Zur Lage in Deutschland
Anderthalb Jahre nach der von Kanzler Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“ vergeht kein Tag ohne Meldungen über Streitigkeiten innerhalb der Ampel-Koalition, erlebt die AfD einen Höhenflug in den Meinungsumfragen, steckt die deutsche Wirtschaft in einer so genannten „technischen“ Rezession und schreitet die soziale und politische Polarisierung im Land fort. Während es im ersten Halbjahr, vor dem Hintergrund der anhaltend hohen Inflation, zur größten Warnstreikwelle seit Jahrzehnten kam und über hunderttausend Beschäftigte in die Gewerkschaften eingetreten sind, hat dieser Aufschwung im Klassenkampf nicht dazu geführt, die öffentlichen Debatten eindeutig in Richtung sozialer und Klassenfragen zu verschieben. Das liegt auch in der Verantwortung der Linkspartei, die weiter ein Trauerspiel veranstaltet und sich als unfähig erwiesen hat, den Ball der Streikwelle aufzugreifen und diese dazu zu nutzen, Klassenfragen auf die politische Ebene zu heben.
Von Sascha Staničić
Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklungen in Deutschland finden vor dem Hintergrund der weltweiten Krisenprozesse statt. Wissenschaftler*innen und Kommentator*innen überschlagen sich in ihrer Kreativität, Begriffe für diese Krisen zu finden: Polykrise, multiple Krise, Permakrise …. Wie auch immer man es nennt: Das kapitalistische System befindet sich in einem dauerhaften Krisenzustand, der alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst – die Wirtschaft, die Umwelt, die soziale Lage der Weltbevölkerung, die Gesundheit der Menschheit, die politischen Institutionen des Systems und leider auch die politischen Kräfte auf der Linken.
Was bedeutet das konkret im viertreichsten Land auf der Welt? Dauerhaft hohe Preissteigerungen, vier Millionen Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen, 2,9 Millionen Kinder und Jugendliche sind armutsgefährdet oder -betroffen, die Zahl der Nutzer*innen von Lebensmittelspenden bei Tafeln hat sich verdoppelt (während sich die Spenden halbiert haben), Schulgebäude sind marode, ein Viertel der Viertklässler*innen kann nicht ausreichend lesen und schreiben, es gibt riesigen Mangel an Lehrer*innen, Erzieher*innen, Pflegepersonal, Arztpraxen und vielem mehr, gefühlt fährt kein Zug mehr pünktlich (wenn er überhaupt fährt), Depressionserkrankungen befinden sich auf einem Höchststand, Extremwetterereignisse nehmen zu. Die Liste ließe sich fortsetzen…
Die Probleme und das Elend der Einen, sind der Luxus der Anderen. Ganz nach Bertolt Brecht gilt: Wär’ ich nicht arm, wärst Du nicht reich. Der private Reichtum in der Bundesrepublik hat sich seit dem Beginn der Pandemie weiter erhöht, Unternehmensgewinne sind seit der Pandemie enorm gestiegen.
Rezession und Inflation
Karl Marx hat im Rahmen seiner Untersuchungen der kapitalistischen Ökonomie festgestellt, dass es in dieser einen wiederkehrenden Zyklus von Aufschwung und Krise gibt. Während die Tendenz in der Anfangsphase der Kapitalismus und (aufgrund einer besonderen Weltlage) in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch nach oben ging (starke und längere Aufschwünge, kleinere Krisen), hat sich dies geändert. Seit der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1970er Jahren werden die Krisen tiefer und mit der Großen Rezession von 2007/08 ist die Welt in eine neue dramatische Phase eingetreten, in der sich die gesellschaftlichen Krisenprozesse und Widersprüche enorm zuspitzen.
