzugliedern. Dies hätte massive internationale Konsequenzen. Für Xi ist dies eine politische Schlüsselfrage und ein Ziel, das für ihn schon von zentraler Bedeutung war, bevor er eine zentrale und dominante Figur in der Führung wurde. China steht wie der globale Kapitalismus vor der Aussicht auf große soziale Umwälzungen und potenziell mächtige Kämpfe der größten industriellen Arbeiter*innenklasse der Welt, die große Auswirkungen auf die Arbeiter*innenklasse auf internationaler Ebene haben werden.
50. Der Krieg in der Ukraine verkörpert die Ära, in der sich der Weltkapitalismus jetzt befindet. Er ist Teil der globalen Krise, in der sich der Kapitalismus wirtschaftlich, in den geopolitischen Beziehungen und sozial befindet. Kriege sind dem Kapitalismus inhärent, da rivalisierende herrschende Klassen um Einfluss und Macht konkurrieren. Wie der Krieg in der Ukraine “beendet” werden wird, ist ungewiss. Ein Friedensabkommen zum jetzigen Zeitpunkt ist für beide Seiten äußerst schwierig zu akzeptieren. Es ist möglich, dass Russland besiegt wird, was zur Absetzung Putins und möglicherweise seines Regimes führt. Alternativ dazu könnte sich der Krieg in einer noch längeren Form hinziehen, was enorme politische Folgen, insbesondere in Russland, hätte. Selbst mit einer Art formellem Waffenstillstandsabkommen wird der zugrunde liegende Konflikt nicht gelöst werden, sondern in der einen oder anderen Form weitergehen. Selbst eine Niederlage Russlands wird nicht dazu führen, dass der russische Chauvinismus in Teilen der Bevölkerung zunimmt, was sich insbesondere in Gebieten mit einem hohen Anteil russischstämmiger Bevölkerung in Zusammenstößen äußern wird.
51. Nur wenn das russische und das ukrainische Volk die Macht selbst in die Hand nehmen, die Oligarchen und die bestehenden politischen Regime absetzen, wird es möglich sein, die Krise und weitere drohende Kriege zu überwinden. Der Abzug der russischen Truppen, das demokratische Selbstbestimmungsrecht aller Völker in allen Bereichen und die Einsetzung demokratischer Regierungen der Lohnabhängigenn, die den Kapitalismus beenden und die Grundlage für den Aufbau einer demokratischen sozialistischen Alternative schaffen, ist der einzige Weg, um die Krise im Interesse der Völker der Ukraine und der Russischen Föderation zu lösen.
52. Der Zusammenstoß zwischen dem US-amerikanischen und westlichen Kapitalismus und China ist die entscheidende Frage in der sich entfaltenden geopolitischen Situation. Gleichzeitig verkörpern der Krieg in der Ukraine und die Krise in Russland die neue Ära, in der sich der Kapitalismus befindet. Der langwierige Todeskampf des Kapitalismus macht jeden Tag deutlicher, dass die Krise der Führung der Arbeiter*innenklasse gelöst werden muss und dass es dringend notwendig ist, Arbeiter*innenparteien mit einem revolutionären sozialistischen Programm wieder aufzubauen, um mit dem Kapitalismus zu brechen. Kein anderer Weg wird weitere Kriege, den drohenden Einsatz von Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen, blutige Konflikte und das Leid der Menschheit abwenden.