Die „geistig-moralische Wende“ war ein Angriff auf die Arbeiter*innenklasse
Im Herbst 1982 wurde Helmut Kohl Bundeskanzler und am 6. März 1983, vor vierzig Jahren, gewann die von ihm geführte Koalition aus CDU/CSU und FDP die Bundestagswahlen. Er blieb 16 Jahre und 26 Tage im Amt. Seine Amtszeit war geprägt durch Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse, Skandale und die Wiedervereinigung Deutschlands.
Von Lucie Dussle, Stuttgart
Mit seinem Amtsantritt wollten er und die CDU/CSU eine „geistig-moralische Wende“ einleiten. Vor allem war das eine Wende hin zu besseren Profitbedingungen für das Kapital.
Bevor unter Kohl, ab 1.Oktober 1982, in Deutschland die neoliberale Politik vorherrschte, war diese sowohl in den USA unter Reagan 1981, als auch in Großbritannien unter Thatcher 1979, schon umgesetzt worden.
In Deutschland wurde mit dem sogenannte „Lambsdorff-Papier“ der Regierungswechsel, von der SPD-FDP- zur CDU-CSU-FDP-Regierung vorbereitet. Otto Graf Lambsdorff war damaliger FDP-Wirtschaftsminister in der seit 1969 regierenden sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP. Ein konstruktives Misstrauensvotum gegen den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt war im Oktober 1982 erfolgreich. Dieser, nicht durch Wahlen herbeigeführte, Regierungswechsel war eine bewusste Entscheidung der herrschenden Klasse. Mit der Wirtschaftskrise 1981/82 verlangte der Kapitalismus den endgültigen Wechsel von sozialdemokratischer Reformpolitik zur Politik von Konterreformen.
Bei der Bundestagswahl im März 1983 kam es dann zur, bis dahin, größten Wähler*innenbewegung. Tief enttäuscht von der SPD gab ein Teil bisheriger SPD-Wähler*innen der CDU ihre Stimme. Gleichzeitig sorgten vor allem junge Wähler*innen dafür, dass mit den Grünen erstmals seit den 1950er Jahren eine neue politische Partei in den Bundestag einzog.
Mit einem harten Sparpaket („Operation 82“) und gleichzeitiger Aufrüstung hatte die Schmidt-Regierung heftigen Widerstand provoziert. Die Bewegung gegen „Operation 82“ wurde dann zur ersten Bewegung gegen die Kohl-Regierung mit 500.000 Teilnehmer*innen im Herbst 1982. Die Gewerkschaften und die Opposition in der SPD waren Teil dieser Bewegung. Dies war ein Grund warum die SPD ihre Rolle für das Kapital in der Regierung vorerst ausgespielt hatte, da die SPD-Führung nicht mehr in der Lage war die Gewerkschaften zu bremsen.
Ein weiterer Grund war, dass Schmidt die SPD in der Frage der Aufrüstung nicht hinter sich hatte. Unter der CDU-CSU-FDP-Regierung stimmte der Bundestag am 22. Nov. 1983 dem Nato-Doppelbeschluss zu, der die Stationierung von, mit Atomsprengköpfen bestückten, Mittelstreckenraketen in Westeuropa vorsah. Einen Monat zuvor hatte es noch eine Friedensdemo mit bundesweit 1,3 Million Teilnehmer*innen gegeben.
In den 1980er Jahren war auch die Bewegung gegen Atomkraft, die es seit den 1970er Jahren gab, nach wie vor stark. So konnte 1989 die Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in Wackersdorf, nach monatelangen Protesten mit teilweise bürgerkriegsähnlichen Zuständen, verhindert werden.