Die Pandemie verschärfte eine Wirtschaftskrise, die ohnehin schon auf dem Weg war. In Deutschland brach die Wirtschaftsleistung 2020 um fünf Prozent ein. Der Ukraine-Krieg verschärfte dann die Inflation, die sich auch schon vorher entwickelt hatte. Das Ergebnis ist die schlimmste aller Welten: hohe Inflation bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Stagnation oder gar rückläufiger Wirtschaftsleistung. Die klassischen Mittel der Bürgerlichen gegen das eine Problem treiben das andere an: Höhere Zinssätze zur Bekämpfung der Inflation sind ein Rezessionsprogramm. Eine lockere Geldpolitik treibt die Inflation hoch. Entsprechend uneinig sind sich die herrschenden kapitalistischen Kreise über den Umgang mit dieser Situation – und nutzen sie gleichzeitig schamlos aus. Nach Berechnung des Hans-Böckler-Instituts sind Unternehmensgewinne ein wesentlicher Preistreiber und machen fünfzig Prozent der Inflation aus. Der Arbeiter*innenklasse wird aber erzählt, es drohe eine Lohn-Preis-Spirale und sie dürfe keine hohen Lohnforderungen stellen. In Wahrheit treiben die Gewinne der Unternehmen die Inflation noch höher, als sie ohnehin schon wäre.
Ein großer Teil von Wirtschaftswissenschaftler*innen erwartet in diesem Jahr eine globale Rezession. Der Internationale Währungsfonds hat erklärt, dass es sich für viele Länder wie eine Rezession anfühlen wird, auch wenn es formal nicht dazu kommen sollte. In Deutschland fühlt sich die aktuelle Rezession, der Rückgang der Wirtschaftsleistung in den letzten beiden Quartalen, noch nicht ganz so an, wie man es von Wirtschaftskrisen gewöhnt ist – wobei es eine Steigerung der Insolvenzen um 48 Prozent im Vergleich zu 2022 gab. Das liegt nicht zuletzt daran, dass wegen des Fachkräftemangels die Erwerbslosigkeit gerade nicht in die Höhe getrieben wird, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es weiterhin offiziell 2,6 Millionen Arbeitslose gibt. Der Fachkräftemangel ist im letzten Jahr um 25 Prozent gestiegen. Trotzdem wird eine Wirtschaftskrise, insbesondere wenn sie sich zu eine tiefen Wirtschaftseinbruch entwickeln sollte, auch Arbeitsplätze vernichten und zu Betriebsschließungen führen. Nur wird es für diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, möglicherweise leichter sein, einen neuen Job zu finden – wenn auch oft zu schlechteren Bedingungen. Aber auch diese Rezession wird, in Kombination mit der prokapitalistischen Politik der Regierenden auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene weitreichende Folgen haben. Die angekündigten und diskutierten Haushaltskürzungen sind davon ein Vorbote.
Wie genau sich die Wirtschaft entwickeln wird, ist nicht vorherzusehen. Aber die Zeichen stehen weltweit auf Krise angesichts des Abschwungs in China, der Rezession in der Euro-Zone, der hohen Verschuldung und Inflation. Das wird bedeuten, dass die von Christian Lindner geforderte „wirtschaftspolitische Zeitenwende“ der Androhung eines Großangriffs auf die Rechte und Errungenschaften der Arbeiter*innenklasse gleich kommt.
Streiks und Gewerkschaften
Diese Arbeiter*innenklasse ist 2023 eindrucksvoll in Erscheinung getreten und hat all diejenigen Lügen gestraft, die behaupten, sie sei ein Relikt der Vergangenheit. Hunderttausende haben an den Warnstreiks bei der Post, im öffentlichen Dienst, der Bahn, im Handel, der Süßwarenindustrie, bei Lieferservicefirmen und anderen teilgenommen. Reallohnverluste der letzten Jahre, die hohe Inflation und ein gestiegenes Selbstbewusstsein aufgrund des Arbeitskräftemangels führten dazu, dass verhältnismäßig hohe Forderungen aufgestellt wurden und eine sehr große Kampfbereitschaft existierte. In ver.di sind über 100.000 Kolleg*innen neu eingetreten. Es wurde deutlich, was Sozialist*innen immer gesagt haben: Gewerkschaften können dann Mitglieder gewinnen, wenn sie kämpfen. Das zeigt, dass der Trend von Mitgliederverlusten und Rückgang der Tarifbindung aufgehalten und umgekehrt werden kann.
