Tarifbewegungen in diesem Jahr zeigen Potential, aber Abschlüsse bei der Post, im Öffentlichen Dienst und anderen Branchen schreiben Reallohnverluste fort
Die Lohnrunden der ersten Jahreshälfte 2023 waren von einer spürbar gestiegenen Kampfbereitschaft der Arbeitenden geprägt. Die anhaltend hohe Inflation und die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus vergrößerte für viele die Notwendigkeit, mehr herauszuholen und schlug sich unter anderem in hohen Forderungen nieder. Die Gewerkschaftsführung vor allem von ver.di schlug verbal und in den Warnstreiks kämpferische Töne an, war jedoch letztendlich nicht bereit, mit der bisherigen Routine zu brechen und führte Abschlüsse herbei, die den Reallohnverlust fortsetzen. Das ruft Ablehnung in Teilen der Mitgliedschaft hervor und zeigte sich in polarisierten Ergebnissen in der Urabstimmung bei der Deutschen Post und in der Mitgliederbefragung im Öffentlichen Dienst über die Annahme der Verhandlungsergebnisse.
von René Arnsburg
Bis auf Ausnahmen verliefen die Tarifrunden der vergangenen Jahrzehnte meist entlang wenig mobilisierender und eingefahrener Choreographien: Es gab relativ geringe Lohnforderungen, die in noch geringeren Entgelterhöhungen mündeten, die auf eine Laufzeit von zwei Jahren und mehr verteilt wurden. Wenn es Warnstreiks gab, wurden diese auf Sparflamme organisiert, Kompromisse wurden mit der Gegenseite ausgehandelt, ohne die noch vorhandene Kampfkraft auszuschöpfen. Die sogenannte Sozialpartnerschaft stand über allem, die Konfrontation mit der Kapitalseite wurde möglichst vermieden.
Diese bremsende Strategie führte zu Unmut und Frust; die schwindende Mitgliedschaft wurde dann wiederum als Argument dafür genommen, nicht mehr rausholen zu können – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Ansätze, diesen lähmenden Tarifkonservatismus zu verlassen, gab es nur in wenigen Bereichen, von denen die Kämpfe im Gesundheitssektor herausstechen.
Ab 2020 kam die Pandemie, bei der in kürzester Zeit die Gewerkschaftsaktivitäten fast völlig eingestellt, Tarifrunden abgesagt oder verschoben, noch schlechtere Not-Tarifverträge abgeschlossen wurden und digitale Arbeitsweisen die ohnehin schwindende Beteiligung in vielen Strukturen erschwerte. Für viele Beschäftigte verschwanden die Gewerkschaften in die nationale Einheit mit dem Kapital und dessen Regierung und damit von der Bildfläche, da kein eigenes Programm aufgestellt wurde, wie die Pandemie bekämpft werden kann, ohne dass sie zu Lasten der Beschäftigten und der Bevölkerung geht. 2022 kam dann die Haltung zum Ukraine-Krieg hinzu, als, beginnend bei der Spitze des DGB, ohne eine Diskussion in der Mitgliedschaft zu führen, antimilitaristische Positionen über Bord geworfen wurden und man sich hinter den „verteidigungspolitischen“ Kurs der Bundesregierung stellte. Das wirkte sich auch auf die Tarifrunden Anfang 2022 aus, bei denen Forderungen und Abschlüsse weit unter der Inflation lagen. Die steigende Inflation wurde oft als kriegsbedingt bezeichnet und stand damit als quasi externer Faktor außerhalb der Lohnverhandlungen.
Es dauerte jedoch nicht lang, bis allen klar wurde, dass die Gewinner*innen der Pandemie die Konzerne und die Leidtragenden die Armen und Arbeitenden waren. Das Märchen der einseitig kriegsbedingten Inflation verflüchtigte sich schnell und heute stellt selbst der Internationale Währungsfond fest, dass ein großer Teil der Inflation auf die überproportionale Erhöhung der Preise zurückzuführen ist. Dadurch fahren Konzerne Extraprofite ein, die weit über dem Niveau der letzten Jahre liegen.
Nicht zu vergessen ist dabei die verschärfte Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten, die um die Neuaufteilung der Welt streiten. Dieser Kampf nimmt immer schärfere Formen an und geht auch an Deutschland als einer der größten globalen Industrienationen nicht vorbei. Das schlägt sich in einer Hinwendung zu vermehrter Aufrüstung und internationaler Einmischung nieder, wie Olaf Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede deutlich machte, aber bereits seit Jahren in bürgerlichen Kreisen diskutiert wird. Vor diesem Hintergrund fahren nicht nur einzelne Unternehmen einen härteren Kurs gegen die geschwächten Gewerkschaften, um ihre Profite zu sichern. Angesichts der Massenstreiks und Tumulte in den Nachbarländern Frankreich und England in den letzten Monaten, war das deutsche Kapital gewarnt, dass man keine Unruhe im Inland gebrauchen kann.
