Tarifergebnis bei der Bahn: Mehr Schein als Sein

In der Urabstimmung mit Nein stimmen!

Der Bundesvorstand der EVG hat in seiner gestrigen Sitzung empfohlen, die Schlichtungsempfehlung für die Bahn-Tarifrunde anzunehmen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es schwer, eine genau Vorstellung davon zu bekommen, wie sich dieses Ergebnis auf die Reallöhne der Kolleginnen und Kollegen auswirkt, weil die Tarife bei der Bahn ein kompliziertes und vielschichtiges Vertragswerk sind. Eines ist aber sicher: Das Ergebnis ist weit weg von den Forderungen der EVG und nah dran an dem Angebot der Geschäftsleitung vor der Schlichtung. Mit Streik wäre sicher mehr rauszuholen. Deshalb sollten die EVG-Mitglieder in der anstehenden Urabstimmung mit Nein stimmen.

Von Sascha Staničić (Sol-Bundessprecher), Jonas Grampp (Mitglied der EVG-Ortsjugendleitung Berlin und der Gesamtjugendvertretung der DB Netz AG*) und Ronald Luther (EVG-Mitglied)

Die EVG hatte zwölf Prozent, mindestens aber 650 Euro Lohnerhöhung bei einer Laufzeit von zwölf Monaten gefordert. Die nun vom EVG-Vorstand zur Annahme empfohlene Schlichtungsempfehlung sieht vor:

  • Eine Laufzeit von 25 Monaten
  • Eine steuerfreie Einmalzahlung von 2850 Euro
  • Eine zweistufige Erhöhung um 200 Euro zum 1.12.2023 und 210 Euro zum 1.8.2024
  • Eine durchschnittliche Erhöhung von 174 Euro für 70.000 Beschäftigte (von über 200.000) durch strukturelle Anpassungen der Tarifverträge zum 1.3.2025 (am Ende der Laufzeit)
  • Eine Ost-West-Angleichung und Aufhebung weiterer regionaler Unterschiede
  • Erhöhung von Zulagen von acht Prozent in zwei Schritten von jeweils vier Prozent

Der EVG-Verhandlungsführer Loroch hat in den letzten Tagen Modellrechnungen verbreitet, nach denen:

  • Fahrdienstleiter*innen (307) bis zu 900 € mehr bekommen// das entspricht ca. 30 Prozent Lohnplus
  • Zugbegleiter*innen (508) bis zu 840 € mehr bekommen// das entspricht ca. 22 Prozent Lohnplus
  • Werkstattmitarbeiter*innen & Instandhalter*innen (107) bis zu 860 € mehr bekommen // das entspricht ca. 24 Prozent Lohnplus

Mit diesen Einzelbeispielen, die für die Masse der Beschäftigten nicht repräsentativ sind, sollte offenbar der Eindruck eines großartigen Ergebnisses erweckt werden. Dabei „vergisst“ der Kollege Loroch jedoch darauf hinzuweisen, dass seine Zahlen sich auf das Ende der Tariflaufzeit, also den März 2025, beziehen und nicht inflationsbereinigt sind. Schon das würde einen anderen Eindruck erwecken. Die Realität sieht aber ohnehin anders aus.

Denn:

  1. Für die große Mehrheit liegt die Erhöhung bei 410 Euro in 25 Monaten
  2. Bei der Minderheit von 70.000 Kolleg*innen, die von einer strukturellen Anpassung der Tarifverträge mit durchschnittlich 174 Euro profitieren, werden viele deutlich weniger als erhalten, als in den Beispielen von Loroch.
  3. Für März bis Dezember 2023 gibt es keine Lohnerhöhung. Die Inflation verringert aber in diesen Monaten die Reallöhne und Kolleg*innen verlieren Kaufkraft. Das muss bei der Bewertung der Gesamterhöhung am Ende der Laufzeit eingerechnet werden, weil es die Gesamtwirkung auf die Kaufkraft der Beschäftigten reduziert.