Tatsächlich hat es in einigen Gewerkschaften auch positive strukturelle Veränderungen gegeben, die teils durch Kolleginnen und Kollegen von unten durchgesetzt wurden, teils darauf zurückzuführen sind, dass auch Teile der Gewerkschaftsbürokratie anerkennen müssen, dass sie ihre Mitglieder mehr in Diskussionen und Entscheidungsfindungen einbeziehen müssen, wenn sie diese nicht verlieren wollen.
In Berlin gab es beispielsweise durch die Erfahrungen aus der Krankenhausbewegung wichtige Schritte der Demokratisierung und der Verbindung verschiedener Betriebe. So gab es hier gemeinsame Streikdelegiertenversammlungen aus den Krankenhäusern, der Berliner Stadtreinigung, der Wasserwerke und anderer Betriebe und gemeinsame Streikdemonstrationen. Auch in der Bahngewerkschaft EVG hat es mehr Möglichkeiten zur Diskussion und mehr Einbeziehung vor allem von Aktiven und Funktionär*innen gegeben. Allerdings ist dies kein einheitliches Phänomen und sind diese Veränderungen sehr begrenzt. So gibt es aus Stuttgart Berichte, dass dort weniger Streikversammlungen stattfanden als in der Vergangenheit, was auch mit personellen Veränderungen in der örtlichen ver.di-Führung zusammenhängt.
Die Warnstreiks hatten eine hohe Beteiligung und erstmals kam es zu einem gemeinsamen Streiktag der Beschäftigten bei Bund und Kommunen und der Bahnbeschäftigten, der durch ver.di und EVG koordiniert wurde. Dieser in den Medien als „Mega-Streik“ bezeichnete Ausstand markierte eine neue Qualität, die durch die Gewerkschaftsführungen leider nicht genutzt wurde, um große gemeinsame Demonstrationen zu organisieren, in denen die Beschäftigten ihre enorme Kraft wirklich hätten spüren können. Erstmals kam es auch zu einem gemeinsamen Streiktag von Fridays For Future und den Nahverkehrsbeschäftigten im öffentlichen Dienst, was auf beiden Seiten einen wichtigen Schritt markiert: eine Politisierung des Tarifkampfs und eine Hinwendung von Teilen der Umweltbewegung zur Arbeiter*innenklasse und der sozialen Frage. Das zeigt, was möglich gewesen wäre, wenn die Gewerkschaftsführungen die verschiedenen Tarifkämpfe miteinander verbunden hätte und daraus eine gesellschaftspolitische Bewegung für die Umverteilung von Reichtum, Klimaschutz, aber auch eine bessere Gesundheitsversorgung, Ausstattung der Bildungseinrichtungen etc. gemacht hätte.
Die Warnstreikwelle löste bei vielen Kolleg*innen Begeisterung und hohe Erwartungen aus – die dann bitter enttäuscht wurden. Denn wieder wurden Abschlüsse ausgehandelt ohne das Mittel des unbefristeten Erzwingungsstreiks einzusetzen und wieder nutzte die Gewerkschaftsbürokratie dabei Top-Down-Methoden um Zustimmung für ihre schlechten Kompromisse zu erreichen.
Bei der Post wurde trotz überwältigender Mehrheit für einen Streik in der Urabstimmung kein Streik ausgerufen, sondern einem Kompromiss zugestimmt gegen dessen Inhalte die Gewerkschaftsführer*innen nur wenige Tage zuvor noch Sturm gelaufen waren. Ein ebenso unzureichendes Ergebnis wurde im öffentlichen Dienst angenommen, wo die Streikdynamik durch ein Schlichtungsverfahren ausgebremst wurde. In beiden Fällen gab es zwar eine Mitgliederabstimmung bzw. -befragung über die Ergebnisse, die entsprechende Mehrheiten erzielten, in deren Vorfeld aber auch keine breite Diskussion organisiert wurde, in der die Argumente für und wider dem Kompromiss dargestellt werden konnten, sondern seitens der Führung einseitige Propaganda für das Verhandlungsergebnis gemacht. Schon bei den Tarifbotschafter-Zoom-Konferenzen gab es keine Möglichkeit zur offenen Debatte. Ähnliches vollzieht sich zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses dieser Ausgabe von „sozialismus heute“ in der Bahngewerkschaft EVG, die die Durchführung einer schon angekündigten Urabstimmung aussetzte und ohne Not einem Schlichtungsverfahren zustimmte, das eine Friedenspflicht beinhaltet und die Streikdynamik gebrochen hat.
