Großbritannien: Wie weiter für die Linke?

Marxistische Debatte zur Rolle der Labour Party und der Frage einer neuen Arbeiter*innenpartei

Der Aufstieg und nun der dramatische Fall von Jeremy Corbyn innerhalb der Labour Party eröffnet eine qualitativ neue Situation. Die Diskussionen darüber, wie sich die Arbeiter*innenbewegung politisch Gehör verschaffen kann, werden sich intensivieren.

Von Hannah Sell

Diese Debatte ist nicht neu. Seit Tony Blair vor mehr als dreißig Jahren mit der Umwandlung von Labour in “New Labour” begonnen hat, ist sie in verschiedenen Formen immer wieder aufgeflammt. Im Jahr 2004 trennte sich die Feuerwehrgewerkschaft von der Labour Party, nachdem sie einen landesweiten Streik gegen ein unzureichendes Lohnangebot von Tony Blairs New Labour-Regierung geführt hatte. Ebenfalls 2004 wurde die Gewerkschaft Rail Maritime and Transport (RMT), deren Vorgängergewerkschaft bei der Gründung der Labour Party eine zentrale Rolle gespielt hatte, vom Vorstand der Labour Party kurzerhand ausgeschlossen, weil einige ihrer Zweigstellen sozialistische Kandidat*innen unterstützt hatten, die nicht der Labour Party angehörten.

Trotz der großen Unzufriedenheit behielt die Mehrheit der Gewerkschaften während der Blair-Jahre ihre Zugehörigkeit zur Labour Party bei, und weder damals noch danach wurde eine neue auf den Gewerkschaften basierende Massenpartei gegründet. Dies wird von einigen als Argument dafür angeführt, dass die Beziehung der Gewerkschaften zur Labour Party unveränderlich und unveränderbar sei. Dies wird jedoch durch die Realität widerlegt. In den letzten Jahrzehnten haben sich erhebliche und rasche Veränderungen vollzogen, und in den kommenden Jahren sind noch viel größere Veränderungen zu erwarten. Der Boden wird für einen neuen politischen Aufschwung bereitet, der durch die Lehren aus der letzten Periode möglicherweise auf ein höheres Niveau gehoben werden könnte als jenes des Corbynismus.

Heute haben wir eine pro-kapitalistische New Labour 2.0-Führung der Partei. Doch vor gerade einmal acht Jahren wurde Jeremy Corbyn durch eine gewaltige Anti-Austeritätswelle von unten in die Führung der Labour Party geschwemmt. Das wiederum war ein dramatischer Wandel gegenüber dem, was davor war. In den 1990er Jahren war Labour zu einem völlig zuverlässigen Werkzeug der Kapitalist*innenklasse geworden, anders als die “kapitalistische Arbeiter*innenpartei”, die sie zuvor gewesen war. Davor hatten sie eine Führung an der Spitze, die ausnahmslos die Politik der Kapitalist*innenklasse widerspiegelte, aber eine sozialistische ideologische Grundlage der Partei und eine Struktur, in der die Arbeiter*innen die Führung herausfordern und potenziell die Interessen der Kapitalist*innen bedrohen konnten.

Aufstieg des Corbynismus

In den Jahren vor dem Corbynismus haben wir angesichts der Umwandlung der Labour Party in eine rein kapitalistische Partei – der zwar immer noch Gewerkschaften angeschlossen sind, aber die Fähigkeit der Gewerkschaften, die Partei über ihre demokratischen Strukturen zu beeinflussen, zerstört hat – für Schritte zur Gründung einer neuen Massenpartei durch die Arbeiter*innenklasse plädiert. In einer Reihe anderer Länder haben sich nach der Großen Rezession zumindest substanzielle neue linke Parteien entwickelt – darunter Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland.

In Großbritannien nahmen die Ereignisse jedoch eine unerwartete Wendung. Corbyn profitierte, fast zufällig, von einer Änderung der Labour-Satzung, die es Nichtmitgliedern erstmals erlaubte, für den Preis eines Pints Bier “registrierte Unterstützer*innen” zu werden, die bei den Wahlen zur Parteiführung stimmberechtigt sind! Die Absicht war, den Einfluss der Gewerkschaften weiter zu schwächen und ihre kollektive Wirkung auszuschalten. Aus diesem Grund war die Socialist Party ursprünglich gegen die Einführung dieser Maßnahme. Als jedoch Hunderttausende von jungen Menschen und Arbeiter*innen, die von der Austerität des neoliberalen Kapitalismus völlig entfremdet waren, diese Waffe ergriffen, um massenhaft der Labour Party “beizutreten” und Corbyn an die Spitze zu bringen, haben wir dies nicht nur begrüßt, sondern in jeder Phase dafür gekämpft, dass die damit geschaffene Chance ergriffen wird, Labour in eine demokratische Massenpartei der Arbeiter*innenklasse zu verwandeln.

Diese Chance wurde nicht genutzt. Die Hunderttausenden vor allem junger Menschen, die für Corbyn zusammen kamen, wurden nicht zu einer Kraft organisiert, um die Partei zu verändern und die pro-kapitalistischen Kräfte aus dem Amt zu jagen, sondern wurden stattdessen zum Rückzug und zu Kompromissen im Namen der Einheit ermutigt.

