Wird es jemals einen palästinensischen Staat geben?
Vorbemerkung: Im Folgenden spiegeln wir einen ausführlichen Artikel von Judy Beishon, der sich mit dem Konflikt zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten befasst und für eine sozialistische Lösung plädiert. Der Artikel wurde fertig gestellt, bevor der Krieg zwischen Israel und der Hamas neu entfachte. Inzwischen erklärte der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu, dass Israel sich im “Krieg befinde”. Zuvor feuerte die Hamas hunderte Raketen über die Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel und Hamas-Kämpfer*innen drangen nach Israel ein und töteten hunderte israelische Zivilist*innen. Dies alles geschieht nach 18 Monaten wachsender Spannungen und Gewaltausbrüchen sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland. Nach Angaben der UNO haben die israelischen Streitkräfte in diesem Jahr bis zu diesem Samstag 212 Palästinenser*innen getötet, dreißig Israelis wurden getötet.
Nach dem Angriff der Hamas folgt nun einer der heftigsten Racheakte des israelischen Militärs in der jüngeren Geschichte des Konflikts. Stündlich steigen die Opfermeldungen auf beiden Seiten, wobei auszugehen ist, dass die meisten Opfer palästinensische Zivilist*innen sein werden, die kein Entkommen finden vor den israelischen Bomben. Auf israelischer Seite hat der Krieg zumindest vorübergehend zu einer Stimmung der nationalen Einheit geführt. Israelische Reservist*innen, die im Zuge der vergangenen Massenproteste gegen die Justizreform ankündigten ihren Dienst zu verweigern, haben diese Entscheidung nun zurückgenommen. Klar ist, dass die Ausmaße dieses Krieges tiefgreifende Folgen für die Region, aber auch die Weltlage haben werden. Umso wichtiger bleibt die Analyse des unten aufgeführten Artikels. Unter kapitalistischen Rahmenbedingungen wird es kein Ende des Sterbens auf beiden Seiten und der Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung geben. Nur der unabhängige Kampf der Arbeiter*innenklasse für eine sozialistische Zukunft kann das notwendige Bewusstsein und die Grundlage schaffen, diesen Konflikt zu beenden. In den kommenden Tagen werden weitere Analysen und Artikel folgen.
Die Humangeographie Israels und Palästinas war bislang alles andere als statisch. Die von den verschiedenen israelischen Regierungen vorangetriebenen “Fakten vor Ort” haben die Landschaft des Westjordanlandes und Ostjerusalems seit dem Sieg Israels im Krieg von 1967 immer wieder verändert. Jüdische Siedlungen wurden in ihrer Größe und Anzahl erweitert und umfassen nun rund 500.000 Siedler im Westjordanland und 230.000 in Ostjerusalem.
von Judy Beishon, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI)
Die palästinensischen Gebiete werden unterdessen in immer mehr von Armut geprägten Enklaven zerstückelt, einschließlich des Gazastreifens, der sowohl von Israel als auch von Ägypten weitgehend blockiert wird. Die Bevölkerung leidet unter Landenteignungen, der Zerstörung von Häusern, Bewegungseinschränkungen und brutaler Unterdrückung. Seit dem Jahr 2000 wurden mehr als 10.700 Palästinenser*innen in dem Konflikt getötet, viele von ihnen bei den vier israelischen Militärangriffen auf den Gazastreifen seit 2008. In diesem Jahr haben die Palästinenser*innen im Westjordanland bisher die meisten Todesopfer zu beklagen – seit die Vereinten Nationen im Jahr 2005 mit der Aufzeichnung begonnen haben. Sie sind nicht nur Opfer regelmäßiger Razzien und Tötungen durch das israelische Militär – einschließlich eines blutigen Angriffs auf Dschenin im Juli -, sondern auch von zunehmend grausamer, kommunaler Gewalt durch rechtsgerichtete ultranationalistische jüdische Siedler*innen.