Das zeigt: trotz aller positiven Entwicklungen bleiben die Gewerkschaften unter der Kontrolle bürokratischer Apparate und ist eine demokratische Erneuerung dringend nötig. Um eine solche zu erreichen, sollten sich Aktivist*innen vernetzen und eine organisierte, klassenkämpferische Strömung aufbauen, die den Kampf um eine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse in den Vorständen aufnehmen kann. Es ist eine positive, und wahrscheinlich die wichtigste, Entwicklung, dass sich hier für innerhalb von ver.di neue Ansätze entwickelt haben.
Ein erster Streikzyklus ist zu Ende gegangen und konnte hat zwar nominell höhere Abschlüsse erkämpfen als in der Vergangenheit, angesichts der Inflation jedoch für die meisten Beschäftigten Reallohnverluste nicht verhindern. Die Verantwortung dafür liegt bei den Gewerkschaftsführungen, die nicht bereit waren, zum Mittel des unbefristeten Erzwingungsstreiks zu greifen.
Doch im Herbst geht es schon weiter mit den Tarifrunden der Lokführer*innengewerkschaft GDL, den öffentlichen Länderbeschäftigten und 2024 dann der Tarifrunde Nahverkehr. Letztere wird von besonderer Bedeutung sein, weil ver.di und Teile der Umweltbewegung mit der gemeinsamen Kampagne „Wir fahren zusammen“ diese Tarifrunde auch als politischen Kampf für Klimaschutz führen wollen.
Die GDL-Führung hat in diesem Zusammenhang die Gründung einer Personaldienstleister-Genossenschaft namens „Fairtrain“ angekündigt und ihre Lokführer*innen-Mitglieder bei der Deutschen Bahn aufgefordert, dort zu kündigen und in diese Leiharbeitsbude zu wechseln. In ihrem grenzenlosen Vertrauen in die Marktwirtschaft setzt die GDL-Führung darauf (auch vor dem Hintergrund des Personalmangels) mit dieser Genossenschaft eine solche Marktmacht zu erlangen, dass sie der Deutschen Bahn die Lohn- und Arbeitsbedingungen aufzwingen kann. Das mag aktuell theoretisch möglich sein, praktisch ist es schwer vorstellbar, dass eine ausreichende Zahl von Lokführer*innen ihre immerhin unbefristeten Arbeitsplätze gegen dieses Abenteuer eintauschen werden. Vor allem aber hebt die GDL sich dadurch als Gewerkschaft selbst auf und ersetzt den Kampf gegen die Konkurrenz innerhalb der Arbeiter*innenklasse durch den Konkurrenzkampf auf dem kapitalistischen Markt als Genossenschaftsunternehmen. In einem krisenhaften Kapitalismus bedeutet das früher oder später, dass die Krisen auch die „Fairtrain“ treffen würden, selbst wenn sie einen erfolgreichen Start hinlegen würde. Dann stünden die Fairtrain-Genoss*innen vor dem Dilemma ihre eigenen Lohn- und Arbeitsbedingungen zu beschneiden, Arbeitsplatzabbau vorzunehmen oder gegen sich selbst zu streiken. Hinzu kommt, dass angesichts der skandalösen und unsolidarischen Haltung der GDL-Führung gegenüber den EVG-Warnstreiks zu befürchten ist, dass die „Fairtrain“ ihre Mitarbeiter*innen auch als Streikbrecher einsetzen könnte. Das wäre genau der falsche Weg. Richtig wäre es, wie es die Bahnvernetzung, ein Zusammenschluss kritischer EVG- und GDL-Mitglieder, fordert, dass die Spaltung zwischen den beiden Gewerkschaften im gemeinsamen Kampf überwunden wird.