Reallohnverluste

Nach unserer Berechnung bedeutet das selbst für einen Mitarbeiter, der den Mindestlohn bekommt, über den Gesamtzeitraum einen Reallohnverlust (wenn wir für diesen Zeitraum eine Inflation von 15 Prozent veranschlagen), wenn er nicht von weiteren Verbesserungen durch die Strukturanpassung oder Zulagenerhöhungen deutlich profitiert. Da es diesmal Festgelderhöhungen und keine prozentuale Erhöhung gibt (was dazu dienen soll, dass die niedrigeren Einkommen überproportional steigen und grundsätzlich zu unterstützen ist), wird der Reallohnverlust mit einem höheren Lohn auch steigen.

Die Einmalzahlung von 2850 Euro ist hier nicht reinzurechnen, weil sie keine Auswirkung auf die so genannten Tabellenlöhne hat, also bei zukünftigen Lohnerhöhungen keine Rolle spielt. Dies ist „süßes Gift“, weil sie zwar die unmittelbare Situation der Beschäftigten verbessert, aber keine dauerhafte Wirkung auf das Lohnniveau hat. Deshalb hatten auch EVG-Führer*innen betont, dass diese gerne zusätzlich zu den geforderten 650 Euro tabellenwirksame Lohnerhöhung ausgezahlt werden kann, aber nicht als Kompensation für niedrigere tabellenwirksame Lohnerhöhungen dienen darf. Wenn diese Einmalzahlung nun von der EVG-Führung in die Zahlen der prozentualen Lohnerhöhung eingerechnet wird, ist das Augenwischerei.

In den sozialen Medien zeigt sich, dass viele Kolleginnen und Kollegen (selbst diejenigen, die profitieren würden) wütend darüber sind, dass die geplante Strukturanpassung zu einer Spaltung der Belegschaft führt, da sie nur einem Teil der Belegschaft zugute kommt. Dabei hatte die EVG in der Tarifrunde sogar den Slogan “Gemeinsam geht mehr” und später “Gemeinsam bleibt gemeinsam” aufgestellt, was nun als Verhöhnung aufgefasst wird.

Bei dem Ergebnis muss auch bedacht werden, und das fällt vielen Kolleginnen und Kollegen auf, dass die EVG in der letzten Tarifrunde im Jahr 2021 während der Corona-Pandemie das miserable Ergebnis von 1,5 Prozent damit begründet hatte, in der folgenden Tarifrunde deutlich mehr rausholen zu wollen, um die Reallohnverluste auszugleichen. Diese Verluste seit 2021 werden mit diesem Ergebnis nicht ausgeglichen, wobei erschwerend hinzu kommt, dass die Inflation bereits vor dem Ukraine-Krieg höher stieg als erwartet.

EVG-Führung: Vom Tiger zum Bettvorleger

Die EVG ist als Tiger in diese Tarifrunde los gesprungen. Die Forderung von 650 Euro war Folge des Unmuts und des Drucks der Kolleginnen und Kollegen, die nach Reallohnverlusten der letzten Jahre und angesichts der unverschämten Selbstbedienungsmentalität der DB-Geschäftsführung endlich eine angemessene Lohnerhöhung und Würdigung ihrer Arbeit sehen wollten. Entsprechend kämpferisch war die Stimmung und hoch die Beteiligung bei den Warnstreiks.

Die EVG-Führung ist nun jedoch als Bettvorleger gelandet und hat die Erwartungen und Ansprüche der EVG-Basis nicht erfüllt. Das mag vielen Kolleginnen und Kollegen erst bewusst werden, wenn sie sehen, wie viel Geld letztlich auf ihrem Konto landet, früher oder später wird es aber diese Erkenntnis geben. Die strukturelle Anpassung der Tarifverträge mag grundsätzlich sinnvoll sein, hätte aber nur zusätzlich zu einer angemessenen Lohnerhöhung für Alle kommen dürfen und sollte jetzt nicht dazu genutzt werden, das schlechte Ergebnis für die Mehrheit schönzureden.

