Kapitalismus raus aus den Klassenzimmern und Hörsälen! 

Für ein selbstbestimmtes Lernen und Lehren

Lernen gehört zu den menschlichen Urinstinkten und wurde dennoch lange nicht gesellschaftlich organisiert. Dass das heute in vielen Schulen und Universitäten passiert, sollte also Anlass zur Zufriedenheit sein. Nur leider zeigen die wissenschaftlichen Befunde, dass es oft genug wenig Anlass zur Freude gibt. Und die Auswirkungen der Corona-Pandemie lasten schwer auf Lernenden und Lehrenden.

von Steve Hollasky, Dresden

Eine Studie der sächsischen Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) ergab, dass ein Drittel der Lehrer*innen im Freistaat mehr als 48 Stunden pro Woche arbeitet. Korrekturen und Vorbereitungen auch am Wochenende gehören zum Alltag von Pädagog*innen, häufige Nachtschichten auch. Laut Aussagen des deutschen Schulbarometers erklären 84 Prozent der Unterrichtenden, sie seien stark oder gar sehr stark belastet. Körperliche Erschöpfungszustände beklagen 62 Prozent.

Die letzten drei Pandemiejahre haben die Arbeitsbelastung nochmals erhöht, was problematische Auswirkungen auf Schüler*innen nach sich zieht. In einem Beitrag des Saarländischen Rundfunks zu Schuljahresbeginn, beschrieb eine Schulpsychologin die Situation von Schüler*innen: Die Rede war von „Schulangst, Schulvermeidung, Angst vor einer Infektion, Angst vor schlechten Noten“.  

An beide – Schüler*innen einerseits und Lehrer*innen andererseits – wird der Anspruch angelegt, die Corona-bedingten Defizite aufzuholen. Die Erwartungen und Forderungen sind groß, Hilfestellung hingegen gibt es kaum.

Entfremdung   

Schüler*innen entfremden von Bildungsinhalten und von Lehr- und Lernprozessen. Bildungsinhalte werden Schüler*innen präsentiert, ob sie sie annehmen oder nicht. Schüler*innen werden so zu Objekten von Belehrungen. Sie erhalten Aufträge und haben diese zu erfüllen, bestenfalls können sie an einigen Stellen Bildungsprozesse ein wenig beeinflussen.

Auch an Hochschulen und Universitäten wird dieser Zustand mehr und mehr kultiviert. Der in den Nullerjahren gestartete Bologna-Prozess verlängerte Studienzeiten und schränkte Freiheiten ein. Selbstgesteuerte Bildungsprozesse spielen somit eine immer geringere Rolle.

Woran liegt das?

„Physisch, geistig und moralisch“ kerkere „die Schule Kinder ein“, schrieb bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts der spanische Anarchist und Pädagoge Francisco Ferrer. Die Erziehung sei „nichts als ein Drill“. Doch weshalb ist das so?

Schule hat im Kapitalismus eine Zuweisungsfunktion. Sie produziert Arbeitskräfte für die Wirtschaft, das heißt: Sie vermittelt nicht nur Wissen, sondern drillt, vergleicht und sortiert Jugendliche für den Arbeitsmarkt.

Der deutsche Marxist Otto Rühle hielt 1920 in seiner Schrift „Die kommunistische Schule“ fest, dass „das geistige und sittliche Leben der Schule beherrscht“ sei durch „die Ideologie der herrschenden Klasse“. Auch das ist ihre Aufgabe: Schule soll gesellschaftliche Phänomene wie Ausbeutung, Klimazerstörung, Rassismus, Armut und Kriege nicht auf ihre Ursache, das kapitalistische System, zurückführen und jungen Menschen Handreichungen liefern, sich dagegen zur Wehr zu setzen, sondern im Gegenteil Kinder und Jugendliche dazu bringen, sich in dieses System einzufinden. 

Einzelne freie Schulen werden genauso wenig wie die zahlreichen Lehrer*innen, die engagiert und aufopfernd ihren Beruf gestalten, diesen Zustand durch das Ausreizen von Spielräumen ändern. Genau hierin irrte auch Ferrer, der hoffte, durch die Gründung von freien Schulen, Menschen einen Weg aus dem Kapitalismus zu weisen.

Elitäre Privatschulen, an die vorrangig Eltern mit genug Geld in der Tasche ihre Schützlinge schicken, leisten keinen Beitrag das Schulsystem zu verbessern, sondern ermöglichen lediglich Kindern reicher Familien einen Weg nach oben.