Ampel = unsozial und instabil
Die Streiks haben die enorme Polarisierung, die zwischen den sozialen Klassen existiert, zum Ausdruck gebracht. Sie haben auch, obwohl die Gewerkschaftsführung das tunlichst vermeiden wollte, den Druck auf die Ampelregierung massiv verstärkt und einen, wenn auch nicht direkt sichtbaren, Beitrag zur Krise der Koalition geleistet. Das Tragische an der gegenwärtigen Situation ist jedoch, dass sich die Warnstreikwelle nicht direkt auf der politischen Ebene ausdrückt, weil die Gewerkschaftsführungen dies nicht wollen und weil DIE LINKE sich als unfähig gezeigt hat, eine wirkungsvolle Unterstützungskampagne für die Streiks auf die Beine zu stellen und die öffentliche Debatte auf soziale und Klassenfragen zu verschieben. Stattdessen hat sie ihre Selbstbeschäftigung auf die Spitze getrieben. Ergebnis ist, dass auf der politischen Ebene in Form der öffentlich geführten Debatten und der Wahlumfragen, CDU/CSU und vor allem die AfD von der Krise der Ampel-Koalition profitieren.
Wären heute Bundestagswahlen, würden Scholz, Habeck und Lindner abgewählt. Die Grünen könnten nach ihrem zwischenzeitlichen Höhenflug in Umfragen ihr Ergebnis von 2021 gerade mal halten, während SPD und FDP verlieren. Nach weniger als zwei Jahren im Amt ist von der groß angekündigten „Fortschrittskoalition“ nichts übrig geblieben. Kommentator*innen sprechen von einem „Nebeneinander“ statt einem „Miteinander. Vor allem die FDP nimmt immer mehr die Rolle eine fundamentalistisch-neoliberalen Opposition innerhalb der Regierung ein und konnte sich an wichtigen Fragen durchsetzen.
Schon der erste Entwurf des so genannten Heizungsgesetzes war klimapolitisch unzureichend und hätte die Kosten auf die Masse der Bevölkerung abgewälzt. Der nun vom Kabinett beschlossene Entwurf ist an vielen Punkten schlechter. Beim Klimagesetz wurden ebenfalls Veränderungen vorgenommen, die nicht zuletzt dem FDP-Verkehrsminister Wissing dabei helfen werden, seine Straßenbauprogramme umzusetzen. Vor allem aber legt Finanzminister Lindner einen Haushaltsentwurf vor, der der erste Kürzungshaushalt seit Jahren wird. Er und Kanzler Scholz sprechen davon, dass es eine Rückkehr zur „haushaltspolitischen Normalität“ geben müsse, soll heißen: Einhaltung der Schuldenbremse, Haushaltskonsolidierung mittels Kürzungen. Die Unterfinanzierung der öffentlich notwendigen Investitionen wird dabei nicht durch die Kürzungssumme von circa 14 Milliarden Euro deutlich, sondern allein schon in der Tatsache, dass die einzelnen Ministerien einen vielfach höheren Bedarf angemeldet hatten. Doch stattdessen wird gekürzt, mit Ausnahme u.a. bei der Rüstung, die ja schon letztes Jahr ihr 100-Milliarden-Sondervermögen erhielt. Panzer sind im Kapitalismus halt wichtiger als Kinder und Bildung. Und so wird die Kindergrundsicherung auf lächerliche zwei Milliarden gestutzt, Mittel für Bafög gestrichen und das Elterngeld beschnitten (wenn auch nur für Besserverdiener mit einem Jahreseinkommen ab 150.000 Euro). Aber dieser Kürzungshaushalt zeigt die Richtung an, in die es gehen soll. Da fordert die CDU das Ende der Rente mit 63 und ein selbsternannter Experte nach dem anderen macht kreative Vorschläge zur Deckung des Defizits bei den Gesetzlichen Krankenkassen: Zahnarztbesuche ganz aus dem Leistungskatalog streichen, Eigenbeteiligung von bis zu 1400 Euro für Arztbesuche einführen. Und Karl Lauterbach setzt seine Krankenhausreform um, die nicht zu weniger Gewinnorientierung, aber zu Krankenhausschließungen führen wird.