Das ist ein weiterer Faktor, mit dem die regierende Politik auf die Gewerkschaftsspitzen DRuck ausübt, damit aus den Lohnrunden keine größere Unruhe oder gar kein verallgemeinerter Klassenkampf erwächst, der sich potentiell gegen eine Regierung richtet, die bereits Konterreformen im Gesundheitsbereich und einen Sparkurs beim Haushalt angekündigt hat. Weitere Verschlechterungen bei Arbeitszeit, Rente, Krankenversicherungen und Angriffe auf das ohnehin restriktive Streikrecht werden beinahe tagtäglich diskutiert.
Die Krise der Bürokratie und das Potential für große Kämpfe
Je höher man die Leiter der hauptamtlichen Funktionen in den Gewerkschaften steigt, desto besser sind die Hauptamtlichen gegenüber den Mitgliedern und Arbeitenden allgemein gestellt. Aus dieser materiell privilegierten Stellung erwächst schnell das Anliegen, diese und die Machtposition generell zu erhalten.
Die ideologische Rechtfertigung dafür liegt in der sogenannten Sozialpartnerschaft zwischen Kapital und Arbeit. Von Gewerkschaftsseite agieren Hauptamtliche als professionelle Unterhändler*innen mit der Unternehmensseite im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Dafür müssen sie von der Mitgliedschaft als deren (Stell)Vertreter*innen, aber auch von der Gegenseite als Verhandlungspartner*innen anerkannt werden. Letzteres funktioniert jedoch nur, wenn hinter der Verhandlung eine reale Macht, also organisierte und potentiell kampfbereite Mitglieder stehen.
Es ist kein Geheimnis, dass sich die Gewerkschaften seit Jahren in einer Krise durch schwindende Mitgliederzahlen befinden. Fusionsprozesse zwischen Gewerkschaften, aber auch die jüngste Verschmelzung der dreizehn Fachbereiche zu fünf innerhalb von ver.di, sind Ausdruck eines finanzgetriebenen Abbaus von Gewerkschaftsstrukturen. Diese Schwächung in den Betrieben und die oben beschriebene objektive Lage sind ein Faktor, warum die Unternehmen, eine härtere Gangart an den Tag legen und die potentielle Macht der Gewerkschaften zurückzudrängen.
Eine Gewerkschaft gewinnt Mitglieder, wenn sie ihren Gebrauchswert als Interessenvertretung der Arbeitenden unter Beweis stellt – durch mobilisierende Forderungen, eine Strategie, wie diese durchgesetzt werden können und letztendlich konsequente Kämpfe. Dafür ist die Aktivität und Selbstorganisation der Kolleg*innen an der Basis und demokratische Strukturen und Diskussionen und Entscheidungen über Strategien und Annahme von Tarifergebnissen ohne Privilegien für Funktionär*innen nötig.
Die Tarifrunden in diesem Jahr drohten, den gewohnten Rahmen zu sprengen. Die Beschäftigten vor allem in den unteren Lohngruppen stehen mit dem Rücken zur Wand. Die Preise für Verbrauchsgüter wie Nahrungsmittel, Mieten usw. steigen beständig deutlich stärker als die durchschnittliche Inflation. Die Notwendigkeit für diese Millionen von Menschen, deutlich mehr rauszuholen, als in den vergangenen Jahren, lag auf der Hand und drückte sich in einer gestiegenen Kampfbereitschaft aus. Schon die Forderungen bei der Post von 15 Prozent oder im öffentlichen Dienst von 10,5 Prozent, aber mindestens 500 Euro über eine Laufzeit von zwölf Monaten machten das deutlich. So kam die Führung von ver.di nicht nur von Unternehmens- sondern auch von der Seite der eigenen Mitglieder unter Druck.
