Notstand Krankenhaus: Kranke Kinder werden abgewiesen

Krisensituation im Gesundheitswesen spitzt sich weiter zu

Die Kinderstationen in deutschen Klinken schlagen Alarm. Es gibt momentan kaum noch verfügbare Betten, während die Atemwegserkrankung RSV bei Kindern die Patient*innenzahlen steigen lässt.

Ein Kommentar von Anne Pötzsch, Medizinstudentin und Intensivpflegekraft

Ehrlich gesagt können die aktuellen Berichte aus den deutschen Kinderkliniken eine Pflegekraft nicht mehr schockieren. Seit Jahren wird immer wieder darüber berichtet, dass Kinderkliniken an diversen Standorten schließen, weil sie nicht mehr rentabel für die Klinikbetreiber*innen sind. Seit Jahren unterschreibt man Petitionen zum Erhalt von Kinderstationen und Kreißsälen. Und seit Jahren ist bekannt, dass es überall an Pflegekräften mangelt. Dieser Mangel kommt jetzt auch wieder zum Tragen.

“Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können”, wird der Leitende Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, Michael Sasse vom NDR zitiert.

Im Schnitt haben Krankenhäuser mit einer Kinderklinik momentan laut einer Umfrage der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) 0,75 Kinderbetten frei. Jedes zweite Krankenhaus müsse momentan einen Rettungswagen mit einem schwer kranken Kind abweisen, weil es keinen Platz für die Kinder gibt. Grund dieser Zuspitzung ist die aktuelle Welle des respiratorischen Synzytial-Virus (RSV). Das eigentlich harmlose Virus kann bei Säuglingen und Kleinkindern zu schweren Atemwegserkrankungen führen, wodurch die Kinder in Kliniken auf Kinderstationen und Kinderintensivstationen versorgt werden müssen.


Gesundheitsministerium


Die Reaktion des Gesundheitsministeriums unter Karl Lauterbach entsetzt und bestätigt gleichzeitig die bisherige Politik. Er schlägt in einer Pressekonferenz vor, dass die Krankenkasse bei einer Unterschreitung der Pflegepersonaluntergrenzenverordnung die Kliniken nicht sanktionieren sollen. Die PpUGV hat eigentlich zum Ziel, eine Mindestbesetzung auf den Stationen herzustellen, um das Minimum an Versorgung zu garantieren. Jedoch soll sie nun zum wiederholten Mal auf Kosten der Kranken und Pflegekräfte außer Kraft gesetzt werden. Lauterbach meint, Pflegekräfte, die für erwachsene Patient*innen ausgebildet sind, sollen temporär auf Kinderstationen versetzt werden, um dort einen Personalmangel auszugleichen. Dadurch glaubt er, dass mehr Betten in den Kinderkliniken betrieben werden können.

Mit seinem Geistesblitz missachtet er die Dauerzustände in deutschen Krankenhäusern. Es gibt keine Pflegekräfte auf den Erwachsenenstationen, die versetzt werden könnten. Alle Stationen, egal ob Kinder oder Erwachsene, ob Somatik oder Psychiatrie sind chronisch unterbesetzt. Würden Pflegekräfte von Erwachsenenstationen nun in den Kinderabteilungen aushelfen, würde dieses Personal bei den Erwachsenen fehlen, wodurch wiederum erwachsene Patient*innen von Kliniken abgewiesen werden müssten.

Mehr Personal!


Auch muss in aller Deutlichkeit erklärt werden, dass es fachlich für Pflegekräfte nicht möglich ist, einfach mal zwischen Erwachsenen und Kindern zu tauschen. Gesundheits- und Krankenpflegerinnen, die jahrelang für die Versorgung für erwachsene Menschen ausgebildet sind, sind nicht mal eine Notlösung, um den momentanen Notstand auszugleichen. Die Kindermedizin ist ein spezielles Fach, welches viel Expertise, Erfahrung und eine spezielle Ausbildung benötigt. Es wäre fahrlässig, nicht geschultes Pflegepersonal auf Kinder(intensiv)stationen einzusetzen.
Die aktuelle Dramatik zeigt einmal mehr, dass grundlegende Veränderungen benötigt werden – weg von der Ausrichtung des Gesundheitswesens auf Wirtschaftlichkeit und Markt, hin zu einem bedarfsgerechten Gesundheitswesen mit allen nötigen öffentlichen Investitionen. Diese Veränderungen müssten unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Beschäftigten, Patient*innenvertreter*innen und Gewerkschaften erarbeitet und zügig vollumfänglich umgesetzt werden.


Nein zu Schließungen!