Sie haben eine brutale Lektion erhalten. Der blairistische Flügel der Labour Party und hinter ihm die kapitalistische Klasse waren über Corbyns Erfolg entsetzt. Sie setzten alle Hebel in Bewegung, um ihn zu besiegen, und nun sind sie in ihrer Raserei, die Glut des Corbynismus zu Staub zu zerschlagen, viel weiter gegangen als selbst während der New Labour-Ära 1.0. Ein Mann, der vor drei Jahren noch Vorsitzender der Labour Party war, darf jetzt nicht mehr für die Labour Party kandidieren, und zwar aufgrund eines klaren Mehrheitsvotums im nationalen Labour-Vorstand. Die Labour-Linke ist an den Rand gedrängt: Ihre Stimmen innerhalb der Labour Party sind wieder auf dem Stand, den sie auf dem Höhepunkt der Blair-Ära hatten.

Ein Indiz für das derzeitige Kräfteverhältnis innerhalb der Labour Party waren die Wahlen zum Bundesvorstand im vergangenen Jahr, bei denen die vier von Momentum unterstützten Kandidat*innen der Linken nur 22.649 Stimmen erhielten. Das ist derselbe Wert, den die Linke unter New Labour 1.0 hatte – zum Beispiel erhielt ihr Spitzenkandidat bei den Bundesvorstandswahlen 2008 20.203 Stimmen. Man vergleiche dies mit den 313.209 Stimmen, die Corbyn bei seiner Wiederwahl zum Labour-Chef im Jahr 2016 nach dem sogenannten “Hühnerputsch” erhielt. Viele dieser Menschen haben Labour seitdem angewidert verlassen. Die Mitgliederzahl liegt jetzt bei 377.000, fast 200.000 weniger als im Jahr 2017.

Was nun?

Auch die Ereignisse innerhalb der Labour Party sind nicht das einzige, was sich in den letzten Jahren verändert hat. Wir befinden uns mitten in der größten Streikwelle seit über dreißig Jahren, verglichen mit den rekordverdächtig niedrigen Arbeitskampfzahlen in den Jahren vor der Pandemie. Viele der Streikenden wurden erst durch ihre Erfahrungen mit dem Corbynismus politisiert. Während sie sich derzeit auf Streiks konzentrieren, zeigen ihre jüngsten Erfahrungen auch deutlich die Notwendigkeit einer politischen Massenpartei, die für diese Forderungen kämpft.

Gegenwärtig scheint es jedoch keinen gangbaren Weg für einen solchen Aufschwung zu geben. Wenn auch nur eine oder zwei Gewerkschaften die Initiative ergreifen würden, könnte sich diese Situation im Handumdrehen ändern. Der Heldenstatus von Mick Lynch, dem Generalsekretär der RMT, in den ersten Wochen ihres Streiks im letzten Sommer ließ erahnen, dass die Arbeiter*innenbewegung durchaus in der Lage ist, politisch etwas zu bewirken. Leider war er, anstatt Schritte in Richtung einer neuen Partei zu unternehmen, eine Schlüsselfigur bei der Gründung von “Enough is Enough”, das auf Labour orientiert.

Das Ausbleiben qualitativer Schritte in Richtung einer neuen Massenpartei wird zweifellos einige Delegierte auf den diesjährigen Gewerkschaftskonferenzen dazu veranlassen, den Status quo beizubehalten, in der Hoffnung, dass dies ihnen einen – wenn auch begrenzten – Einfluss auf eine neue Labour-Regierung verschaffen wird. Während die Wut auf Starmer weit verbreitet ist, können sich die meisten der neuen Generation von Gewerkschaftsaktivist*innen nicht mehr an die miserable Realität von New Labour 1.0 erinnern und hoffen unweigerlich, dass 2.0 zumindest eine Verbesserung gegenüber den Tories sein wird. In Wirklichkeit wird Labour 2.0 angesichts des geschwächten Zustands des britischen Kapitalismus heute im Vergleich zu den 1990er Jahren versuchen, größere Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse durchzuführen, als es in der Blair-Ära der Fall war.

Angesichts dieser Tatsache und der großen Kluft zwischen Labour unter Corbyn und Labour unter Starmer wird es auch Gewerkschafter*innen geben, die dafür plädieren, Kandidat*innen außerhalb von Labour zu unterstützen. Ihre Zahl würde dramatisch ansteigen, wenn Corbyn in der Zwischenzeit ankündigt, dass er bei den nächsten Parlamentswahlen als Unabhängiger oder vorzugsweise unter dem Banner einer neuen, demokratischen Partei antreten will, die zumindest von einem Teil der Gewerkschaftsbewegung initiiert würde. Corbyns Pläne werden jedoch möglicherweise erst dann deutlich, wenn die Labour Party des Wahlkreises Islington North das Auswahlverfahren durchlaufen hat und wahrscheinlich suspendiert wird, weil sie versucht hat, ihn als ihren Kandidaten aufzustellen.

Welchen Ansatz sollten Marxisten in dieser Zeit des Wandels verfolgen? Leider haben die meisten marxistischen Gruppierungen, mit Ausnahme der Sozialistischen Partei, keinen Ausweg zu bieten. Die Wahrheit ist konkret. Jede ernstzunehmende Organisation, die den Anspruch erhebt, marxistisch zu sein, muss eine Antwort darauf haben, wie es mit allen zentralen Fragen der Arbeiter*innenklasse weitergehen soll, einschließlich der Frage der politischen Vertretung.