Kampfkraft nicht genutzt
Zu Beginn der Tarifrunden 2023 kehrten die Gewerkschaften mit einem Knall zurück auf die Bildfläche. Die hauptamtliche Verhandlungsführung trat durchweg radikal auf und redete von Erzwingungsstreiks, sollten die hohen Forderungen nicht erfüllt werden. Vor allem im Öffentlichen Dienst kamen Organizing-Methoden flächendeckend zur Anwendung und hatten zumindest eine beteiligende Wirkung. In einigen Bezirken ging man sogar so weit, von der Informationsstruktur der Tarifbotschafter*innen, die keine Entscheidungskompetenzen besitzt, zu einem lokalen Team- und Streikdelegiertensystem überzugehen. Als der gemeinsame Streiktag der Flughafendienste mit dem Öffentlichen Dienst als „generalstreikartig“ bezeichnet wurde, griff das die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle positiv in einer Rede vor Kolleg*innen in Potsdam auf. Sie meinte damit nicht den verallgemeinerten landesweiten Klassenkampf, der sich in Form eines Generalstreiks zu einer Infragestellung der kapitalistischen Herrschaft oder der Regierung ausweitet, sondern die Zusammenlegung von Streiktagen verschiedener Tarifrunden.
Das wurde positiv von den Kolleg*innen aufgenommen, liefen doch große Tarifrunden wie bei der Post, im Öffentlichen Dienst, bei den Flughäfen und den Bahnbeschäftigten u.v.a. parallel. Am 3. März wurde ein Streiktag unter politischer Beteiligung von „Fridays For Future“ durchgeführt, da einige bedeutende Nahverkehrsunternehmen Teil des TVöD sind. Am 7. März wurde gemeinsam mit der EVG gestreikt. Auch wenn die Durchführung nur unzureichend zu einer gemeinsamen Stärkedemonstration genutzt wurde, erfüllte das, was aktive Kolleg*innen seit Jahren forderten.
Angesichts dessen traten Zehntausende allein in ver.di ein, bis zu einer halben Millionen beteiligten sich an den Warnstreiks im Öffentlichen Dienst. Die Arbeiter*innenklasse wurde innerhalb weniger Wochen als Kraft sichtbar. Die parallel in Großbritannien und Frankreich stattfindenden Streikwellen fanden ebenfalls viel Beachtung und spielten in den Reden auf Streikkundgebungen eine Rolle.
Die Weichen für eine breite Streikbewegung waren somit gestellt, nachdem der „heiße Herbst“ nur wenige Monate zuvor ausgeblieben war. Zwar hatten die im Herbst 2022 geringen Abschlüsse in der Chemie- und Metallbranche Einfluss auf die Verhandlungen. Das Potential, darüber hinauszugehen, war jedoch da. Es zeigte sich ebenfalls, dass die Kolleg*innen sehr wohl kämpfen wollen, wenn es ein ernsthaftes Angebot gibt.
Den Auftakt machte die Deutsche Post, die mit einer überwältigenden Mehrheit für den Erzwingungsstreik zur Erfüllung der Forderungen gezwungen werden sollte. Wie sich leider schnell herausstellte, war die Androhung des Streiks nur ein Hebel, um das Post-Management zu marginalen Zugeständnissen zu bewegen. Während das Angebot vor der Abstimmung und vor allem die Kompensation durch die Inflationsausgleichsprämie aus den richtigen Gründen rundweg abgelehnt wurde, gab es innerhalb weniger Tage eine 180-Grad-Wende. Mit geringen Änderungen sollte genau das, was vorher ausgeschlagen wurde, jetzt angenommen werden. Mit bekannten Argumenten von angeblich zu geringer Durchsetzungsfähigkeit, was die Verantwortung letztendlich den eigentlich kampfbereiten Kolleg*innen in die Schuhe schiebt, sollte ein nur wenig verbessertes Angebot angenommen werden. Es gab Kritik an diesem Vorgehen. Im streng zentralisierten Fachbereich der Postdienste wurde öffentlich geäußerte Ablehnung bis hinein in Strukturen auf Betriebsebene versucht zu unterbinden. Dennoch stimmten lediglich 61,7 Prozent der Mitglieder für den Abschluss.
Völlig zurecht befürchteten Kolleg*innen im Öffentlichen Dienst nun, dass dieser Abschluss die Leitwährung werden wird. Es folgten zwar noch weitere beeindruckende Warnstreiks, aber die Schlichtungsvereinbarung zwischen ver.di, dem Bund und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (die eine Einlassungspflicht beinhaltet, sollte eine Seite die Schlichtung anrufen) diente als Mittel, die Streikdynamik zu brechen. Ein durch Geheimhaltungspflicht völlig intransparentes Verfahren nahm den Kämpfenden für fast zwei Wochen das Heft komplett aus der Hand. Der sehr nah am Ergebnis bei der Post liegende Schlichterspruch, dem alle acht ver.di-Vertreter*innen in der Schlichtungskommission zustimmten, wurde dann als Maßstab aller Dinge präsentiert – mehr wäre nicht rauszuholen.