Vor dreißig Jahren, als 1993 das Osloer Abkommen unterzeichnet wurde, hofften beide Seiten auf Fortschritte auf dem Weg zu einem palästinensischen Staat an der Seite Israels. Damals warnte das CWI, dass diese Hoffnungen enttäuscht werden würden, und wir schrieben: “Dieses Abkommen, obwohl es den Palästinenser*innen ein Minimum an Zugeständnissen gemacht hat, wird auf längere Sicht scheitern. Der Kapitalismus ist nach wie vor nicht in der Lage, auf die Wünsche der Palästinenser*innen einzugehen.” Für die herrschende Klasse Israels war das Abkommen ein Versuch, einen Schlussstrich unter die erste Intifada (Name für die palästinensische Aufstände, arabisch für “sich erheben”) zu ziehen und vorübergehend eine gewisse Stabilität wiederzuerlangen. Sie war nicht bereit, der Schaffung eines benachbarten palästinensischen Staates zuzustimmen, der im Rahmen des Kapitalismus jederzeit versuchen könnte, das 1947-49 und 1967 vom israelischen Staat eroberte Land zurückzuerobern.
Seit Oslo hat sich die Zahl der jüdischen Siedler*innen, gefördert durch staatliche Gelder, mehr als verdreifacht, zum Teil mit dem Ziel, einen palästinensischen Staat unerreichbar zu machen, und zwar in einem Maße, dass viele Kommentator*innen in der Region und auf internationaler Ebene die Idee eines Staates inzwischen ganz abgeschrieben haben. So schrieb Tareq Baconi, Präsident eines palästinensischen Politiknetzwerks, im Juli in der New York Times rückblickend auf die letzten 20 Jahre: “Zwischen 2002 und 2023 hat sich die Illusion einer Aufteilung des Landes in zwei Staaten aufgelöst. Sie existiert nur noch als diplomatische Floskel, ausgehöhlt von jeglicher Bedeutung und ersetzt durch einen Konsens zwischen internationalen und israelischen Menschenrechtsorganisationen, darunter B’Tselem, Human Rights Watch und Amnesty International, dass Israel das Verbrechen der Apartheid gegen die Palästinenser*innen begeht.”
Es ist nicht überraschend, dass die Palästinenser*innen in den palästinensischen Gebieten – dem Gazastreifen, dem Westjordanland und Ostjerusalem – die Hoffnung auf einen eigenen Staat weitgehend verloren haben. Die Mehrheit gibt an, dass ihre Lage heute schlechter ist als vor dem Osloer Abkommen (pcpsr.org). Auch in Israel, wo seit dem Jahr 2000 1.346 Menschen in dem Konflikt ums Leben gekommen sind, stehen die meisten Menschen einer Zwei-Staaten-Lösung heute sehr skeptisch gegenüber.
Die letzte Netanjahu-Regierung
Sicherlich schlägt kein Flügel der israelischen Führungsschicht eine Lösung vor, die den Palästinenser*innen einen echten Staat gibt. Die derzeitige Regierung ist die rechtslastigste und ultranationalistischste in der Geschichte Israels, sie schürt die rassistische Spaltung und betreibt Landraub als Teil einer effektiven Annexion des Westjordanlandes. Ihr rechtsextremer Finanzminister Bezalel Smotrich erklärte 2021, dass alle Palästinenser*innen aus dem 1948 von Israel gegründeten Staat hätten vertrieben werden sollen. Nachdem ein Palästinenser im Februar in der palästinensischen Stadt Huwara zwei Siedler erschossen hatte, woraufhin ein blutiger Amoklauf von Siedlern durch die Stadt folgte, rief Smotrich mit den Worten “Das Dorf Huwara muss ausgerottet werden. Ich denke, der Staat Israel sollte das tun” zur ethnischen Säuberung auf.
Ein weiterer rechtsextremer zionistischer Minister, Itamar Ben-Gvir, ist wegen Aufstachelung zur Gewalt und Unterstützung des rechtsextremen zionistischen Terrorismus vorbestraft. Trotzdem ist er aber als Minister für nationale Sicherheit in der Regierung für Polizei und Strafverfolgung zuständig. Weniger als zwei Wochen vor dem Einmarsch israelischer Streitkräfte in die palästinensische Stadt Dschenin im Westjordanland im Juli hatte Ben-Gvir dazu aufgerufen: “Wir müssen das Land Israel besiedeln und gleichzeitig eine militärische Kampagne starten, Gebäude in die Luft jagen, Terroristen ermorden. Nicht einen oder zwei, sondern Dutzende, Hunderte oder, wenn nötig, Tausende.” Ben-Gvirs “Land Israel” umfasst das gesamte Westjordanland bis zum Jordan, das von ihm und vielen anderen Vertretern der zionistischen Rechten als den Jüd*innen von Gott gegeben angesehen wird.