Radikale Umgehung des Themas

Die Socialist Workers’ Party (SWP) ist ein Paradebeispiel dafür, wie man dieser wichtigen Frage ausweicht, so wie sie es während der gesamten Ära Corbyn getan hat. Als Reaktion auf die Entscheidung des Labour Parteivorstands Corbyn die Kandidatur für Labour zu verbieten, weisen sie zu Recht darauf hin, dass “der routinemäßige Aufruf der linken Labour-Gruppe Momentum – dass es wichtig sei, in Labour zu bleiben und zu kämpfen – immer weniger Aktivist*innen überzeugt. Sie können schmerzhaft deutlich erkennen, dass ein Verbleib in der Partei bedeutet, überhaupt keinen Kampf zu führen”. (Time to leave Labour after Corbyn’s ousting, Socialist Worker, 28. März 2023)

Aber was ist ihre Alternative? Sie kommen zu dem Schluss, dass sie Corbyn unterstützen werden, wenn er außerhalb von Labour steht, “aber für uns waren das Parlament und die Wahlen noch nie das Wichtigste. Streiks, Demonstrationen und Unruhen, wie sie in Großbritannien, Frankreich, Griechenland und überall auf der Welt stattfinden, waren immer wichtiger. Statt ihre Hoffnungen auf die Schwäche einiger weniger Abgeordneten zu setzen, die vom Parlament gegängelt werden, weisen sie auf die ungebremste Kraft der Massenaktionen der Arbeiter*innenklasse. Und jetzt können sie uns mehr Hoffnung geben”.

Das hört sich sehr “radikal” an, sagt aber nichts über die eigentlichen Fragen, die gestellt werden. Wird die SWP die von Mitgliedern der Socialist Party initiierten Anträge unterstützen, die auf der diesjährigen Unite-Konferenz debattiert werden und in denen gefordert wird, den politischen Fonds zu öffnen, damit die Gewerkschaft Kandidaten außerhalb der Labour Party unterstützen kann, die ein Programm im Interesse der Unite-Mitglieder vertreten haben? Oder werden sie sich der Stimme enthalten oder sogar dagegen stimmen, weil mehr Abgeordnete, die “vom Parlament gegängelt” werden, die Arbeiter*innenbewegung behindern?

Welche Haltung sollten Marxist*innen zum Parlament einnehmen? Die SWP spielt seine Bedeutung herunter, mit der Begründung, dass es eine kapitalistische Institution ist. Letzteres ist natürlich richtig. Es ist Teil des kapitalistischen Staates, der letztlich dazu da ist, die Beherrschung der Mehrheit durch eine winzige Kapitalist*innenklasse zu ermöglichen. Die kapitalistische Demokratie ist sehr begrenzt, mit der Möglichkeit, alle paar Jahre an einer allgemeinen Wahl teilzunehmen, aber ohne wirkliches Recht, die Gewählten zu kontrollieren oder abzuwählen. Von dem Moment an, in dem sie die heiligen Hallen von Westminster betreten, werden die Abgeordneten in den Club der “alten Knaben” (und heutzutage auch einiger Mädchen) aufgenommen, weit entfernt vom Druck der Arbeiter*innenklasse. Wer nicht zu einem/r verlässlichen Vertreter*in der kapitalistischen Interessen wird, wird ausgegrenzt. Jeremy Corbyns Behandlung als Oppositionsführer – wo ihm routinemäßig Geheimdienstinformationen vorenthalten wurden, auf die er ein Anrecht hatte, und hochrangige Militärs sagten, dass sie ihm nicht folgen würden, wenn er Premierminister würde – gibt einen Eindruck davon, wie der kapitalistische Staat versuchen würde, alle Maßnahmen einer demokratisch gewählten Regierung zu blockieren, wenn sie die Interessen der Kapitalist*innenklasse bedrohen.

Es ist völlig klar, dass die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft nicht nur eine Regierung erfordert, die Gesetze durch das Parlament bringt, sondern vor allem die Mobilisierung der Masse der Arbeiter*innenklasse, die sich in ihrer eigenen Partei organisiert und für ein Programm kämpft, um die Macht der Kapitalist*innenklasse zu brechen; beginnend mit der Übernahme der großen Konzerne und Banken, die die Wirtschaft beherrschen, unter demokratischer Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung. Eine solche Massenbewegung würde auch damit beginnen, die Grundlage für eine neue Gesellschaft zu schaffen, die eine viel tiefere und umfassendere Art von Demokratie entwickelt, als sie im Kapitalismus existiert. Diese grundlegenden Punkte führen jedoch nicht zu dem Schluss, dass die Teilnahme an kapitalistischen Parlamenten unwichtig ist. Unabhängig davon, welche “radikalen Gründe” dafür angeführt werden, ist es ein schwerwiegender Fehler, sich diesem Kampf zu entziehen.

Auch wenn das Vertrauen in die kapitalistischen Institutionen in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat, sieht die Mehrheit das Parlament immer noch als Mittel, um Veränderungen zu erreichen. Es gibt eine beträchtliche Schicht, die so wütend auf alle Politiker*innen ist, dass sie die Wahlen boykottiert, aber die meisten sehen keine andere Möglichkeit, die Dinge zu ändern, sondern fühlen sich im Gegenteil machtlos. Im Allgemeinen sind die aktiveren Schichten der Arbeiter*innenklasse – nicht zuletzt diejenigen, die derzeit an vorderster Front der Streikwelle stehen – auch die, die am ehesten zur Wahl gehen. Abstrakte Phrasendrescherei über “die Straße” als Rechtfertigung dafür, “sich von den Parlamenten fernzuhalten”, wie es Wladimir Lenin, der Führer der russischen Revolution, formulierte, trägt nicht dazu bei, dass “die Masse der unaufgeklärten und halbaufgeklärten Arbeiter*innen” sozialistische Schlussfolgerungen zieht. (Gesammelte Werke, Band 31, 12. Juni 1920)

Debatten unter Marxist*innen

Die SWP scheint ihre Misinterpretation von Lenin auf die Debatten über einen Boykott der russischen Duma, des “reaktionärsten aller Parlamente”, zu stützen. Das vorrevolutionäre Russland wurde von einer Diktatur, einer absolutistischen Monarchie, regiert. Das zaristische Regime wurde durch die mächtige Revolution von 1905, in der erstmals “Sowjets” ins Leben gerufen wurden, tiefgreifend erschüttert. Dabei handelte es sich um demokratisch gewählte und rechenschaftspflichtige Arbeiter*innenkomitees, die während der Revolution geschaffen wurden, um den Kampf zu organisieren, und die später, im Jahr 1917, zu den Organen wurden, durch die die neue Gesellschaft aufgebaut werden sollte.

