Vor 30 Jahren: 40.000 auf erster europaweiter Demonstration gegen Rassismus

CWI-Mitglieder gründeten Jugend gegen Rassismus in Europa (JRE)

Auf Initiative von Mitgliedern des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI), dessen deutsche Sektion die Sol ist, demonstrierten am 24. Oktober 1992 40.000 Menschen, vor allem Jugendliche, in Brüssel gegen Rassismus. Das war die erste internationale Demonstration gegen Rechts. Daraus entstand die Initiative „Jugend gegen Rassismus in Europa“ (JRE), die in vielen europäischen Ländern tausende Jugendliche organisierte und viele wichtige Aktionen und Mobilisierungen gegen Rassismus, Nazis und Kapitalismus durchführten. Bei der Gründungskonferenz in Deutschland waren 200 Jugendliche anwesend und die Organisation entwickelte sich schnell zur erfolgreichsten antifaschistischen Initiative in Deutschland mit Gruppen in über fünfzig Städten.

Von Sascha Staničić, von 1992 bis 1995 Bundessprecher von JRE in Deutschland

Hintergrund der Gründung von JRE war ein europaweites Anwachsen von faschistischen Aktivitäten. Insbesondere in Deutschland hatte es die Pogrome und Mordanschläge von Rostock, Mölln und Solingen gegeben. Die Bundesregierung, alle etablierten Parteien und die pro-kapitalistischen Medien hatten den Zuzug von Asybewerber*innen zum Hauptproblem der Bundesrepublik erklärt, das Asylrecht wurde sturmreif geschossen (und 1993 dann extrem eingeschränkt) und die Faschisten empfanden das als Rückenwind. Nazi-Parteien wie die NPD oder DVU erhielten Zulauf, es gab so genannte „national befreite Zonen“ in manchen, vor allem ostdeutschen, Städten, in denen Faschisten die Straßen kontrollierten und Migrant*innen und Antifaschist*innen nicht sicher sein konnten. Vor diesem Hintergrund hatte sich eine Massenbewegung gerade unter Jugendlichen, aber auch in breiten Teilen der Gesamtbevölkerung gegen faschistischen Terror und gegen das Anwachsen faschistischer Organisationen entwickelt. JRE hat sich dabei als die dynamischste, aktivste und ein politisches Programm aufweisende Jugendorganisation schnell entwickeln können.

Delegation von JRE Deutschland bei der Großdemonstration gegen die BNP-Zentrale 1993 in London

Aber das Wachstum von Rassismus und Faschismus war kein deutsches Phänomen. Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus in Osteuropa und der früheren Sowjetunion war die Linke und die Arbeiter*innenbewegung ideologisch in der Defensive. Der Sieg des Kapitalismus über die bürokratischen Kommandowirtschaften hatte aber keine positive Wirkung für die Lebensbedingungen der Massen – in den vormals stalinistischen Planwirtschaften gab es massive Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit, aber auch in den westlichen kapitalistischen Staaten hatten die Lohnabhängigen nichts vom Sieg der Kapitalisten. Entsprechend gab es verbreitete Unzufriedenheit und angesichts der Verbürgerlichung und des Rechtsrucks der Sozialdemokratie und des Fehlens starker linker und sozialistischer Alternativen, konnten rechtsextreme Kräfte einen Teil der Unzufriedenheit in rassistische Bahnen lenken. In Österreich war die FPÖ stark, in Belgien der Vlaams Blok, in Großbritannien machte die British National Party von sich hören, in Frankreich die Front National und in Schweden gab es rechtsextreme Mordanschläge auf linke Aktivist*innen. Und auch die Gegenreaktion von Jugendlichen und Arbeiter*innen war ein europaweites Phänomen, wenn auch in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt.

Internationalismus

JRE hat sich letztendlich durch drei zentrale Aspekte hervorgehoben. Der erste war der internationale Aspekt. Wir haben gesagt, die Faschisten sind international auf dem Vormarsch und international verschärft sich der staatliche Rassismus durch diskriminierende Ausländergesetze, Abschiebungen usw. Also müssen wir dem international etwas entgegen setzen.