Mit der berechtigte Kritik an diesem Vorgehen, dass die Kampfkraft noch gar nicht genutzt wurde, begannen sich an einer wachsenden Zahl von Orten kritische Kolleg*innen, zu organisieren und Resolutionen gegen die Annahme des Schlichtungsergebnisses zu verabschieden. Nicht mal eine Woche nach der Verkündung des Schlichtungsergebnisses folgte die letzte Verhandlungsrunde, die keine Verbesserung des Angebots brachte. Auf allen Kanälen von ver.di lief eine Kampagne, die das Angebot schön rechnete und die Kolleg*innen zur Zustimmung bewegen sollte. Hauptamtliche, die vormals die Fahne auf Erzwingungsstreik wehen ließen, vollzogen nun ebenfalls eine Kehrtwende. Das führte zu großer Verunsicherung in den Betrieben und ehrenamtlichen Strukturen. Ohne es genau zu belegen, wurde behauptet, dass die Forderungen bundesweit nicht durchsetzungsfähig wären. Für eine Diskussion über die Problemstellung und die Möglichkeiten, die nötige Kampfkraft herzustellen, gab es weder Raum noch Zeit. In der Mitgliederbefragung stimmten trotz alledem nur 66 Prozent für die Annahme, 17 Mitglieder der Bundestarifkommission lehnten den Abschluss sogar ab, drei enthielten sich.
Nach dem Kampf ist vor dem Kampf
Die nächste Forderungsfindung im Öffentlichen Dienst steht bereits in anderthalb Jahren an, Nachschlagsforderungen müssen bereits jetzt diskutiert werden, denn die Inflation setzt sich auf hohem Niveau fort. Die Herrschenden zeigten nicht zuletzt bei der gerichtlichen Anfechtung des EVG Streiks Mitte Mai, woher der Wind weht. Um Angriffe auf das Streikrecht zurückzuschlagen und Forderungen für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen, brauchen wir kämpferische Gewerkschaften mehr denn je, die ihre Schwächen überwinden und nicht davor kapitulieren.
Im September findet der ver.di Bundeskongress statt. Ein Antrag zur Aufkündigung der Schlichtungsvereinbarung liegt vor. Das kann ein Ansatz sein, für einen anderen Kurs in ver.di – weg von einer Politik, die den Unterschied zwischen Kapital und Arbeit verwischt, hin zu einer klassenkämpferischen Massenorganisation, die offene Tarifverhandlungen und Versammlungen und bindende Abstimmungen über deren Ergebnisse führt. Auf diesem Kongress sollte darüber hinaus eine Strategie entworfen werden, wie Forderungen voll durchgesetzt und Kämpfe gewonnen werden können und wie Profitlogik und Ausbeutung überwunden werden kann. Eine antikapitalistische Perspektive gehört auf die Tagesordnung.
Einige Anträge und ein Kongress können zwar ein Schritt in die richtige Richtung sein, aber es kommt darauf an, den Kampf darum zu führen, beschlossene Punkte auch umzusetzen und mit Leben zu füllen wie zum Beispiel den seit 2011 bestehenden Beschluss für die Durchsetzung des politischen Streiks u.v.m. Hierfür ist es nötig, dass Beschäftigte sich organisieren und für einen kämpferischen und demokratischen Kurs in den Gewerkschaften gemeinsam eintreten. Das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di (https://netzwerk-verdi.de/) und die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (https://vernetzung.org/) bieten mit ihren Stellungnahmen, Musteranträgen und Gruppen vor Ort dafür eine gute Möglichkeit.
Im gegenwärtigen Wirtschaftssystem, was auf Privateigentum einiger weniger und der Ausbeutung der Mehrheit beruht, sind unsere Interessen mit den Besitzenden unvereinbar. Deshalb sind selbst gute Reformen, die mühsam erkämpft werden müssen, oft nicht von langer Dauer und können dieses System nicht insgesamt zu einem gerechteren machen. Der Kampf für Verbesserungen muss mit einer Perspektive zur Überwindung des Kapitalismus verbunden werden. Nur so können Proteste, Streiks und Bewegungen nachhaltig erfolgreich sein und der Kampf für eine Gesellschaft geführt werden, in der die Produktion im Interesse der Menschen und des gesamten Planeten organisiert wird und deren Ressourcen nicht nur einigen wenigen dienen und dauerhaft allen ein gutes und erfüllendes Arbeiten und Leben ermöglicht.
René Arnsburg ist Mitglied im ver.di-Landesbezirksvorstand und im verdi-Landesbezirksfachbereichsvorstand A Berlin-Brandenburg (Angaben dienen nur zur Kenntlichmachung der Person)