Massenproteste in Israel halten an

Foto: Nizzan Cohen/Wikimedia Commons

Seit 22 Wochen demonstrieren Hunderttausende gegen die Regierung Netanjahu

In Israel gärt es. Die Wahl einer ultranationalistischen Regierung, die die Posten des Finanz- und Sicherheitsministers mit chauvinistischen Siedlern besetzte, die Repressionen gegen Palästinenser*innen intensiviert und öffentliche Gelder für ultraorthodoxe Parteien abschöpfen will, haben eine „Demokratie”-Bewegung ausgelöst. 

von Amnon Cohen, z.Zt. Tel Aviv

Höhepunkt war der Generalstreik am 27. März, der einen semi-aufständischen Charakter hatte, mit brennenden Barrikaden auf der Hauptautobahn. Dies zwang Netanjahu, seine Justizreform einzufrieren, mit der er die Justiz der Politik unterwerfen wollte, die Entlassung seines Verteidigungsministers, der die Reform kritisiert hatte, rückgängig zu machen und mit der Opposition zu verhandeln. 

Die israelische Justiz mag Regierungen von verrückten Aktionen abhalten; doch sie verteidigt Kapitalinteressen und gibt häufig grünes Licht für Angriffe auf die Rechte der Palästinenser*innen und der Arbeiter*innen.

Pro-kapitalistische Führung

Die Bewegung hat die unglaubliche Macht der Arbeiter*innenklasse gezeigt. Netanjahu will nun seine Justizreform verwerfen, kann dies aber nicht offen tun, ohne den Zusammenbruch seiner Koalition herbeizuführen. 

Die Bewegung ist klassenübergreifend und umfasst auch Teile der Kapitalist*innenklasse und ihrer politischen Vertreter*innen. Sie lehnen Netanjahus Regierung ab, weil sie zu Recht befürchten, dass seine provokativen Aktionen die nationalen Spannungen verstärken werden, was die Rentabilität ihrer Investitionen untergraben wird. Diese kapitalistischen Elemente dominieren die Führung des Protests. Sie wollen die Forderungen der Bewegung auf die Abschaffung von Netanjahus Justizreform beschränken. 

Krise des Systems

Der ultra-rechte Charakter der Regierung ist ein Spiegelbild der Krise des israelischen Kapitalismus. Da die Kapitalist*innen keine ausreichende Basis in der Gesellschaft haben, sind sie gezwungen, die Arbeiter*innenklasse als Werkzeug im Kampf gegen die Regierung zu benutzen. 

Die selbsternannte Führung der Bewegung bietet kein anderes politisches Programm als die Verteidigung des Status quo und die Rückkehr von so etwas wie der vorherigen Regierung von Yair Lapid, die den Konzernen diente und der Arbeiter*innenklasse nichts bot. Dies ermöglicht es Netanjahu zu behaupten, die Protestbewegung verteidige die Eliten. Auf diese Weise bewahrt er sich die Unterstützung einiger der unterdrückteren Teile der israelischen Gesellschaft.

Ausdauernde Bewegung

In 22 Wochen ist den Protesten nicht die Puste ausgegangen. Auch Verhaftungen und Polizeigewalt haben sie nicht eingeschüchtert, sondern mit 140.000 Teilnehmenden an der Hauptdemonstration in Tel Aviv und kleineren Protesten an 150 anderen Orten wiederbelebt. Die Stimmung auf den Demonstrationen ist zuversichtlich. Die Minister*innen der israelischen Regierung zeigen zunehmend Anzeichen der Verzweiflung. Sie werden bei öffentlichen Auftritten in Israel und im Ausland von Demonstrierenden verfolgt. Der Vorsitzende des Knesset-Ausschusses für Verfassung, Recht und Justiz, Simcha Rothman, wurde gefilmt, wie er einer Demonstrantin in New York ein Megafon entriss.

Programm nötig

Hunderttausende von Teilnehmenden der „Demokratiebewegung” haben ein Gefühl für ihre eigene Stärke bekommen. Aber diese sollte genutzt werden, um ihre eigenen Interessen zu verteidigen und nicht die des Kapitals. Dies erfordert den Aufbau einer neuen Arbeiter*innenpartei, durch die die Hunderttausenden die demokratische Kontrolle über ihre eigene Bewegung durchsetzen, ihre Führer*innen wählen und ihre Forderungen, ihre Strategie und Taktik diskutieren und beschließen könnten. Sie wäre in der Lage, die Netanjahu-Regierung zu stürzen und eine Alternative sowohl zu Netanjahu als auch zu den kapitalistischen Oppositionsparteien zu bieten – was das Leben der einfachen Menschen verbessern, die Lebenshaltungskostenkrise lösen und ein Ende der Besatzung auf der Grundlage einer demokratischen Vereinbarung zwischen israelischen und palästinensischen Arbeiter*innen ermöglichen würde.

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