Nach der Niederschlagung der Revolution von 1905 war der Zar gezwungen, die Einrichtung der Duma, eines Marionettenparlaments, zuzulassen. Daraufhin wurde in der Linken über einen Boykott debattiert. Die SWP beruft sich gerne auf ein Zitat von Lenin aus dem Jahr 1906, das Tony Cliff im ersten Band seiner Lenin-Biografie „Building the Party“ wiedergibt: “Wir werden uns nicht weigern, in die Zweite Duma zu gehen, wenn (oder falls) sie einberufen wird. Wir werden uns nicht weigern, diese Arena zu nutzen, aber wir werden ihre bescheidene Bedeutung nicht überbewerten; im Gegenteil, geleitet von den Erfahrungen, die die Geschichte bereits geliefert hat, werden wir den Kampf, den wir in der Duma führen, vollständig einer anderen Form des Kampfes unterordnen, nämlich Streiks, Aufständen usw.”.

Dies wurde geschrieben, als die Lava der Revolution von 1905 noch warm war, ein Ereignis, das zweifellos auf einer unendlich höheren Stufe stand als die Teilnahme an einer Wahl! Sie steht jedoch im Zusammenhang mit der oft zitierten Vorstellung, dass Lenin Wahlen als eine “niedrigere” Form des Kampfes im Allgemeinen ansah. In Wirklichkeit erklärte er, was er damit meinte, als er im September 1909, als eine Periode der Reaktion eingesetzt hatte, erneut gegen den von den Anhänger*innen des Otzovismus („Abberufler“) vorgebrachten Vorschlag eines Wahlboykotts argumentierte. Letztere argumentierten, dass “in einer Zeit akuter und zunehmender Reaktion … die Partei weder einen großen und spektakulären Wahlkampf führen noch eine würdige parlamentarische Vertretung erreichen kann”.

Stattdessen schlugen sie scheinbar “radikalere” Aktionen vor. Lenin geißelt sie und argumentiert, dass die Umwandlung des “direkten Kampfes der Massen … in den wirklichen Beginn eines Aufstandes” sicherlich “die höchste Stufe der Bewegung und die parlamentarische Tätigkeit ohne die direkte Aktion der Massen die niedrigste Form” sei. Aber je weiter die Partei von der “Verbindung mit den Massen” entfernt ist, “desto unmittelbarer wird die Aufgabe, die vom alten Regime geschaffenen Methoden der Propaganda und Agitation zu nutzen”. Angesichts des Niveaus des Klassenkampfes in diesem Stadium seien die Vorschläge der Otzovisten nichts weiter als Abenteurertum und utopische Phrasendrescherei, während es über das von ihnen abgelehnte “niedrigere” Aktivitätsniveau möglich wäre, “die Köpfe der Massen” auf den Kampf vorzubereiten.

Wie lassen sich diese allgemeinen Lehren heute anwenden? Natürlich sind Unruhen – unorganisierte Ausbrüche von Wut – auf einem viel niedrigeren Niveau als eine Liste von Kandidat*innen aus der Arbeiter*innenklasse für die Parlamentswahlen, die von kämpferischen Gewerkschaften organisiert werden und auf einem sozialistischen Programm stehen. Auf der anderen Seite stellen die aktuellen Streikwellen einen wichtigen Schritt in Richtung Selbstvertrauen und Zusammenhalt der Arbeiter*innenklasse dar. Die Bereitschaft, die Streiks zu koordinieren, zeigt, dass die Streiks nicht mehr nur gegen einen einzelnen Unternehmer gerichtet sind, sondern auch ein wichtiges allgemeines Anti-Regierungs-Element enthalten. Dennoch ist der Wiederaufbau der Arbeiter*innenbewegung erst in den Anfängen zu erkennen. In Hunderten von Betrieben wurden neue gewerkschaftliche Vertrauensleute gewählt, aber ihre Organisation innerhalb der Gewerkschaften, um diese in ein kämpferisches, demokratisches Gremium umzuwandeln, geschweige denn, dass sie sich in der gesamten Arbeiter*innenbewegung zusammenfinden, um sich von unten zu koordinieren, ist noch eine Aufgabe für die Zukunft.

Wenn die wichtigste politische Schlussfolgerung, die diese neue Generation von Kämpfer*innen zieht, die Notwendigkeit ist, “Labour zu wählen, um die Tories loszuwerden”, was die Position der SWP bei den letzten Wahlen war und wahrscheinlich wieder sein wird, dann stellt dies einen viel begrenzteren “Fortschritt” dar – wenn es überhaupt ein Fortschritt ist – als wenn zumindest Teile der Gewerkschaftsbewegung beschließen, dass sie ihre eigenen Kandidat*innen bei den Parlamentswahlen aufstellen wollen, die auf der Grundlage eines Programms im Interesse der Arbeiter*innenklasse als Ganzes kämpfen, anstatt gezwungen zu sein, zwischen verschiedenen Marken von grundsätzlich ähnlichen kapitalistischen Politiker*innen zu wählen. Anstatt die “Schwäche” von Abgeordneten zu beklagen, die “vom Parlament eingeschränkt werden”, warum sollte die Arbeiter*innenbewegung nicht dafür kämpfen, dass ihre eigenen Vertreter*innen gewählt werden, die die Plattform des Parlaments nutzen, um für ihre Klasse zu kämpfen?