Premierminister Benjamin Netanjahu hat seine eigene Unterstützung für die Annexion verstärkt, um rechtsextreme Parteien in seine Koalition zu holen. So sagte er im Dezember: “Das jüdische Volk hat ein ausschließliches und unbestreitbares Recht auf alle Gebiete des Landes Israel” und “die Regierung wird die Besiedlung in allen Teilen des Landes Israel fördern und entwickeln”. Seit der Bildung seiner neuen Regierung im Dezember hat diese den Bau von 13.000 weiteren Siedlungseinheiten genehmigt, fast das Dreifache der Zahl des letzten Jahres. Außerdem hat sie neun Siedlungsaußenposten legalisiert und Siedler*innen die Rückkehr in vier Siedlungen erlaubt, die 2005 aufgegeben wurden.
Bedenklich ist auch, dass die Verwaltung des zivilen Lebens der Siedler*innen vom israelischen Militär auf ein neues Gremium unter Smotrich übertragen wurde, während die Palästinenser*innen im Westjordanland weiterhin unter militärischer Aufsicht stehen. Dieser Schritt hat den Vorwurf der “Apartheid” noch verstärkt, der auch von einigen Persönlichkeiten des israelischen Establishments erhoben wurde, wie kürzlich von Tamir Pardo, einem ehemaligen Leiter des israelischen Geheimdienstes Mossad.
Die Situation in Israel-Palästina unterscheidet sich erheblich von dem System der Apartheid (Afrikaans-Wort für “Trennung”) in Südafrika, das ab 1948 vier Jahrzehnte lang bestand. Dazu gehört, dass die weiße Minderheit in Südafrika ihre Wirtschaft auf die direkte Ausbeutung der Arbeitskraft der schwarzen Mehrheit des Landes stützte, während Israel mit einer bewussten Politik aufgebaut wurde, die sich ausschließlich auf jüdische Arbeitskräfte stützt und palästinensische Arbeitskräfte in der Wirtschaft außen vor lässt. Auch wenn die palästinensischen Einwohner*innen Israels diskriminiert werden, haben sie nominell die gleichen Rechte wie die israelischen Jüd*innen, und es gibt keine formale Politik der Trennung. Dennoch wird in den besetzten Gebieten unbestreitbar eine Politik der Spaltung betrieben.
Noch nie dagewesene Protestbewegung
Der Plan der Regierung, die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs zu beschneiden, diente dem Zweck, ihre aggressive Agenda für das Westjordanland ungehindert zu verfolgen und die von den verschiedenen Koalitionsparteien geforderten Änderungen innerhalb Israels durchführen zu können – einschließlich der Trennung von Frauen und Männern bei einigen öffentlichen Veranstaltungen. Außerdem hatte Netanjahu ein bekanntes persönliches Motiv, die Justiz einzuschränken, da er der Korruption beschuldigt wurde.
Israels Richter*innen am Obersten Gerichtshof werden ernannt, nicht gewählt, und letztlich handeln sie im Interesse der Kapitalistenklasse und nicht der einfachen Menschen. Doch angesichts einer Regierung, in der rechtsextreme, ultranationalistische und religiös-zionistische Parteien vertreten sind, sind die Demonstrant*innen im Zuge einer beispiellosen Bewegung zu hunderttausenden auf die Straße gegangen, um sich dem Angriff auf die Justiz zu widersetzen. Sie betrachteten den Obersten Gerichtshof als ein Merkmal der Demokratie, da er die Regierung kontrolliert und für mehr Ausgewogenheit und eine “gerechtere” Gesellschaft sorgt, als es die derzeitige Regierung tun wird.
Daneben ist die Bewegung für einen Großteil der Teilnehmer*innen auch eine Massenrebellion gegen den sich verschlechternden Lebensstandard und der öffentlichen Dienstleistungen, von denen viele unter den neoliberalen Maßnahmen der letzten Regierungen privatisiert und gekürzt worden sind, sowie in jüngster Zeit gegen die Auswirkungen von Inflation und den Zinserhöhungen. Die Ungleichheit zwischen einer winzigen Schicht von Superreichen an der Spitze und der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung ist enorm. Ein Drittel der Kinder in Israel wächst in Armut auf und wird nicht einmal ausreichend ernährt. Viele von ihnen leben in palästinensischen Haushalten, aber auch eine beträchtliche Schicht israelischer Jüd*innen lebt in Armut, insbesondere unter den Ultra-Orthodoxen und denjenigen mit nahöstlicher oder afrikanischer Herkunft.