JRE Festival 1993 in Liverpool

Das hat seinen Anfang genommen mit der internationalen Demonstration am 24. Oktober 1992 in Brüssel, an der über 40.000 Jugendliche aus elf verschiedenen Ländern teilnahmen. Als das CWI im Frühjahr des Jahres den Plan für diese Demonstration erarbeitet hatte, gab es auch Skepsis über die Erfolgsaussichten für diese Kampagne, nicht zuletzt unter deutschen Genossinnen und Genossen. Es war ein kühner Plan, aber wir wären damals schon zufrieden gewesen, wenn 5000 Menschen unserem Aufruf gefolgt wären. Dass es dann 40.000 wurden war überwältigend, hatte aber natürlich mit den Ereignissen des Sommers 1992, unter anderem den rassistischen Pogromen von Rostock zu tun. Der Erfolg der Demonstration ist aber ein Beispiel dafür, dass man als sozialistische Organisation auch den Mut zu kühnen Initiativen braucht, wenn man eine grundlegend richtige Analyse der Situation angestellt hat. Damals sind allein aus Deutschland über 5000 Menschen nach Brüssel gefahren. In den zwei Wochen vor dem 24. Oktober kamen täglich Gruppen dazu, die Busse organisierten. In Aachen stellten Busunternehmen sogar kostenlos Reisebusse zur Verfügung.

Wir haben immer dem internationalen Austausch und internationalen Kampagnen einen sehr großen Stellenwert zugemessen. Wir haben zum Beispiel 1994, innerhalb von sechs Monaten, ein internationales Zeltlager in Deutschland organisiert, an dem 1.200 Jugendliche teilnahmen. Dafür gründeten wir in Köln ein Büro und bildeten ein „Camp-Team“, in dem einige wenige bezahlte Kräfte arbeiteten, aber vor allem viele junge Genoss*innen aus verschiedenen Ländern ehrenamtlich arbeiteten, um aus dem Camp einen Erfolg zu machen. Hätten wir ein solches Camp ein Jahr früher organisiert, wären wahrscheinlich doppelt oder dreimal so viele Jugendliche gekommen, denn 1994 war der Höhepunkt der antirassistischen Massenbewegung schon überschritten. Trotzdem war das JRE-Camp, das unter dem Motto „No Pasaran“ („Sie kommen nicht durch – der Schlachtruf der Antifaschist*innen im Kampf gegen den Faschismus im Spanischen Bürgerkrieg) ein Erfolg und wurde unter anderem mit einem Sonderbericht auf dem Musiksender MTV gewürdigt.

Dass damals auch Polizeispitzel aus Großbritannien beim Camp zugegen waren, wurde erst Jahre später bekannt. Dass JRE auch in Deutschland beobachtet und infiltriert wurden, wurde uns damals aber klar, als Bundestagsabgeordnete durch den Staatsschutz davor gewarnt wurden, dass JRE Bürobesetzungen plane – was wir nur im internen Kreis besprochen hatten.

Antikapitalismus

Zweitens hat JRE gesagt, dass die Ursachen von Faschismus und Rassismus bekämpft werden müssen, und diese auch klar in der kapitalistischen Gesellschaft benannt. Wir haben es nicht bei moralischen Appellen gegen die Unmenschlichkeit der Nazis belassen, sondern erklärt, dass das Anwachsen der Nazis in einem direkten Zusammenhang steht zu den sozialen Problemen, den gesellschaftlichen Widersprüchen, Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau, Zukunftsängsten. Wir haben auch erklärt, dass der beste Kampf gegen Rassismus der gemeinsame Kampf für soziale Verbesserungen von Lohnabhängigen und Jugendlichen aller Nationalitäten ist.

Österreichische Delegation auf der JRE Demonstration in Brüssel im Oktober 1992

Drittens waren wir der Meinung, dass man die Nazis konfrontieren muss, dass man getreu dem Motto „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ den Nazis nicht die demokratischen Rechte gewähren darf, die sie abschaffen wollen. So haben wir es immer wieder geschafft, in direkten Massenmobilisierungen gegen faschistische Aktivitäten solche zu verhindern. Dabei bestand allerdings ein wichtiger Unterschied zur autonomen Strategie: dass wir immer versucht haben, solche Aktionen mit größtmöglicher Öffentlichkeit vorzubereiten und breite Teile der Jugend und der Arbeiterklasse zu mobilisieren.