Oder weiterhin an Starmers Labour festhalten?

Natürlich gibt es auch immer noch selbsternannte marxistische Gruppierungen, die – entgegen aller Beweise – weiterhin argumentieren, dass der beste Weg nach vorne darin besteht, sich in der Labour Party zu verstecken und abzuwarten. Nachdem es nicht gelungen ist, Labour mit Corbyn an der Spitze in eine demokratische Arbeiter*innenpartei umzuwandeln, ist es unserer Ansicht nach völlig unrealistisch, dies jetzt als Strategie vorzuschlagen, wenn Starmer und Konsorten die Partei im Würgegriff haben. Nichtsdestotrotz fordert beispielsweise die Alliance for Workers’ Liberty (AWL) Corbyn dringend auf, nicht außerhalb von Labour zu kandidieren, denn: Es würde kein tragfähiges sozialistisches politisches Profil der Arbeiter*innenklasse gegenüber Starmers “wirtschaftsfreundlicher” Orientierung schaffen und es würde Starmer die Möglichkeit geben, seine Kontrolle zu festigen, indem er Linke, die Corbyn unterstützen, ausschließt”. Sie argumentieren, dass dies nur “die vielen aussichtslosen Versuche einer Wahlabspaltung vervielfachen” würde. (Der Labour Bundesvorstand stimmt über das Verbot von Corbyns Kandidatur ab, 27. März 2023)

Wie sehr muss sich Starmers Kontrolle noch verfestigen, bevor die AWL diese Politik der Passivität aufgibt? Wollen sie wirklich behaupten, dass neue linke Formationen, egal wie sich die Ereignisse entwickeln, nur “aussichtslose Versuche” sein können? Sie verweisen zynisch auf die Zeit von 2010 bis 2015, in der es keine entscheidenden Schritte in Richtung einer neuen Arbeiter*innenmassenpartei gegeben hat. Doch aufgrund mehrerer Faktoren, darunter die Wirtschaftskrise, die aktuelle Streikwelle und die Erfahrungen mit dem Corbynismus, wird es in der nächsten Periode weitaus größere Möglichkeiten für die Entwicklung einer neuen Partei geben als damals, was durch die Erfahrungen mit Starmer im Amt noch verstärkt wird.

Und in den Jahren vor 2015 wurden wichtige Schritte nach vorne gemacht. Die Trade Unionist and Socialist Coalition (TUSC) – an der die Socialist Party beteiligt ist – wurde 2010 gegründet, um Kandidat*innen, die gegen die Austeritätspolitik antreten, eine Plattform zu bieten. Sie ist keine Massenpartei der Arbeiter*innenklasse – weder damals noch heute, konnte aber dennoch das Geschehen beeinflussen. Im Jahr 2015 hatte TUSC 135 Kandidaten für die Parlamentswahlen aufgestellt und wurde offiziell von der RMT unterstützt. Als der nationale Unite-Bundesvorstand Anfang Juli 2015 beschloss, Corbyn statt Andy Burnham zu nominieren, wurde dies unter anderem damit begründet, dass man der wachsenden Unterstützung für TUSC-Anhänger*innen, die in der Gewerkschaft für eine neue Partei kämpften, entgegenwirken wollte – was Corbyns Kandidatur für die Parteiführung nach seiner Unterstützung durch den RMT-Vorstand einen echten Schub gab.

Die RMT hatte sich 2012 bereit erklärt, TUSC zu unterstützen. Die RMT spielte eine sehr wichtige Rolle im Kampf um die Förderung des Corbynismus. Als relativ kleine Gewerkschaft mit rund 80.000 Mitgliedern hat sie mehr Geld für Jeremy Corbyns Kampagnen zur Verfügung gestellt als jede andere Gewerkschaft mit Ausnahme von Unite, die 1,4 Millionen Mitglieder hat. Trotz beträchtlichen Drucks, einschließlich einer Ansprache von John McDonnell auf der Jahreshauptversammlung, stimmte die Gewerkschaft nicht für einen erneuten Beitritt zur Labour Party, da eine Mehrheit der Meinung war, dass sie Corbyn von außen wirksamer unterstützen könnte. Stattdessen beschloss die Jahreshauptversammlung 2017, die RMT-Mitglieder zu einer politischen Strategie zu konsultieren, “um eine Massenpartei der Arbeiter*innenschaft zu schaffen, die für die Interessen der Arbeiter*innenklasse kämpft, da Labour jetzt wohl zumindest das Potenzial hat, eine solche Partei zu sein”. Als Teil der Konsultation wurde vereinbart, “Antworten von der Labour Party einzuholen”, u. a. darüber, “welche Befugnisse die Gewerkschaft durch eine Mitgliedschaft tatsächlich erhalten würde, wenn überhaupt”, und ob sie “weiterhin die Freiheit hätte, ihre eigene politische Agenda zu verfolgen”.