All das zeigt, wohin die Richtung gehen soll und dies wird durch wirtschaftliche Krisen noch beschleunigt werden. Ob die Ampel-Koalition überhaupt bis zum Ende der Legislaturperiode durchhalten wird, ist offen und eine CDU/CSU-geführte Regierung würde einen solche arbeiter*innenfeindliche Richtung ebenfalls forcieren.
AfD Höhenflug
Obwohl eigentlich soziale und ökonomische Fragen das Leben der Menschen im letzten Jahr am meisten negativ beeinflusst haben und obwohl es massenhafte Streiks für Lohnerhöhungen gab, drückt sich dies auf der politischen Ebene nicht durch eine Stärkung linker Kräfte aus. Anders als zum Beispiel in Österreich, wo sowohl die Kommunistische Partei wichtige Wahlerfolge erzielen konnte, als es auch in der Sozialdemokratie eine bemerkenswerte Linksverschiebung mit der Wahl von Andreas Babler zum Parteivorsitzenden gegeben hat. Dort hat das die gesellschaftliche Debatte ein großes Stück weit hin zu sozialen und klassenpolitischen Fragen verschoben: zu Themen wie Vermögensteuer, Arbeitszeitverkürzung etc. und auch einer Debatte über das Für und Wider von Marxismus, weil Babler von den bürgerlichen Medien als vermeintlicher Marxist angegriffen wird. Das ist in Deutschland anders. Hier wurde selbst der sozialpolitische Aspekt der Heizungsdebatte von rechts besetzt, weil CDU/CSU und AfD die Klimapolitik der Regierung populistisch als unsozial angreifen und damit das berechtigte Gefühl in weiten Teilen der Arbeiter*innenklasse nähren, dass vor allem die Grünen die Masse der Bevölkerung für Klimaschutzmaßnahmen zur Kasse bitten wollen. Und auch abgesehen davon, gelingt es rechten und konservativen Kräften teilweise andere Themen zu setzen, wie Genderdebatte oder Zuzug von Geflüchteten. Das kommt einem großen Ablenkungsmanöver von den eigentlichen gesellschaftlichen Problemen und ihren Verursacher*innen gleich.
Das ist der Hintergrund vor dem die AfD gerade einen Höhenflug in Meinungsumfragen hat und in Ostdeutschland jeweils einen ersten direkt gewählten Landrats- und Bürgermeisterposten erobern konnte. Hätte es in den letzten Jahren eine starke sozialistische Arbeiter*innenpartei gegeben, die die Klasseninteressen der Lohnabhängigen formuliert und für diese kämpft, wäre das verhinderbar gewesen. Die AfD kann aber so gerade zum alleinigen Profiteur der Unzufriedenheit und des Unmuts gegenüber den etablierten Parteien werden. Sie kann dabei auf nationalistischen und migrationsfeindlichen Stimmungen aufbauen, die über viele Jahre auch von anderen prokapitalistischen Parteien und Medien mit genährt wurden und kann ausnutzen, dass viele Menschen keinen Weg sehen, erfolgreich gegen „die da oben“ zu kämpfen. Aber: nur 32 Prozent der AfD-Wählerinnen sagen, dass sie die Partei aus Überzeugung wählen, ein wachsender Teil der Wähler*innen geht gar nicht mehr zur Wahl und nimmt das rassistische Angebot der AfD nicht an (Umfragen vor einigen Jahren haben ergeben, dass sich Nichtwähler*innen selbst überdurchschnittlich links verorten). Und es darf auch nicht vergessen werden, dass 8,7 Millionen Menschen, der größte Teil davon aus der Arbeiter*innenklasse, überhaupt nicht wählen dürfen, weil sie keinen deutschen Pass haben. Das soll keine Entwarnung sein. Der Erfolg der AfD ist eine große Gefahr. Große Teile ihrer Wähler*innenschaft teilen ihre nationalistischen und migrant*innenfeindlichen Grundpositionen. Sie kann gesellschaftliche Stimmungen, Debatten und auch die herrschende Politik nach rechts verschieben, wenn sie nicht aufgehalten wird. Aber ihre Wahlerfolge sind nicht solide und der Erfolg der AfD ist umkehrbar.