JRE-Aktionen

Sogab es auf örtlicher Ebene unzählige Aktionen, wo wir immer wieder faschistische Versammlungen, Aufmärsche, Infostände verhindert haben. Die JRE-Gruppe in Lindau hat sich zum Beispiel als „Junge Rechtsextremisten (JRE)“ getarnt in eine Versammlung der Republikaner gemogelt und diese dann zum Abbruch gebracht. In Kassel haben wir eine Demonstration mit 1800 Teilnehmer*innen organisiert, die an den Wohnungen von Nazi-Kadern vorbei zog und diese geoutet haben. In Köln haben wir unter dem Motto „Keine Brötchen für Manfred Rhous“ den Ober-Nazi der Stadt in seinem Stadtteil isoliert und es tatsächlich erreicht, dass er wegzog. Wir haben Stadtteilarbeit in ostdeutschen Plattenbausiedlungen gemacht. Wir haben aber auch in Siegen an der Organisierung eines Schüler- und Azubistreiks gegen die Schließung eines Stahlwerks teilgenommen und in Stuttgart Proteste gegen Kürzungen bei Jugendhäusern organisiert. Die sicherlich erfolgreichsten Aktionen war die Verhinderung von zwei Bundesparteitagen der NPD im Jahr 1993. Damals haben wir zusammen mit Thüringer Gewerkschafter*innen die NPD durch drei Bundesländer gejagt, was dann als Tour d’Antifa in die Geschichte eingegangen ist. Damals hatte die NPD nur angekündigt, ihren Parteitag in Thüringen durchzuführen und wir hatten hunderte Antifaschist*innen mit genügend Autos nach Erfurt mobilisiert. Dort kam dann zuerst die Information an, die NPD tage in Fulda, wo wir dann eine Demonstration durch die Stadt durchführten, um dann darüber informiert zu werden, dass die Faschisten im niedersächsischen Coppenbrügge ihren Parteitag begonnen hatten. Zusammen mit Anwohner*innen belagerte JRE dann das Tagungsgebäude und zwang die NPD zum Abbruch der Veranstaltung. Ein zweiter Parteitag wurde in Bayern verboten aus Sorge vor ähnlichen Protesten durch JRE.

Flugblatt zur JRE Demonstration in Brüssel

Ähnliche Aktionen fanden durch JRE auch in anderen Ländern statt. Insbesondere die Kampagne der britischen JRE gegen die Zentrale der British National Party in London war ein großer Erfolg, die zu mehreren Massendemonstrationen und letztlich zur Schließung des BNP-Büros führte.

Wir haben auch antifaschistische Konzerte organisiert. Auf einem Konzert im Rahmen der JRE-Bundeskonferenz 1994 in Frankfurt am Main trat unter anderem Justin Sullivan, Sänger der erfolgreichen britischen Band New Model Army auf. Die britische JRE hat sogar einen CD-Sampler herausgebracht, für den Bands wie Chumbawamba, Jamiroquai und Björk Songs zur Verfügung gestellt haben.

Fast schon legendär war der JRE-Ordner*innen- und Sanitätsdienst für Demonstrationen. Dies war uns sehr wichtig, weil wir bei Demonstrationen sowohl den Nazis als auch der oft gegen die Antifaschist*innen agierenden Polizei möglichst geschlossen und organisiert entgegen treten wollten, auch um einen effektiven Schutz für alle Demonstrationsteilnehmer*innen gewähren zu können. Als es bei der Großdemonstration nach dem tödlichen Brandanschlag von Solingen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der türkischen faschistischen Grauen Wölfe und Antifaschist*innen kam, zog das Deutsche Rote Kreuz seine Sanitäter*innen aus Eigenschutz von der Demonstration ab und nur JRE-Sanitäter*innen konnten Verletzte versorgen.

