Bericht eines Berliner Mitarbeiters
Die Tarifrunde der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) nächstes Jahr betrifft erstmals fünfzig Unternehmen der Verkehrsbranche gleichzeitig. Zur Vorbereitung hatte es in den vergangenen Monaten diverse Veranstaltungen der EVG gegeben, um von den Mitgliedern zu erfahren, was sie von der Tarifrunde erwarten. In Ostdeutschland fanden Veranstaltungen nur im Süden, aber keine in Mecklenburg-Vorpommern oder in Berlin statt. Es entstand dadurch der Eindruck, dass die Gewerkschaftsführung nicht wirklich an einer kritischen Diskussion zum Beispiel mit Berliner Fahrdienstleiter*innen (Fdl) interessiert ist. Hier ist der Unmut über die Arbeitsbedingungen besonders groß.
Von Ronald Luther, Berlin
So kursierte im Herbst unter den Fdl der Betriebszentrale S-Bahn Berlin eine Unterschriftensammlung mit der Forderung nach einer 35-h-Woche bei vollem Lohnausgleich. Dazu gab es nur eine kurze ausweichende Stellungnahme des Betriebsrates, aber keine der eigentlich zuständigen EVG. Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) hingegen – die derzeit versucht, besonders unter den Fdl Mitglieder (ab) zu werben – unterbreitete den Fdl umgehend ein Gesprächsangebot.
Bei allen Veranstaltungen der EVG zur Tarifrunde machten Kolleg*innen klar, dass sie eine deutliche Lohnerhöhung über der Inflation und eine Laufzeit des Tarifvertrages von zwölf Monaten erwarten. Bei der EVG-Führung ist das angekommen, wobei sie sich bei genauen Zahlen bedeckt hält. Gleichzeitig warnt sie davor, sich auf eine steuer- und abgabenfreie Einmalzahlung von bis zu 3000 Euro statt auf eine tabellenwirksame Lohnerhöhung einzulassen. Deutlich wird damit, dass viele Eisenbahner*innen bereits jetzt dringend Geld brauchen, um die massiv steigenden Lebenshaltungskosten bezahlen zu können. Um so nötiger ist, eine wirklich ausreichende Lohnsteigerung von mindestens 15 Prozent oder ein Festbetrag von mindestens 500 Euro durch zu setzen. Die Einmalzahlung hingegen sollte von den Verkehrsunternehmen zusätzlich gezahlt werden, um die Preissteigerungen der letzten Monate auszugleichen.
Bis zum 15. Januar läuft bei der EVG eine Online-Mitgliederbefragung darüber, was die Gewerkschaft in der Tarifrunde fordern soll. Zur Abstimmung steht, ob die Bahnbeschäftigten eine prozentuale Erhöhung mit Mindestfestbetrag oder eine prozentuale Erhöhung oder einen Festbetrag möchten. Zwar setzen die Fragen beziehungsweise Forderungen an den Diskussionen mit den Gewerkschaftsmitgliedern an, allerdings sind diese trotzdem vorgegeben und es fehlen konkrete Zahlen wie die zur Lohnhöhe und Laufzeit. Weiterhin wird suggestiv gefragt, ob ein Teil des Lohnzuwachses zum Beispiel für die betriebliche Altersversorgung und/oder die Erweiterung des nur für EVG-Mitglieder geltenden „Fonds soziale Sicherung“ und „Fonds Wohnen und Mobilität“ abgezweigt werden soll. Dabei sollte der Gewerkschaftsführung inzwischen klar sein, dass die Kolleg*innen jetzt wirklich jeden Cent direkt für den Lebensunterhalt brauchen.
Am 7. Februar 2023, einen Tag nach dem offiziellen Start der EVG-Tarifrunde, werden die Tarifkommissionen (und nicht die Gewerkschaftsmitglieder) dann die Lohnhöhe und die Laufzeit des Tarifvertrages beschließen. Nach Auslaufen des aktuellen Tarifvertrages am 28. Februar ist mit Aktionen der Bahnbeschäftigten zu rechnen. Ob gleich Warnstreiks stattfinden werden wir sehen, aber dazu müsste bei der Mobilisierung unter den Bahnbeschäftigten noch eine kräftige Schippe zugelegt werden. So müssten noch im Januar Betriebsversammlungen in allen Bereichen organisiert werden, die von der EVG zur Mobilisierung genutzt werden könnten. Denn sonst besteht die Gefahr, dass die Beteiligung an Aktionen in der Tarifrunde schwach ausfällt. Das könnte der Gewerkschaftsführung dann als Begründung dafür dienen, sollte die EVG ein eher schlechtes Ergebnis erreichen. Weiterhin muss die EVG in der Tarifrunde einen Weg finden, wie die Spaltung unter den Bahnbeschäftigten in zwei Gewerkschaften überwunden werden kann. So fallen in Folge des erstmals wirksamen Tarifeinheitsgesetzes zum Beispiel die Kolleg*innen bei der S-Bahn Berlin unter den Tarifvertrag der EVG, aber viele S-Bahner*innen sind in der GDL organisiert. Ein möglichst gutes Ergebnis ist in der Tarifrunde aber nur zu erreichen, wenn alle Kolleg*innen mobilisiert werden.