Klassenkampf von oben
Das „Lambsdorff-Papier“ formulierte unter anderem folgende Ziele:
- Konsolidierung des Staatshaushalts
- Eindämmung der steigenden Sozialausgaben
- Deregulierung im Innern und nach außen
Um diese Ziele zu erreichen wurden die Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse verstärkt. So kam es unter anderem zu folgenden Sozialabbau-Maßnahmen:
- Kürzungen beim Arbeitslosengeld
- Strengere Zumutbarkeitsregelungen für Arbeitssuchende
- Der Kündigungsschutz wurde durch befristete Arbeitsverträge eingeschränkt und gleichzeitig die Arbeitszeit flexibilisiert
- Verschlechterung des §116 AFG (Streikrecht)
- Die Mehrwertsteuer wurde 1983 von 13 auf 14 Prozent und bis 1998 auf 16 Prozent erhöht
- Umwandlung des Studierenden-BaföGs von 150 DM Darlehen pro Monat zu einem rückzahlungspflichtigen Volldarlehen
- Steigerung der Zuzahlungen für Medikamente und medizinische Leistungen
- Anhebung des Renteneintrittalters
- Abschläge bei Vorruhestand
- Anhebung der Beiträge der Arbeitnehmer*innen bei Sozialversicherungen
Gewerkschaften
Diese arbeiter*innenfeindliche Politik rief Widerstand in der Arbeiter*innenklasse hervor. Es gab viele gewerkschaftliche Kämpfe während der CDU-CSU-FDP-Regierung. Zum Beispiel:
- Sechswöchiger Streik für die 35-Stunden-Woche 1984
- Mehrstündiger politischer Streik im März 1986 gegen die Änderung des §116 AFG – über eine Million Beschäftigte streikten. (Streik gegen die Abschaffung von Kurzarbeitergeld für kalt Ausgesperrte. Das war die Reaktion auf die Streiktaktik während des Kampfes um die 35-Stunden-Woche)
- Von 1981-1987 gab es 13 Betriebsbesetzungen
- Kampf um das Krupp-Stahlwerk in Duisburg Rheinhausen 1987/88 mit einem faktischen Generalstreik im Ruhrgebiet
- Marsch von 80.000 Postler*innen 1988 auf Bonn (Die Post sollte in drei öffentliche Unternehmen aufgeteilt werden. Damit war der Anfang für die Privatisierung der Post gemacht)
- Ostermetaller*innenstreik 1993
- Betriebsbesetzung des Kali-Bergwerks im ostdeutschen Bischofferode 1993
- Demo von 120.000 Bauarbeiter*innen gegen die Kürzung des Schlechtwettergeldes im Oktober 1993
- Bayrischer Metaller*innenstreik 1995
- Demo von 350.000 am 15.6.96 gegen das Sparpaket der Kohl-Regierung
- Streiks von 100.000 Metaller*innen im Herbst 1996 gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Sie wurde auf achtzig Prozent gekürzt)
- Spontane Streiks und die Belagerung von Bonn durch 15.000 Bergarbeiter*innen im Frühjahr 1997
Die Kämpfe zeigen, dass es nicht an Kampfbereitschaft gefehlt hat. Sowohl 1993, und noch massiver 1996, kam die Forderung nach Generalstreik auf.
Nach der Demo am 15.6.96 wäre ein Generalstreik die richtige Steigerung im Kampf gegen das Sparpaket der Kohl-Regierung gewesen. Unter dem Druck von unten war die Gewerkschaftsführung gezwungen mit Streik zu drohen, verhinderte aber dass Taten folgten. Gewerkschafts- und SPD-Führung gaben unter dem Druck des Kapitals bisherige Positionen auf. Zu einer Zeit als Unternehmer*innen und die Kohl-Regierung die schärfsten Angriffe der Nachkriegszeit gegen die arbeitende Bevölkerung führten.
Mit der „Bündnis-für-Arbeit“ Politik wurde 1995 unter anderem ein Grundsatz gewerkschaftlicher Tarifpolitik – Lohnverzicht schafft keine Arbeitsplätze – über Bord geworfen. Immer wieder wurde die „Sozialpartnerschaft“ wiederbelebt und Gewerkschaftsführer*innen und Betriebs- und Personalräte wurden zu Co-Manager*innen der Unternehmen und Regierungen. Der Apparat der Gewerkschaften dient immer mehr als Karriereplattform für Funktionär*innen.
Wiedervereinigung
Die Eingliederung der DDR in die BRD war durch das Machtvakuum, das nach der Revolution im Herbst 1989 und dem Zusammenbruch des Stalinismus entstanden war, möglich. Kohl versprach „blühende Industrielandschaften“ und vernichtete die Hälfte der Industrie und die Hälfte der Arbeitsplätze im Osten. Gleichzeitig fiel das Nettoeinkommen der Beschäftigten um 15 Prozent, durch neue Steuern und der Ausdehnung des Niedriglohnsektors. Bei der Währungsumstellung verloren die ehemaligen DDR-Bürger*innen durchschnittlich 3500 DM.