Auf einer außerordentlichen Generalversammlung im Jahr 2018 wurde dann beschlossen, nicht erneut beizutreten, sondern die politischen Mittel der RMT weiterhin für Kandidat*innen auszugeben, die die Politik der RMT unterstützen. Die RMT-Mitglieder haben die fortgesetzten Angriffe auf die Arbeitsbedingungen der RMT-Mitglieder durch die von der Labour Party geführten Verkehrsbehörden abgewogen, die die Fortsetzung des rechtsgerichteten “business as usual” der lokalen Labour-Behörden widerspiegeln, sowie das Versagen des Corbynismus in der Demokratisierung der Partei, einschließlich der Wiederherstellung der Rolle der Gewerkschaften als Schlüsselelement bei der Schaffung einer föderalen, demokratischen Labour Party. Dies bedeutete, dass eine Wiederaufnahme der Gewerkschaft keinen Sitz im Bundesvorstand garantiert hätte und die RMT nur etwa 16 der rund 2700 Delegierten auf dem Labour Partytag erhalten hätte. Alles in allem stimmten die Delegierten dafür, ihren politischen Fonds nicht an die Labour Party als Ganzes zu übergeben, sondern ihn weiterhin zur Unterstützung der Labour-Linken zu verwenden und gleichzeitig Raum für die Unterstützung anderer Kandidat*innen zu lassen, die auf einer Plattform im Interesse der RMT-Mitglieder antraten.

Die falschen Lehren gezogen

Die Unterstützer*innen der AWL innerhalb der RMT argumentierten lautstark gegen diese Position und forderten den Beitritt zur Labour Party um jeden Preis, ebenso wie andere Gruppen innerhalb der Partei. Socialist Appeal war besonders hysterisch und behauptete, wir in der Socialist Party seien “sektiererisch”, während sie gleichzeitig die Intelligenz der RMT-Mitglieder beleidigten, indem sie behaupteten, wir hätten “dazu beigetragen, den Beitritt der RMT zu verhindern”. Im selben Artikel wurden wir angegriffen, weil wir “von der Seitenlinie aus Vorträge darüber halten, wie man Labour zurückgewinnen kann”, obwohl “die Mitglieder dies bereits tun, vielen Dank” (Reject the Blind Alley of Sectarianism, 21. Februar 2019). Leider haben sich jedoch die Befürchtungen der RMT-Mitglieder über das Scheitern der Umgestaltung von Labour unter Corbyns Führung voll bestätigt. Das Programm, für das wir gekämpft haben, um Labour umzugestalten, wurde von der Führung der Linken in Labour, die ständig den Kompromiss mit der prokapitalistischen Rechten suchten, nie angenommen.

Socialist Appeal, die AWL und die anderen tragen dafür eine Mitverantwortung. Sie versuchten auch, den Kampf auf diejenigen zu beschränken, die Mitglied der Labour Party waren, anstatt ihn – wie sowohl die RMT als auch die 88 500, die sich 2015 als “registrierte Unterstützer*innen” für Corbyn gemeldet hatten – als Kampf für die Schaffung einer Anti-Austeritäts-Partei zu sehen, die die Blairisten beseitigt und die Türen für alle öffnet, die für ein linkes Programm kämpfen wollen. Wir haben uns mit ganzem Herzen in diesen Kampf gestürzt und sogar unsere Mitgliedschaft in der Labour Party vorgeschlagen, um den Kampf gegen die Rechte in der Labour Party zu unterstützen, was von keiner linken Gruppierung in der Labour Party aufgegriffen wurde. Wir beteiligten uns an der Corbyn-unterstützenden Gruppierung Momentum, bis wir von der Führung ausgeschlossen wurden, weil wir keine Mitgliedskarte der Labour Party besaßen – eine Entscheidung, der sich Socialist Appeal und die AWL nicht widersetzten und in einigen Bereichen an vorderster Front an der Umsetzung beteiligt waren.

All diese Erfahrungen zeigen, warum Marxist*innen jetzt nicht in der Labour Party kuschen oder nur gegen ihren eigenen Ausschluss “protestieren” sollten, sondern für Schritte in Richtung einer neuen Massenpartei der Arbeiter*innenklasse kämpfen sollten. Selbst wenn es in der Zukunft einen neuen linken Massenaufschwung innerhalb der Labour Party geben sollte, was unwahrscheinlich ist, ist die beste Möglichkeit, sich darauf vorzubereiten, und für die Arbeiter*innenbewegung, Druck auf Starmer und Co. auszuüben, jetzt Schritte in Richtung einer neuen Partei zu unternehmen.

Wenn die diesjährige Unite-Konferenz beispielsweise beschließen würde, dass die Gewerkschaft Kandidat*innen außerhalb der Labour Party unterstützen kann, und sich dann bereit erklären würde, Jeremy Corbyn und andere zu unterstützen, würde dies enormen Druck auf Starmers New Labour ausüben. Als der Labour-Vorstand 2004 die RMT wegen einer ähnlichen Entscheidung ausschloss, hielt er sich nicht an das Regelwerk der Labour Party, das zwar Einzelpersonen die Unterstützung von Kandidat*innen außerhalb der Labour Party verbietet, aber nichts darüber aussagt, ob angeschlossene Gewerkschaften dies tun dürfen. Die Regeln sind auch heute noch dieselben, und Unite ist der größte einzelne Geldgeber von Labour. Wie auch immer die Labour-Führung reagieren würde, es würde zu einer großen Krise kommen. Wenn sie Unite widerwillig erlauben würde, Corbyn und andere linke Kandidat*innen zu unterstützen, während sie Mitglied bliebe, wäre der Druck auf andere Gewerkschaften, den gleichen Weg zu gehen, enorm.

Passivität und abstrakter ‘Revolutionismus’

Es ist keine Überraschung, dass Socialist Appeal versucht, Schritte zu einer neuen Partei um jeden Preis zu vermeiden. Diese Strömung spaltete sich 1991 von der Militant Tendenz (der heutigen Socialist Party) ab. Wir hatten die gewaltige Massenbewegung gegen die Kopfsteuer („Poll Tax“) angeführt, mit einem Höhepunkt von achtzehn Millionen Nichtzahlenden, die die Steuer zu Fall gebracht und zum Rücktritt von Maggie Thatcher geführt hatte. Um einen Eindruck vom Ausmaß des Sieges zu vermitteln: Seit 2010 wurden die Mittel der Zentralregierung für die lokalen Behörden um rund 15 Milliarden Pfund gekürzt. Im Gegensatz dazu musste die Tory-Regierung nach 1991 für die Abschaffung der Kopfsteuer und ihre Ersetzung durch die Gemeindesteuer auf einen Schlag 4,3 Milliarden Pfund zusätzlich in die Kommunalverwaltungen stecken – in aktuellen Preisen entspricht dies etwa der Hälfte des Gesamtbetrags, der in den letzten dreizehn Jahren gekürzt wurde.