Die Demonstrant*innen der Bewegung kommen aus allen Schichten, vor allem aber aus der säkularen Mittelschicht, die das verteidigen wollen, was sie als Israels traditionelle liberale Demokratie ansehen, die sowohl den Säkularismus als auch die verschiedenen Richtungen und Ausprägungen des religiösen Judentums umfasst. Die meisten der jüdischen, pro-kapitalistischen politischen Parteien in Israel stützen sich auf den einen oder anderen Teil der vielschichtigen Bevölkerung, die sich aus Menschen mit unterschiedlichem und sich überschneidendem Hintergrund zusammensetzt: säkular, gemäßigt religiös, ultra-orthodox, aschkenasisch, sephardisch, mizrachisch, äthiopisch, russisch, Siedler*innen usw. Diese politischen Parteien fördern die Spaltung, indem sie die Interessen eines Teils der Bevölkerung gegen andere unterstützen.
Dringend notwendig ist der Aufbau einer demokratischen Massenpartei, die sich auf die Arbeiter*innenklasse stützt, mit einem kämpferischen sozialistischen Programm, das Arbeiter*innen aller Schichten, einschließlich der Palästinenser*innen in Israel zusammenbringen könnte. Eine solche Partei könnte auch die verschiedenen Generationen zusammenbringen. Die Demonstrant*innen im Rentenalter und älter können sich an die früheren Jahrzehnte des israelischen Staates erinnern, der von Regierungen geführt wurde, die staatliche Investitionen in die Infrastruktur und den Wohlfahrtsstaat tätigten. Die jüngeren Generationen konzentrieren sich vor allem auf die Verteidigung der Rechte von Frauen und LGBTQ+, die Klimakrise, die allgemeine Verkommenheit des Kapitalismus und einige auch auf die Schrecken der israelischen Besatzung. All diese Themen könnten von einer neuen Partei zusammengeführt werden, die die Klasseninteressen aller Arbeitnehmer*innen vertritt und die mit einem sozialistischen Programm ausgestattet ist, um die kapitalistische Ideologie und Interessen herauszufordern.
Dieses Programm wäre auch für die Teile der Arbeiter*innenklasse sehr attraktiv, die derzeit die rechte Regierung unterstützen. Netanjahus Likud Partei hat eine Wählerbasis unter den sephardischen Haushalten der Arbeiter*innenklasse, aber vor allem deshalb, weil die Likud-Führer*innen einen rechtspopulistischen Ansatz verfolgen, reiche Tycoons für die Missstände in der Gesellschaft verantwortlich machen, falsche Versprechungen machen und die Feindseligkeit der Sepharden gegenüber der Unterdrückung ihrer Kultur durch die frühere israelische Führung ausnutzen. Eine Umfrage unter Likud-Wählern ergab, dass 47 Prozent vor allem wegen der Lebenshaltungskosten besorgt sind, die durch Netanjahus wirtschaftsfreundliche Regierung nicht wesentlich gesenkt werden.
Die Basis der Regierung ist also nicht sicher, und da die Koalitionsparteien um jede Politik feilschen, könnte sie bei den kommenden Ereignissen und Zusammenstößen auseinanderbrechen.
Die vorherige, sogenannte “Wechsel”-Koalitionsregierung, die von den derzeitigen Oppositionsführern Bennett, Lapid und Gantz angeführt wurde, war ebenfalls höchst instabil und dauerte nur von Juni 2021 bis Dezember 2022. Die Parteien, die sie bildeten, hatten wenig gemeinsam, außer dass sie gegen Netanjahu waren. Sie baute die Siedlungen weiter aus und genehmigte militärische Angriffe in den palästinensischen Gebieten. Die Unbeständigkeit und Instabilität des israelischen Kapitalismus und seiner politischen Parteien hat sich in fünf Parlamentswahlen innerhalb von nur vier Jahren gezeigt.
Die Unterstützung für die israelische Arbeitspartei (haAwoda) brach ein, weil sie es nicht schaffte, den Lebensstandard und die Sicherheit zu verbessern, als sie an der Macht war – beides ist unter den Bedingungen des kapitalistischen Niedergangs unmöglich, ohne den Kapitalismus in Frage zu stellen. Diese Partei war einst die traditionelle Partei des israelischen Kapitalismus, deren Vorläuferin Mapai die gewaltsame Gründung Israels und die anschließende wirtschaftliche Entwicklung im sozialdemokratischen Stil überwachte, bei der der Staat die kapitalistische Expansion unterstützte. Heute ist die Landschaft der parlamentarischen Parteien stärker zersplittert, da die Wähler*innen nach allem suchen, was besser sein könnte als das, was es bisher gab.