Das Kreditvolumen wurde erhöht, floss jedoch nur zu einem Drittel in Investitionen. Die öffentliche Verschuldung erhöhte sich auf 6,3 Prozent des BSP (Bruttosozialprodukt) von vorher zwei bis drei Prozent. Diese Lasten hatten die mittleren und unteren Einkommensschichten zu tragen.
Wut auf Kohl nimmt zu
Schon 1994 war die Unterstützung für die Kohl-Regierung in Wut umgeschlagen. Er hatte bei der Wahl nur noch 37,7 Prozent der Stimmen, also eine Minderheit, bekommen.
1998 war die Wut auf Kohl noch um ein vielfaches gestiegen. So wurde er nach den Wahlen von der ersten rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) abgelöst, die dann 2003 mit der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen den größten Angriff auf die sozialen Errungenschaften durchführten.
Bilanz der Kohl-Regierung
1982 | 1997 | |
Arbeitslose | 1,8 Millionen | 4,4 Millionen |
Staatsverschuldung | 500 Milliarden | 2200Milliarden |
Beiträge zur Sozialversicherungen f. Arbeitnehmer | 17,25 Prozent | 20,95 Prozent |
Steuerlast auf Löhne und Gehälter | 16 Prozent | 19,3 Prozent |
Steuerlast auf Gewinne | 20,9 Prozent | 8,3 Prozent |
Geldvermögen der Produktionsunternehmen | 788,8 Milliarden | 2700 Milliarden |
Der Anteil der Lohnabhängigen am Volkseinkommen ist zurückgegangen, der Anteil der Gewinn- und Vermögenseinkommen ist gestiegen. Wichtige, vormals öffentliche Bereiche (Luftfahrt, Post, Bahn), wurden privatisiert und die Steuern auf Vermögen und hohe Einkommen sowie für die Unternehmen wurden gesenkt.
Seit den 1980er Jahren wurde das reale Nettoeinkommen der Menschen mit geringem Einkommen immer schlechter. Die Zahl der prekär Beschäftigten ist stark gestiegen. Der Sozialstaat und Beschränkungen für die Finanzmärkte wurden abgebaut.
Die Kohl-Regierung hinterließ die größte Arbeitslosigkeit und die tiefste Kluft zwischen Arm und Reich in der Geschichte der Bundesrepublik, die es bis dahin gab.
Unter Kohl wurde auch die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee umgebaut und die NATO-Osterweiterung begonnen.
1993 wurde das Asylrecht geändert und damit das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft.
Die „geistig moralische Wende“ endete mit zahlreichen Skandalen, wie Parteispendenaffäre, Flick-Affäre und Schmiergeldaffäre.
Heute: Klassenkampf von oben wird weiter verschärft
Kohl war der deutsche Ronald Reagan, der den Siegeszug des Neoliberalismus in der Bundesrepublik einleitete. Die folgenden Regierungen führten die neoliberale Politik fort, so wird heute selbst von Linken und Gewerkschafter*innen darauf hingewiesen, dass die Verhältnisse heute für Lohnabhängige und Erwerbslose viel schlimmer sind. So lag der Spitzensteuersatz zu Kohls Regierungszeiten mit 53 Prozent deutlich höher als heute (42 Prozent) oder gab es noch die deutlich höhere Arbeitslosenhilfe, wenn man länger als zwei Jahre erwerbslos war statt Hartz IV bzw. seit kurzem Bürgergeld. Das zeigt: letztlich sind die ökonomischen Verhältnisse und der Klassenkampf entscheidend für die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die zunehmende Krisenhaftigkeit des Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten führte zu einer immer schlechter werdenden sozialen Situation für Lohnabhängige und Arme.
Sozialistische Demokratie als Alternative
Die Mängel und Widersprüche des Kapitalismus können breite soziale Bewegungen auslösen, die zur Auflösung des jetzigen Profitsystems führen. Das alte System kann dann durch eine sozialistische Demokratie ersetzt werden. Dies wird durch Überführung der Produktionsmittel in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle der Arbeiter*innenklasse, Demokratisierung der Wirtschaft und einer geplanten Wirtschaft für Mensch und Umwelt möglich sein.