Nach der Bewegung gegen die Poll Tax war sich die Mehrheit unserer Organisation einig, dass wir in Schottland unabhängig von der Labour Party kandidieren sollten. Die neu gegründete Scottish Militant Labour (SML) errang im Mai 1992 vier Sitze im Stadtrat von Glasgow. Das war nur wenige Wochen nach dem Sieg der Tories bei den Parlamentswahlen, bei denen Tommy Sheridan (für SML, A.d.Ü.) in Glasgow Pollok mit 6287 Stimmen (19,3 %) vor der SNP den zweiten Platz belegte. Insgesamt erhielt die SML von Mai 1992 bis Februar 1994 in 17 Gemeinderatswahlen 33,3 % der abgegebenen Stimmen und gewann sechs davon.

Socialist Appeal verurteilte diesen Schritt als eine Bedrohung für “das, was in vierzig Jahren Arbeit aufgebaut worden war”. In jeder Phase gaben sie der formalen Frage des Erhalts der Mitgliedskarte der Labour Party den Vorrang vor dem Klassenkampf. Schon vor ihrem Austritt aus unserer Partei wegen der „offenen Wende“ (Mit diesem begriff wurde die Gründung von SML bezeichnet, A.d.Ü.) versuchten ihre wichtigsten Führer – Rob Sewell, Alan Woods und Ted Grant – zu argumentieren, dass die Militant-unterstützenden Labour-Abgeordneten Dave Nellist und Terry Fields heimlich ihre Kopfsteuer zahlen sollten, um ihre Positionen zu behalten. Und das, obwohl Hunderte Nichtzahler*innen ins Gefängnis gekommen waren, darunter 34 unserer Mitglieder. Ihr Vorschlag wurde abgelehnt, und Terry Fields war unter den Inhaftierten, was seine Autorität in der Arbeiter*innenklasse enorm stärkte.

In den folgenden dreißig Jahren hat Socialist Appeal immer wieder betont, wie wichtig es sei, in der Labour Party verankert zu bleiben, und behauptet, seine “Arbeit in den Massenorganisationen der Arbeiter*innenklasse sei von langfristiger Natur”. Diese Position hat sich so weit von der Realität entfernt, dass selbst der quietistische Socialist Appeal inzwischen aus der Labour Party verbannt ist, und sodass sie diesen Ansatz nur noch selten erwähnen und sich stattdessen auf völlig abstrakte “superrevolutionäre” Propaganda konzentrieren. Aber in Wirklichkeit haben sie ihre langfristige Position, dass sich eine linke Massenkraft nur über die Labour Party und keinen anderen Weg entwickeln wird, nicht geändert. Wie sie in ihrem Dokument “Weltperspektiven 2023” schreiben, wird Starmers unvermeidlicher “Versuch, eine Politik der Kürzungen und Sparmaßnahmen durchzusetzen, eine Explosion der Wut auslösen, die schließlich innerhalb der Labour Party ihren Ausdruck finden wird, angefangen bei den Gewerkschaften, die trotz allem ihre Verbindung zur Partei beibehalten”.

Welche Art von neuer linker Partei?

Anstatt dies jedoch offen auszusprechen, weichen sie der Frage völlig aus, indem sie argumentieren, dass “Forderungen nach einer neuen linken Partei” ein “Ablenkungsmanöver sind; eine organisatorische Lösung für eine im Kern politische Frage”. Sie verweisen darauf, dass “die Linke in der Labour Party die Macht hatte”, aber “all das wurde vergeudet und ist zu Staub zerfallen, weil die Verantwortlichen der Corbyn-Bewegung Angst hatten, das Notwendige zu tun”. Aber sie sagen kein Wort darüber, was jetzt notwendig ist. Wie sollen die Delegierten auf den Konferenzen der angeschlossenen Gewerkschaften über ihre politischen Mittel abstimmen? Soll Corbyn kandidieren? Soll er eine neue Partei ins Leben rufen? Auf keine dieser konkreten Fragen geben sie eine Antwort.

Die AWL ist da nicht anders. Einer ihrer Vorsitzenden, Martin Thomas, räumt zähneknirschend ein, dass die Erfahrungen von Syriza in Griechenland – von 4,8 Prozent im Jahr 2009 bis zum Gewinn der Parlamentswahlen im Jahr 2015 – oder die Erfolge von Jean-Luc Mélenchon und France Insoumise in Frankreich in Großbritannien nicht völlig ausgeschlossen sind, auch wenn sie seiner Meinung nach weit weniger wahrscheinlich sind als in diesen Ländern. Er sagt jedoch: “Wenn sich eine solche ‘linke Partei’ in Großbritannien entwickeln könnte, dann würde sie den schlechtesten Flügel des Corbynismus repräsentieren, nicht den besten. Sie würde die eher elektoralistischen, reformistischen, nationalistischen und populistischen Strömungen der Corbyn-Bewegung vereinen. Sie würde wahrscheinlich kaum Demokratie haben”. (Corbynismus, Pakte und linke Parteien, 26. Februar 2022)

Natürlich besteht die reale Gefahr, dass eine “neue linke Partei” diese Merkmale aufweisen und von einigen derjenigen, die im Zentrum des Corbyn-Projekts stehen, von oben nach unten geführt werden könnte. Das ist jedoch kein Argument, sich gegen eine neue Partei zu stellen, sondern vielmehr dafür zu werben, dass sie ein sozialistisches Programm hat und eine offene, demokratische Partei der Arbeiter*innenklasse ist, in der die Gewerkschaften eine zentrale Rolle spielen. Der zynische Pessimismus der AWL und des Socialist Appeal hat keine Ähnlichkeit mit einem ernsthaften marxistischen Ansatz.