Allerdings nicht mit den Mitteln der etablierten Parteien oder auch der LINKE-Protagonist*innen. Die Wahl des AfD-Landrats in Sonneberg hat gezeigt, dass das Aufstellen von Einheitskandidat*innen aller anderen Parteien gegen die AfD diese nicht stoppen wird. Dieses Vorgehen bestätigt es das Narrativ der AfD, sie sei die einzige gesellschaftliche Opposition zu den Etablierten. Dass sie selbst aus dem Establishment kommt, noch dazu weitgehend aus dem Westdeutschen, sei da nur am Rande erwähnt. Für DIE LINKE ist es tödlich, dass sie sich durch Regierungsbeteiligungen mit pro-kapitalistischen Parteien, parlamentarischen Absprachen mit der CDU in Thüringen und Unterstützung von CDU-Kandidaten wie in Sonneberg selber ins Bett mit den etablierten pro-kapitalistischen Parteien legt. Unterm Strich schwächt das DIE LINKE und stärkt die AfD.
Dabei sollten Linke aber nicht nur von diesen Umfragen auf die Stimmung und das Bewusstsein innerhalb der Arbeiter*innenklasse schließen. Die Hunderttausenden, die an den Streiks teilgenommen haben, haben wichtige, das Bewusstsein prägende Erfahrungen kollektiven und solidarischen Handelns gemacht. Wir können davon ausgehen, dass unter der Oberfläche eine Stimmung, zumindest bei wesentlichen Teilen der Klasse, existiert, die gerade keinen Ausdruck findet. Es gibt auch Hinweise, dass die ablehnende Haltung gegenüber Geflüchteten heute (noch) einen weniger aggressiv-rassistischen Charakter hat als in den 1990ern und nach der hohen Einwanderung von Geflüchteten 2015. In Greifswald zum Beispiel mussten die Gegner*innen einer Geflüchteten-Containerunterkunft ihre Kampagne dagegen unter anderem mit dem Slogan „Für menschenwürdige Unterbringung“ führen. Jedoch steigt die Zahl rassistischer Übergriffe in den letzten Jahren wieder an und werden die Spaltungstendenzen zunehmen, wenn dem durch Gewerkschaften und linke Kräfte nicht eine kämpferische Alternative entgegengesetzt wirde, die die Arbeiter*innenklasse einigen kann.
DIE LINKE
Dass diese Situation so ist, ist nicht zuletzt Verantwortung der verschiedenen Führungsköpfe der verschiedenen Strömungen der LINKEN, vor allem aber der in den Fraktionen und Ministerposten führenden Parteimitglieder und natürlich von Sahra Wagenknecht und ihren Unterstützer*innen. Der Riss zwischen ihrem Lager und dem Rest der Partei ist nicht mehr zu kitten. Der einstimmige Beschluss des Parteivorstands, der sie aufforderte, ihre Bundestagsmandat zurückzugeben hat das Tischtuch wohl endgültig zerrissen, das schon von allen Seiten beschädigt war. Eigentlich spricht alles dafür, dass Wagenknecht zur Europawahl eine neue Partei aus der Taufe heben wird, vor allem die Tatsache, dass eine solche Partei ein erhebliches Wähler*innenpotenzial hätte. Nur scheint sie Probleme zu haben, dazu das nötige Personal zu finden. Und auch unter Teilen ihrer Unterstützer*innen, die aus der Sozialistischen Linken, einer Strömung innerhalb der Linkspartei, kommen, scheint es Diskussionen darüber zu geben, wie weit man Wagenknecht politisch angesichts ihres national-konservativen und migrationsfeindlichen Kurses eigentlich unterstützen kann. Gelingt es nicht, eine ausreichend starke Organisationsstruktur zu schaffen, bestünde wohl die Gefahr, dass eine solche Partei – ähnlich wie es dem Projekt „aufstehen“ ging – nach einem anfänglichen Höhenflug eine Bruchlandung nehmen könnte.