Sehr wichtig ist die Existenz eines Gewerkschaftsverbandes in Israel, der Histadrut, sowie einer kleinen Gewerkschaft “Kraft den Arbeiter*innen” (Koach la’Ovdim). Die pro-kapitalistischen Histadrut-Führer*innen arbeiten bürokratisch und sind nicht rechenschaftspflichtig. Sie arbeiten lieber mit den Arbeitgeber*innen zusammen, als dass sie die Kämpfe der Arbeiter*innen organisieren. Nicht überraschender Weise haben sie die Gewerkschaft lange nicht in die Massenbewegung einbezogen. Daher war es bedeutsam, dass sie am 27. März einen Generalstreik ausriefen. Sie reagierten damit sowohl auf den Druck der Kapitalist*innen, die gegen die derzeitige Regierung sind, als auch auf den Druck der Arbeiter*innen. Der Streik zeigte die potentielle Macht der Arbeiter*innenklasse, da er einen Großteil der Wirtschaft zum Stillstand brachte und Netanjahu dazu veranlasste, die Justizreform – zu diesem Zeitpunkt – zu verschieben.
In Israel kommt es regelmäßig zu Lohn- und anderen Konflikten – in diesem Jahr streikten u. a. Beschäftigte des Gesundheitswesens, Universitätsdozent*innen und Filmschauspieler*innen -, bei denen die Arbeiter*innen ihre kollektive Stärke erfahren. Bei diesen Kämpfen treten oft jüdische Arbeiter*innen zusammen mit Palästinenser*innen am selben Arbeitsplatz in Aktion. Auch die palästinensischen Gemeinden in Israel haben ihre eigenen Kämpfe geführt, darunter monatelange Demonstrationen, um Maßnahmen gegen armutsbedingte Kriminalität und Bandengewalt zu fordern. Sie haben sich weitgehend aus der Bewegung gegen die Justizreform herausgehalten, da sie weniger als die jüdische Bevölkerung zwischen Israels Oberstem Gerichtshof und seiner Regierung unterscheiden – sie betrachten beide als Teile eines Staates, der sie diskriminiert. Und da die selbsternannten Führer*innen der Bewegung die spezifischen Bedürfnisse der Palästinenser*innen in Israel nicht in die Proteste oder die Besatzung aufgenommen haben, wurden die Palästinenser*innen nicht zur Teilnahme ermutigt. Die Protestbewegung verfügte über keine demokratische Struktur, in der Forderungen diskutiert und herauskristallisiert und die nächsten Schritte beschlossen werden konnten.
Die Israelische herrschende Klasse
Die Massenbewegung gegen die Justizreform ist eine klassenübergreifende Bewegung – sie umfasst auch Vertreter*innen des Großkapitals, die keine Auswirkungen auf den Handel aufgrund internationaler Kritik am Vorgehen ihrer Regierung oder das erhöhte Risiko einer Gegenreaktion in den palästinensischen Gebieten auf die verstärkte staatliche Militär- und Siedler*innenaggression wünschen. Sie sind auch besorgt über innenpolitische Instabilität, wenn sich die Polarisierung innerhalb der jüdischen Bevölkerung Israels fortsetzt. Die größte innenpolitische Befürchtung ist jedoch der Bewusstseinswandel, den die Bewegung herbeigeführt hat und der aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer gewissen Infragestellung des “Gesellschaftsvertrags” führen wird, der die einfachen Menschen an die Exekutive des Staates gebunden hat. Außerdem hat die Bewegung über 11.000 Reservist*innen der Armee und der Luftwaffe erfasst, die den Militärdienst verweigert haben – ein ernstes Problem für die herrschende Klasse und ihre Interessen.
Es ist auch eine bedrohliche Entwicklung für die Interessen der Kapitalist*innen, dass die Bewegung sogar während des Großangriffs auf Dschenin im Juli anhielt. Frühere Exzesse des Blutvergießens wurden erfolgreich genutzt, um die Arbeiter*innen zur Unterstützung der Regierung zu bewegen, aber dieses Mal zeigte die Stimmung von unten weniger Neigung, sich zurückzuhalten, obwohl eine Reihe von Oppositionsführer*innen dafür plädierte, die Proteste zu verschieben, während die “Sicherheitsfragen” behandelt wurden.