Klar ist: das Ergebnis ist in jeder Hinsicht sehr weit weg von den Forderungen. Angesichts der hohen Laufzeit von 25 Monaten ist die vorgesehene Lohnerhöhung weniger als die Hälfte der Forderung. Das wird auch für viele gelten, die aufgrund der strukturellen Anpassung mehr als die 410 Euro erhalten. Klar ist auch: die Schlichtungsempfehlung unterschied sich kaum vom letzten Angebot der DB-Geschäftsleitung. Das alleine hätte als Provokation gewertet und abgelehnt werden müssen. Stattdessen wird sich von der EVG-Führung brav bei den Schlichtern bedankt, die offensichtlich das getan haben, was Schlichter*innen so gut wie immer tun: das Geschäft der Unternehmen betreiben.

Vertane Chance zur Stärkung der Gewerkschaft

Man muss sich die Frage stellen, warum Gewerkschaftsführer*innen bei Warnstreiks radikale Reden halten, um dann wieder einzuknicken, wenn es ernst wird. Die Kampfbereitschaft war da und die Warnstreiks – insbesondere auch der gemeinsame Streiktag mit ver.di – hatten gezeigt, welche Macht die Beschäftigten haben. Ein Erzwingungsstreik – ob als unbefristeter Vollstreik, eine Kombination von unbefristetem Streik im Güterverkehr und Wellenstreik im Personenverkehr oder anders durchgeführt – hätte ganz sicher ein besseres Ergebnis erkämpfen können. Und nicht nur das: ein solcher Streik hätte der EVG mehr Mitglieder beschert und wäre eine Möglichkeit gewesen, Mitglieder zu aktivieren und in ehrenamtliche Funktionen in der Gewerkschaft zu bringen, so also die Gewerkschaft dauerhaft zu stärken. Deshalb rufen wir alle EVG-Mitglieder auf, bei der anstehenden Urabstimmung mit Nein zu stimmen.

Viele Kolleg*innen hatten in der ersten Phase der Tarifrunde eine Begeisterung entwickelt. Ein Kollege sagte, er sei zum ersten Mal seit Jahren wieder stolz auf seine Gewerkschaft. Es wurde von mehr Diskussion und Einbeziehung der ehrenamtlichen Funktionär*innen berichtet. Das änderte sich abrupt mit dem gerichtlichen Vergleich im Mai und der Absage des damals angesetzten Warnstreiks. Seitdem war die EVG in altbekannte Top-Down-Verfahren zurückgefallen und wussten die Kolleginnen und Kollegen oftmals nicht mehr, was überhaupt los war. Darin ist eine wichtige Lehre begründet: auch wenn die Gewerkschaftsbürokratie mal die Zügel locker lässt, weil es Druck von unten gibt oder sie auch selbst zu der Erkenntnis kommt, dass sie Mitglieder mehr einbeziehen sollte, um sie nicht zu verlieren – letztlich ändert das nichts an dem bürokratischen Charakter der Organisation und der Tatsache, dass dieser wirkt, wenn es ernst wird. Das haben wir auch bei ver.di gesehen, als es in den Tarifrunden bei der Post und im öffentlichen Dienst dann darum ging, die erzielten Kompromisse in der Mitgliedschaft durchzusetzen.

Vernetzung nötig

Daraus sollten Gewerkschaftsmitglieder Schlussfolgerungen ziehen und sich in Opposition zur bürokratischen Führung vernetzen und kämpferische Aktiven-Gruppen aufbauen, die eine programmatische und personelle Alternative zu den derzeitigen Gewerkschaftsführungen entwickeln können.

Ansätze dafür gibt es mit dem Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di, der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und der Bahnvernetzung.

*= Funktionsangabe dient nur zur Kenntlichmachung der Person

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