Kommt eine Wagenknecht-Partei wäre das wahrscheinlich das parlamentarische Ende für DIE LINKE auf Bundesebene und in Westdeutschland. In den Meinungsumfragen für die Landtagswahlen in Bayern und Hessen, die im Herbst stattfinden, ist die Partei weit von der Fünf-Prozent-Marke entfernt und würde in Hessen aus dem Landesparlament fliegen. Aber schlimmer ist, dass große Teile der Parteilinken im Kampf gegen Wagenknecht und um das politische Überleben einen prinzipienlosen Block mit Teilen der Parteirechten eingegangen sind. In der Konsequenz bedeutet das, dass diejenigen in der Partei, die ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht haben und auf Regierungsbeteiligungen mit SPD und Grünen setzen, gestärkt werden. Versuche dieser Kreise ein neues Grundsatzprogramm auf den Weg zu bringen, zeugen von ihrem Selbstbewusstsein. Diese Entwicklung würde nach einer Abspaltung des Wagenknecht-Lagers noch verstärkt. Hoffnungen darauf, dass es nach einem solchen Bruch einen größeren Zulauf aus der Umweltbewegung oder anderen sozialen Bewegungen geben könnte, haben sicher eine Grundlage in den Debatten, die in teilen der Umweltbewegung gerade geführt werden. Es ist aber nicht davon auszugehen, dass dies eine qualitative Veränderung für die Partei bedeuten wird. Diese kann wahrscheinlich nur kommen, wenn eine größere Welle von Klassenkämpfen DIE LINKE als einzige Partei erkennbar macht, die an der Seite dieser Kämpfe steht. Das ist nicht auszuschließen, aber auch vor dem Hintergrund der diesjährigen Erfahrung sehr unwahrscheinlich.
Nach den Streikmonaten in der ersten Jahreshälfte hat nun für Linke eine etwas kompliziertere Situation eingesetzt. Dabei ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass sich das schnell wieder ändern kann – angesichts der enormen Instabilität und Unzufriedenheit mit der Regierung. Dennoch scheint diese Situation im Moment auch eine lähmende Wirkung auf manche Linke zu haben. So kann man sich erklären, dass es beispielsweise keine größeren Proteste gegen das Air Defender Manöver oder die EU-Asylrechtsreform gegeben hat. Es gibt auch nicht nur in der Linkspartei ein hohes Maß an Selbstbeschäftigung. Die wahrscheinlich größte linksaktivistische Organisation neben der LINKEN, die Interventionistische Linke, steckt in einer Krise und hat über Austritte zu klagen. Hintergrund sind hier nicht zuletzt die Folgen identitätspolitischer Ausrichtung solcher Organisationen. Deutsche Wohnen enteignen hatte vor zwei Jahren eine erfolgreiche Volksabstimmung für die Enteignung der großen Immobilienkonzerne durchgesetzt und nun den unerwarteten juristischen Erfolg erzielt, dass selbst die vom Berliner Senat eingesetzte Expert*innenkommission grünes Licht für eine Enteignung gab. Die Kampagne hat aber die Breite und Strahlkraft ihrer Anfangszeit völlig verloren, weil sich in ihr die IL und andere identitätspolitisch ausgerichtete Kräfte durchgesetzt haben, die andere Kräfte an den Rand bzw. aus der Kampagne gedrängt haben. All das und die Entwicklung der Linkspartei sind ein Hinweis für die Bedeutung davon, nicht nur den Klassenkampf voranzutreiben, sondern auch den Kampf für sozialistische Analysen und Methoden innerhalb der Linken und Arbeiter*innenbewegung zu führen und die Notwendigkeit der Bildung einer sozialistischen Arbeiter*innenpartei zu propagieren und Schritte in diese Richtung zu ergreifen, wenn sich die Möglichkeit dazu ergeben wird. Und vor allem den vielen Arbeiter*innen und Jugendlichen, die auf der Suche nach einer Alternative zum Kapitalismus sind, ein ernsthaftes sozialistisches Angebot zu machen. Darin sehen wir von der Sol zur Zeit unsere wichtigste Aufgabe und laden alle dazu ein, dabei mitzumachen.
Sascha Staničić ist Bundessprecher der Sozialistischen Organisation Solidarität (Sol) und verantwortlicher Redakteur von „sozialismus heute“. Dieser Artikel erscheint in der Ausgabe Nummer 6 des Magazins “sozialismus heute” im Juli 2023.