Teil der Arbeiter*innenbewegung

JRE hatte dabei keinen Alleinvertretungsanspruch. Für uns war immer klar, dass wir mit allen Teilen der Linken und der Arbeiter*innenbewegung gegen die Faschisten kämpfen und mobilisieren wollen. Wir haben ganz viele Aktionsbündnisse mit Gewerkschaftsjugenden, mit anderen antifaschistischen Gruppierungen, mit linken Organisationen gebildet. Schon zur Demonstration im Oktober 1992 in Brüssel hatten verschiedene Gremien von Gewerkschaftsjugenden aufgerufen. An der JRE-Bundeskonferenz 1994 hat dann zum Beispiel der Bundesjugendsekretär der Chemiegewerkschaft teilgenommen. Als die Bundesregierung 1994 ein Verbot von JRE diskutierte gab es sehr viel Solidarität nicht zuletzt aus der DGB-Jugend.

Aber JRE war damals sicher die am schnellsten wachsende Jugendorganisation, wobei wir eher so etwas wie eine organisierte Bewegung als eine feste Organisation waren. Wir hatten auf dem Höhepunkt in Deutschland in gut fünfzig Städten Gruppen, die sich uns angeschlossen hatten. Dort waren mit Sicherheit weit über tausend Jugendliche mehr oder weniger fest organisiert. Europaweit hat JRE sicher viele Zehntausende organisiert und aktiviert.

Die Attraktivität von JRE machte damals die Verbindung eines offenen und einladenden Organisationskonzeptes, die Orientierung auf Massenmobilisierungen und auf direkte Konfrontationen gegen Faschisten und der Kampf gegen die Ursachen des Wachstums von Rassismus und Faschismus aus. Damit unterschied sich JRE von autonomen Antifa-Gruppen, die oftmals sehr geschlossen und geradezu klandestin agierten und etwas Elitäres ausstrahlten, aber auch von den Versuchen bürgerlicher Kräfte und der Sozialdemokratie einen rein moralisch begründeten Antifaschismus zu betreiben, der weder den staatlichen Rassismus der Herrschenden noch die sozialen Ursachen von Rassismus und Faschismus thematisierte.

Lehren

JRE agierte zu einer Zeit, als die Arbeiter*bewegung und die Linke im allgemeinen sehr in der Defensive waren. Viele Jugendliche, die sich in den achtziger Jahren noch in sozialistischen Jugendorganisationen engagiert hätten, waren nur noch bereit, zu einzelnen Themen wie eben Faschismus und Rassismus aktiv zu werden. Daran haben wir angesetzt und versucht durch Bildungsarbeit und Diskussionen die gesellschaftlichen Ursachen von Rassismus und Faschismus zu erklären. Heute ist die soziale Krise viel tiefer. Mit der AfD gibt es eine rechtspopulistische Partei mit Faschist*innen in den Reihen, die ein neues, gefährliches Phänomen darstellt und in breitere Teile der Bevölkerung vorgedrungen ist.

Antirassistische und antifaschistische Aktivitäten müssen eng verzahnt werden mit dem Kampf gegen die kapitalistische Krise, Sozialkürzungen und Entlassungen. Angesichts der vielfältigen Krisen des Kapitalismus besteht die Gefahr eines wachsenden Nationalismus. Dieser kann nur durch eine überzeugende linke und internationalistische Antwort gestoppt werden. Viele Jugendliche, aber auch ältere Arbeiter*innen und Erwerbslose sehen diese Zusammenhänge. Heute besteht wieder die Chance, starke Organisationen aufzubauen, die den Kampf gegen den Faschismus und den Kampf gegen das Kapital führen. Die Partei DIE LINKE und ihr Jugendverband linksjugend[’solid] haben in den letzten Jahren jedoch die Chance verpasst eine starke linke Alternative zu den etablierten Parteien aufzubauen, die auch Rechtspopulist*innen und Faschist*innen zurück drängen kann. Stattdessen hat der Anpassungskurs der LINKEN, nicht zuletzt in den Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen, den Raum für die AfD enorm vergrößert.

Das hebt die Bedeutung breiter antirassistischer Kampagnen durch Gewerkschaften, linke Organisationen und soziale Bewegungen nicht auf, vor allem wenn es darum geht Naziaufmärsche und andere faschistische Aktivitäten zu verhindern. Aber der faschistische Sumpf kann nur trocken gelegt werden, wenn die Ursachen bekämpft werden. Und diese liegen im kapitalistischen System.

Von JRE sollte aber vor allem eines mitgenommen werden: der Widerstand muss international sein. Heute gilt das angesichts der Weltkrise des Kapitalismus noch mehr als vor dreißig Jahren.

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