Lauterbachs Pläne von Klinikschließungen in Ballungsgebieten und Klinikzusammenlegungen in Provinzen (siehe zum Beispiel Artikel https://solidaritaet.info/2022/06/stationsschliessungen-am-klinikum-lemgo-geplant/) sollten mit der aktuellen Berichterstattung eigentlich obsolet sein! Die am 02. Dezember 2022 im Bundestag beschlossen 300 Millionen Euro für die Kinderkliniken sind in Anbetracht des 100 Milliarden Euro-Pakets für die Bundeswehr nur Augenwischerei und stellen keinen Schritt in Richtung realer Verbesserungen dar. Man hätte stattdessen das Fallpauschalensystem (DRGs) beenden und eine kostendeckende Finanzierung verabschieden können. Zwar kündigt Lauterbach seit Wochen die Überwindung des DRG-Systems an. Das entspricht aber nicht den realen Plänen. Allenfalls in Teilbereichen soll die Finanzierung nicht mehr nach dem DRG-System erfolgen, die Umsetzung ist insgesamt unklar. Die Realisierung eines Gesetzes für einen Personalschlüssel (PPR 2.0) soll außerdem dem Veto durch das Finanzministerium unterliegen! Auch wollte er zunächst die Refinanzierung der Hebammen aus dem Pflegebudget ab 2025 beenden, wodurch die Personalkosten der Hebammen wieder durch die Geburten erwirtschaftet werden müssten, und der ökonomische Druck steigen würde. Dies wurde durch Proteste von Berufsverbänden und aufgrund öffentlichen Drucks, unter anderem einer Petition mit 1,6 Millionen Unterschriften, abgewendet.

Das Gesundheitswesen in Deutschland könnte durch die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer und dem Beenden der Zweiteilung bei den Krankenversicherungen in privater und gesetzlicher Krankenkasse bedarfsgerecht durch den Staat finanziert werden. Der DGB errechnete 2016, dass die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer 25 Milliarden Euro Mehreinnahmen bedeuten würde. Durch die Zusammenlegung der Krankenkassensysteme könnte weitere neun Milliarden Euro in die gesetzliche Krankenkasse fließen. Auch würden für alle die Krankenkassenbeiträge sinken, was vor allem Geringverdienende entlasten würde.

Die Bundesregierung und der Bundestag hätten außerdem Anfang diesen Monats Pläne verabschieden können, wie Pflegekräfte wieder in ihren Beruf zurückkehren und junge Menschen in dem Beruf der Pflege eine Perspektive sehen. Die Pflege und viele anderen Berufe in den Kliniken benötigen eine bessere Vergütung, bessere Arbeitszeitmodelle, bessere Perspektiven fürs Alter, Gesundheitsschutzmaßnahmen, Freiräume für gute praktische Ausbildung und vor allem ein Mitspracherecht an der Gestaltung ihrer Arbeit.

Revolution

Lauterbach tönte groß von einer Revolution, die es durch seine Krankenhausreform geben soll. Auch wir als Sol stehen für eine Revolution im Gesundheitswesen. Jedoch sollte diese von den Arbeiter*innen ausgehen und gestaltet werden. Die Situation auf Deutschlands Kinderstationen hat sich durch die RSV-Welle zwar zuspitzt, besteht aber seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Es ist ein Armutszeugnis im viert reichsten Land der Welt, dass Eltern um die Gesundheit und das Leben ihrer Kinder fürchten müssen, weil die Politik des Kapitalismus seit Jahrzehnten Sparpolitik in den Kliniken betreibt. Kinderkliniken schlugen in der Vergangenheit immer wieder Alarm, doch der politische Wille war nie da. Man hätte vor Jahren agieren und das Gesundheitswesen wieder gesund pflegen können. Aber die Politik wollte nicht. Die Corona-Pandemie war kein Grund für die Regierungen, das Ruder rumzureißen und auch die aktuelle Dramatik in den Kinderkliniken wird leider keine Verhaltensänderung in der Politik bringen.

Es liegt in der Hand der Beschäftigten und Gewerkschaften mit Unterstützung der arbeitenden Bevölkerung durch Streiks, Arbeitskämpfe und gesamtgesellschaftliche Protestbewegungen Veränderungen zu erzwingen.

Alle Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtung müssen in öffentliches Eigentum und durch Vertreter*innen aus den Beleg- und Gewerkschaften, Kommunen und Patient*innen demokratisch kontrolliert und verwaltet werden. Jegliches Profitstreben muss verbannt werden und die Daseinsvorsorge ohne Kostendruck durch den Staat ermöglicht werden.

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