Der Bildungserfolg von Schüler*innen bleibt derweil vom Geldbeutel der Eltern abhängig wie „Die Zeit“ bereits 2019 in einem Artikel festhielt. „Du wirst, was deine Eltern sind“, bilanzierte das Blatt damals unter Bezug auf den Ökonomen Daniel Schnitzlein, der Zusammenhänge zwischen Einkommen des Elternhauses und kindlichem Bildungserfolg untersucht hatte.

Bildungsausgaben vermitteln falsches Bild

Zwar betrug das Bildungsbudget 2019 in Deutschland 229 Milliarden Euro. Bemisst man die Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt und vergleicht diese europaweit, steht Deutschland von 30 einbezogenen Ländern mit 4,8 Prozent im selben Jahr allerdings nur auf Platz 19. Finnland und Island (jeweils 6,8 Prozent) und Schweden (7,1 Prozent) liegen vor der Bundesrepublik. Selbst Zypern schneidet besser ab.

Die bauliche Substanz vieler Schulen lässt deutlich zu wünschen übrig. Wiederholte Wellen von Schulschließungen haben Wege verlängert und mitunter ganze Regionen von weiterführender Schulbildung abgekoppelt. Die schleppende Einstellungspolitik führte auch zu dem nun deutlich spürbaren Mangel an Lehrer*innen.

Wofür lernen?

Dabei geht es nicht allein um mehr Geld, auch wenn das von enormer Bedeutung ist. Die entscheidende Frage ist, wofür gelernt und gelehrt werden soll.  

Vor allem muss es um zwei Dinge gehen: Menschen zu selbstbewussten und selbstbestimmten Mitgliedern der Gesellschaft heranwachsen zu lassen und dafür deren individuelle Fähigkeiten zu fördern.

Dazu muss Schule vollkommen anders organisiert werden: Es darf nicht mehr um Bildung nach den Interessen der Unternehmen gehen; nicht mehr um Verwertbarkeit, sondern um Aneignung von Wissen zum Zwecke der eigenen Entwicklung. Sollen Menschen selbstbestimmt werden, muss man bereit sein, sie selbst ihre Bildungswege und – so weit das möglich ist – auch die Themen wählen lassen.

Noten abschaffen!

Noten bedeuten Druck für Schüler*innen und Lehrer*innen, sie entzweien Lehr- und Lerngruppen in jene, die Noten vergeben und jene, die sie als Fremdzuschreibung empfangen. Sie beziehen eben nicht die gesamte Schüler*innenpersönlichkeit in die Bewertung ein: Charakter, außerschulische Leistungen, individuelle Anstrengung werden durch Zahlen unter Arbeiten nicht oder nur völlig unzureichend gewürdigt.

Die Zahlen haben lediglich den Zweck, Unternehmen zu sagen, ob junge Menschen gut genug geeignet sind, um Profit zu erzeugen.

Gegen Zentralprüfungen

Das gesamte Bildungssystem zeichnet eine immer stärkere Tendenz zur Zentralisierung aus. Ganze Bundesländer schreiben einheitliche Abschlussprüfungen. Mitunter werden diese sogar bundeslandübergreifend festgelegt. Dies dient der Vergleichbarkeit von Leistungen. In Wirklichkeit führt es zu Konkurrenz zwischen Bundesländern und Schulen und erhöht wiederum den Druck.

Zudem verschließen Zentralprüfungen die für pädagogische Prozesse so wichtigen Räume für Individualität. Wenn von allen Schüler*innen unterschiedslos immer dasselbe verlangt wird, hat ein*e Lehrer*in kaum die Möglichkeit, auf die speziellen Wünsche von Schüler*innen und Lehr- und Lerngruppen einzugehen.

Kleinere Gruppen

Klassen und Kurse mit bis zu 30 Schüler*innen sind inzwischen keine Seltenheit mehr. Seminare an Unis und Fachhochschulen mit ähnlichen oder gar höheren Studierendenzahlen gehören zum Alltag. Wirklich lernen lässt sich so nicht. Individuell eingehen kann man auf niemanden. Daher müssen die Gruppengrößen dringend gesenkt werden. Ein Klassenteiler von 15 wäre absolut ausreichend und würde Lehrer*innen die Möglichkeit geben, konkrete Hilfestellung zu leisten.  

