Unabhängige Untersuchungskommission und sozialistische Politik nötig
Die Bilder der verbrannten Waggons, die nach einem Frontalzusammenstoß bei Tempi in Mittelgriechenland über die Gleise gestreut waren, haben jede*n, der oder die sie gesehen hat, schockiert. In Griechenland schlägt dieser Schock nun in Wut um. Die Eisenbahngewerkschaften haben deutlich gemacht, dass eine solche Katastrophe aufgrund der erzwungenen Kürzungen und der Privatisierung immer ein “vorprogrammierter Unfall” war.
Von Martin Powell-Davies, Socialist Party England & Wales
Der Unfall ereignete sich auf der Hauptstrecke zwischen den beiden größten Städten Griechenlands, Athen und Thessaloniki. Ein mit rund 150 km/h fahrender Personenzug geriet auf dasselbe Gleis wie ein in Richtung Süden fahrender Güterzug. Beim Zusammenstoß mit dieser Geschwindigkeit gingen die vorderen Waggons sofort in Flammen auf. Die genaue Zahl der Toten, von denen viele Studierende waren, die nach einem Feiertagswochenende in Richtung Norden fuhren, sowie des Zugpersonals ist noch nicht bekannt. Es könnte sich um bis zu fünfzig Personen handeln.
Der konservative griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis besuchte die Unglücksstelle und versprach, eine Untersuchung einzuleiten, um “die Ursachen der Tragödie herauszufinden”. Mitsotakis machte auch deutlich, dass er bereits im Voraus über das Ergebnis entschieden hat, indem er der Presse mitteilte, dass es sich um einen tragischen Unfall handelte, der durch “menschliches Versagen” verursacht wurde. Der Bahnhofsvorsteher im nahe gelegenen Larissa wurde verhaftet und wegen Totschlags angeklagt.
Die durchgesickerten Berichte über den Bahnhofsvorsteher, der dem Lokführer befahl, über eine rote Ampel zu fahren, und den Zug, der auf dem falschen Gleis landete, klingen in der Tat so, als ob es sich nur um “menschliches Versagen” gehandelt hätte. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn man bedenkt, dass, wie die Gewerkschaft der Lokführer*innen klargestellt hat, die Signalanlagen auf der Strecke in der Regel nicht in Ordnung sind, der Zug Verspätung hatte und bereits früher das Gleis gewechselt hatte, um eine elektrische Störung zu vermeiden.
Ein Vorsitzender der Lokführer*innengewerkschaft erklärte im griechischen Fernsehen verärgert, dass “nichts funktioniert, alles wird manuell gemacht”. Ohne funktionierende Systeme ist das Bahnhofspersonal darauf angewiesen, jedem Zug an 15 verschiedenen Punkten der Hauptstrecke Athen-Thessaloniki die Freigabe für die Weiterfahrt von einem Bahnhof zum nächsten zu erteilen.
Jede echte Untersuchung – und die Gewerkschaften und die Hinterbliebenen sollten ihre eigene öffentliche Untersuchung durchführen, um jeglicher politischen Vertuschung entgegenzuwirken – wird leicht aufdecken, dass die Arbeitgeber und die privatisierenden Politiker*innen sich des skandalösen Zustands der Eisenbahninfrastruktur sehr wohl bewusst waren.
Die Bahngewerkschaften warnen schon seit Jahren vor der Gefahr eines schweren Unfalls. Erst im Januar dieses Jahres fragte die Gewerkschaft DESK nach einem früheren Vorfall: “Was muss noch passieren, damit die Regierung und der Arbeitgeber endlich ihre Verantwortung wahrnehmen? Sollen wir erst die Toten betrauern und dann Maßnahmen zum Schutz von Menschenleben ergreifen? Wie viel kostet ein Menschenleben für die Machthaber?” Traurigerweise wurde ihre Frage durch die Zahl der Toten in Tempi beantwortet.
Menschliches Versagen?
Der Verkehrsminister Kostas Karamanlis, der beim Besuch der Unfallstelle sichtlich erschüttert war, gab bei seinem Rücktritt kurz darauf zu, dass die griechische Eisenbahninfrastruktur “nicht für das 21. Jahrhundert geeignet” sei. Der Sinn von Sicherheitssystemen ergibt sich ja gerade daraus, dass menschliches Versagen irgendwann unvermeidlich ist. Griechische Züge sollten mit dem Schutz des Europäischen Zugsicherungssystems (ETCS) fahren, das bei Bedarf automatisch eingreift, um Kollisionen zu verhindern. Aber warum tun sie das nicht? Weil im Kapitalismus der Profit vor dem Leben kommt.
Quellen aus der Bahnindustrie berichten, dass vor Jahren Verträge über mehrere Millionen Euro mit italienischen und französischen Firmen unterzeichnet wurden, um das ETCS und die dazugehörigen Signalsysteme zu installieren. Aber die Arbeiten sind immer noch nicht abgeschlossen. Und es liegt im Interesse dieser mächtigeren europäischen Volkswirtschaften, dass die griechische Eisenbahn nach der Kapitulation der SYRIZA-geführten Regierung vor den Forderungen des Großkapitals im Zuge der Schuldenkrise von 2015 vollständig privatisiert wurde. Die bei Tempi verunglückten Züge, die von der neu benannten “Hellenic Train”-Gruppe betrieben werden, gehören also eigentlich zu Trenitalia, dem italienischen Unternehmen, das auch einen Teil der privatisierten “Avanti”-Zuggesellschaft in Großbritannien besitzt.
Wie sowohl die britischen als auch die griechischen Eisenbahner*innen und Fahrgäste wissen, hat sich die Bahnprivatisierung lediglich als eine Möglichkeit erwiesen, staatliche Subventionen in private Gewinne zu verwandeln. Die griechischen Eisenbahnen wurden zu “Billigpreisen” verkauft, aber mit einem Vertrag, der garantiert, dass der griechische Staat dem Unternehmen weiterhin fünfzig Millionen Euro plus Mehrwertsteuer pro Jahr zukommen lässt. Es wurden Arbeitsplätze abgebaut, während die Sicherheit ignoriert wurde. Und jetzt hat die Katastrophe bei Tempi auch noch Menschenleben gekostet.
Viele griechische Arbeiter*innen und Jugendliche werden fordern, dass die Schuld für diese Katastrophe dort gesucht wird, wo sie hingehört – bei den Privatisierern und Profiteuren, nicht bei den einzelnen Bahnbeschäftigten. Sie brauchen eine wirklich unabhängige Untersuchung, an der die Gewerkschaften der Eisenbahner*innen und die breitere Arbeiter*innenbewegung, die Überlebenden des Unglücks, die Pendler*innen und die Allgemeinheit beteiligt sind, und dass die Eisenbahnen wieder in öffentliches Eigentum überführt werden, ohne Entschädigung für reiche Investoren.
Die griechische Arbeiter*innenklasse wird die Lehren aus der Kapitulation der SYRIZA-geführten Regierung ziehen, die überhaupt erst zu dieser katastrophalen Privatisierung geführt hat. Das bedeutet, dass wir weiter gehen und uns für ein sozialistisches Griechenland organisieren müssen, in dem alle großen Banken und Unternehmen in den Händen der griechischen Arbeiter*innenklasse sind, mit einer rationalen, demokratisch geplanten Wirtschaft zum Nutzen aller und als Teil eines Kampfes für ein sozialistisches Europa.