Kleine Gruppen, die das Scheitern neuer linker Formationen vorhersagen, werden deren Entstehung nicht verhindern. Im Gegenteil, angesichts der Hunderttausenden, die aus der Labour Party ausgetreten sind, ist es unvermeidlich, dass neue Versuche einer linken Wahlalternative entstehen werden. Zurzeit versuchen die Grünen, in dieses Vakuum einzudringen, indem sie bei den Kommunalwahlen mehr als 3.300 Kandidat*innen aufstellen. Zweifellos werden sie Stimmen von einigen erhalten, die nach einer Alternative links von Labour suchen. Einige Flüchtlinge aus dem Corbyn Umfeld haben sich aus diesem Grund den Grünen angeschlossen. Die aus der Labour Party ausgestoßene Stadträtin von Wirral, Jo Bird, eine Pro-Corbyn-Kandidatin der “Jüdischen Stimme für Labour” bei einer Bundesvorstands-Nachwahl im April 2020, die 46.000 Stimmen erhielt, ist eine von ihnen und argumentiert, dass die Grüne Partei ihr “Engagement für soziale und ökologische Gerechtigkeit” teilt.

Der wahre Charakter der Führung der Grünen zeigte sich jedoch deutlich, als die pro-kapitalistischen Wölfe um Corbyns Labour-Führung kreisten. Im August 2019 sprach sich die einzige Abgeordnete der Grünen, Caroline Lucas, unter dem Vorwand der “Bekämpfung eines desaströsen Brexit” für eine Regierung der nationalen Einheit aus, an der alle Parteien, einschließlich der Tories und der Gruppe der “Unabhängigen für den Wandel” der Blair-Abgeordneten – den bewussten, wenn auch voreiligen Saboteur*innen von Corbyn – beteiligt wären. Die einzige Bedingung, die Lucas stellte, war, dass die Kabinettsmitglieder Frauen sein sollten! Es überrascht nicht, dass ihre bevorzugten Kandidat*innen aus Labour – Yvette Cooper und Emily Thornberry – keine Corbyn-Anhängerinnen waren, während Diane Abbott zunächst auf mysteriöse Weise “vergessen” wurde. Bei den Parlamentswahlen 2019 hatten die Grünen eine Wahlvereinbarung mit den Liberaldemokraten – die von 2010 bis 2015 Teil der bösartigen Austeritätskoalition waren – und haben in vierzig Wahlkreisen zu deren Gunsten auf eine Kandidatur verzichtet; sie traten jedoch gleichzeitig gegen Jeremy Corbyn und andere linke Labour-Kandidat*innen an.

Einige Sozialist*innen haben sich den Grünen angeschlossen, aber als Partei akzeptiert sie die Zwänge des kapitalistischen Systems. Sie sehen die Gesellschaft nicht unter Klassengesichtspunkten, geschweige denn, dass sie die Notwendigkeit einer eigenen politischen Stimme der Arbeiter*innenklasse sehen. Wenn eine Gewerkschaft ihnen beitreten würde, hätte sie keinen Einfluss auf die Entscheidungsfindung. 

Im Gegenteil, Caroline Lucas lobte sogar die Zerstörung der Rechte der Gewerkschaften innerhalb der Labour Party in der Vor-Corbyn-Ära, indem sie sagte, dass “Ed Miliband sich dankenswerterweise auf eine Art Reform zubewegt hat. Das gilt auch für einige Gewerkschaftsführer*innen, die vielleicht erkannt haben, dass sie mehr Einfluss hätten, wenn sie nicht so eindeutig an eine Partei gebunden wären – so wie die RSPB [Royal Society for the Protection of Birds] sich wirksam für Vögel einsetzen kann, egal wer an der Macht ist.” (Honourable Friends: Parliament and the Fight for Change) 

Sie scheint nicht bemerkt zu haben, dass angesichts der Tatsache, dass 43 Prozent der britischen Vögel “gefährdet” sind, sich die Fähigkeit des RSPB, Ereignisse durch höfliche Lobbyarbeit bei den etablierten Parteien zu beeinflussen, als sehr begrenzt erwiesen hat!

Die Stimmen für die Grünen sind ein Symptom für die Suche nach einer neuen Partei, die sich unabhängig von den Wünschen der SWP, AWL und Socialist Appeal entwickeln wird. Anstatt den Problemen, mit denen die Arbeiter*innenklasse konfrontiert ist, auszuweichen, sei es durch abstrakte revolutionäre Rhetorik oder das Festhalten an der Labour Party und die Vorhersage einer Katastrophe für alles, was sich außerhalb entwickelt – oder beides im Fall von Socialist Appeal -, sollten Marxist*innen für konkrete Schritte zur Gründung einer eigenen neuen Partei durch die Arbeiter*innenklasse kämpfen. Die Unterstützung von Anträgen, die die Gewerkschaften auffordern, ihre politischen Fonds zu öffnen und Kandidaten aus der Arbeiter*innenklasse bei den Parlamentswahlen zu unterstützen, wäre ein guter Anfang.

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