Hierzu werden dringend mehr Lehrer*innen gebraucht, was gerade jetzt eine enorme Anstrengung bedeutet. Zunächst muss es darum gehen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern: Das bedeutet runter mit der Stundenzahl, die nur etwa ein Drittel der Arbeitszeit ausmacht. Statt 100 Milliarden in Aufrüstung zu stecken, braucht es ein massives öffentliches Investitionsprogramm, um neue Lehrer*innen auszubilden und einzustellen und marode Schulgebäude zu sanieren – finanziert durch die Profite der Banken und Konzerne und das Vermögen der Superreichen. 

Lerninhalte demokratisch bestimmen

Mit mehr Personal wäre es auch möglich auf einzelne Personen zugeschnittene Bildungspläne festzulegen: Was will ein*e Schüler*in in einem bestimmten Zeitraum lernen? Welche Hilfestellung würde sie dazu benötigen?

Otto Rühle sprach sich schon 1920 gegen Lehrpläne aus, die allein von Expert*innen geschrieben würden. Es müsse mehr um die individuelle Förderung gehen.

Dabei wird Verbindlichkeit bestimmter Bildungsinhalte auch weiterhin von hoher Bedeutung sein: Lesen, Schreiben und Rechnen und andere Grundlagen müssen alle Menschen erlernen, um selbstbestimmt zu sein.

Je größer die erworbene Wissensmenge, desto selbstgesteuerter müssen Lehr- und Lernprozesse ablaufen. Nur so entsteht wirkliche von innen kommende Motivation; echtes Interesse.

Wirkliche individuelle Förderung ist gleichbedeutend mit der Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems, das nicht individualisiert, sondern junge Menschen künstlich voneinander trennt, in drei Gruppen packt und dort wieder über einen Kamm schert. Schule muss einheitliche Bildung ermöglichen – individuell und dennoch im Klassenverband.

Die Inhalte von Lehrplänen müssen hierzu demokratisch festgelegt werden: Gewählte Kommissionen aus Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen müssten Lehrpläne gemeinsam schreiben.

Kostenlose Bildung

Wollen Unis und Hochschulen Orte der Wissenschaft sein, dürfen sich Projekte nicht dem Profitstreben unterordnen. Wissenschaftliche Erkenntnis darf nicht darauf ausgerichtet sein, was Unternehmen brauchen, um möglichst hohe Gewinne einzuspielen, sondern danach, was Mensch und Natur hilft. Drittmittelprojekte müssen demnach gestrichen werden.

Orte des Lehrens und Lernens werden Schulen und Universitäten nur dann sein können, wenn sie Menschen nicht ausschließen. Dafür braucht es freien Zugang zu Bildung und Lernmitteln. Studiengebühren, auch solche, die als Semesterbeiträge getarnt sind, gehören sofort abgeschafft.

Gute Bildung – Kapitalismus abschaffen

Eine Gesellschaft lebt davon, dass sie sich Wissen aneignet und den Wissensschatz erweitert. Die kapitalistische Antwort auf diese Frage ist die Humankapitaltheorie: Wer in sich selbst investiert, der wird es zu etwas bringen. Doch das ist falsch und eine Illusion angesichts der sozialen Ungleichheit. Bildung und Ausbildung sind gesellschaftliche Aufgaben und so gilt es sie auch zu organisieren.

Ein Bildungssystem, das ausliest; das spaltet; das von außen zuschreibt; das nicht selbstgesteuert entdecken lässt; das kaputt gespart wird, wird große Potentiale unentdeckt und ungenutzt lassen. Kapitalistische Bildung funktioniert – bis auf wenige Ausnahmen – genau so. Wenn wir mehr Geld für Bildung, demokratische Entscheidungen über Inhalte und mehr Freiräume wollen, dann müssen wir sie erkämpfen. Doch das heißt auch, das ganze Profitsystem in Frage zu stellen und für eine andere, sozialistische Gesellschaft zu kämpfen, die nach den Bedürfnissen der Mehrheit organisiert ist.

Dafür müssen Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern an einem Strang ziehen. Nötig hierfür sind auch kämpferische Gewerkschaften. Die GEW müsste gerade in Zeiten von Lehrer*innenmangel einen großen Kongress einberufen und so bundesweit in die Debatte über die Bildung von morgen einsteigen und Wege aufzeigen wie man gemeinsam kämpfen kann. Als erster Schritt wäre eine Kampagne für ein öffentliches Investitionsprogramm notwendig, einschließlich Streiks für zum Beispiel mehr Personal, für Psycholog*innen und für Sozialarbeiter*innen an Schulen.