Für die meisten Mitglieder der herrschenden Klasse Israels ist diese jüngste Form der Netanjahu-Regierung ein zu großes Risiko. Insgesamt befindet sich Israel in der größten Krise seit der Staatsgründung. Pardo verwendete nicht nur den Begriff “Apartheid”, sondern warnte auch, dass die Umwandlung der Besatzung in eine “ewige Besatzung” Israels Existenz als jüdischer Staat bedroht. Diese Befürchtung wird auch von anderen Vertreter*innen des Establishments geäußert: Sie befürchten, dass eine palästinensische Mehrheit in dem gesamten von Israel kontrollierten Land gleiche Rechte fordern und den Charakter des israelischen Staates gefährden würde.
Ein großer Teil der israelischen Kapitalist*innenklasse wünscht sich daher einen sanfteren Ansatz: weniger Provokationen, einen Anschein von Friedensverhandlungen und Zugeständnisse, um die palästinensische Autonomiebehörde in den Gebieten zu stützen. Während kein wesentlicher Teil dieser Kapitalist*innenklasse die Existenz eines unabhängigen, echten palästinensischen Staates zulassen will, könnte eine andere Struktur, die über die gescheiterte palästinensische Autonomiebehörde hinausgeht, möglicherweise geschaffen werden, solange der Kapitalismus noch existiert. Wie beim Oslo-Prozess könnte das israelische Regime auch in Zukunft versuchen, Zugeständnisse zu machen, um einen palästinensischen Massenkampf zu verhindern. Viele israelische Kapitalist*innen sind sich darüber im Klaren, dass die Trennung von den wichtigsten palästinensischen Gebieten in den Territorien nicht unbegrenzt mit militärischer Gewalt aufrechterhalten werden kann, und plädieren daher dafür, eine Art palästinensische Entität zuzulassen.
Internationaler Druck kann dabei eine Rolle spielen, insbesondere von Seiten der USA. Zwar haben die US-Regierungen den israelischen Staat in der Vergangenheit stark unterstützt – sie stellen derzeit 3,9 Milliarden Dollar pro Jahr zur Verfügung – und werden dies wahrscheinlich auch weiterhin tun, doch bedeutet dies nicht, dass der Druck für Verhandlungen nicht wieder zunehmen wird. Dies kann zum Teil darauf zurückzuführen sein, dass der US-Imperialismus die zunehmende Instabilität in Israel-Palästina eindämmen will, aber auch auf die wachsende Kritik an Israels militärischer Besatzung in der US-Bevölkerung. Im Moment hat US-Präsident Biden den Wunsch geäußert, die Exzesse der derzeitigen israelischen Regierung zu begrenzen. Er bezeichnete sie als eine Regierung mit den “extremsten” Minister, die er je gesehen hat, und das US-Außenministerium bezeichnete die Erschießung eines palästinensischen Jugendlichen durch Siedler*innen als “Terroranschlag”, eine Formulierung, die normalerweise nur für Anschläge verwendet wird, die von Palästinenser*innen verübt werden.
Die israelische herrschende Klasse wird den Palästinenser*innen jedoch weder volle Selbstbestimmung zugestehen, noch könnte ein kapitalistischer palästinensischer Staat den palästinensischen Massen einen angemessenen Lebensstandard bieten. Viele der kapitalistischen Mächte der Welt würden ihre Beziehungen zu Israel nicht durch Investitionen beeinträchtigen, zumal im Kapitalismus die ständige Gefahr eines Wiederaufflammens nationaler Konflikte besteht. Der heutige Kapitalismus ist zu verrottet und versagt, als dass er in der Lage wäre, die nationalen Bestrebungen der unterdrückten Völker überall auf der Welt zu erfüllen.
Palästinensische Gebiete
Wie die pro-kapitalistischen Parteien Israels hat auch die Regierungspartei der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland, die Fatah, keinen Ausweg zu bieten. Ihre äußerst unpopulären Führer*innen in der korrupten Behörde arbeiten mit den israelischen Sicherheitskräften zusammen, um ein Regime der Unterdrückung zu errichten und den sinkenden Lebensstandard zu verwalten.
Sie regieren undemokratisch, da seit 17 Jahren keine Parlamentswahlen mehr stattgefunden haben, und haben nicht die Absicht, zu den Massenkämpfen aufzurufen, die für den Kampf gegen die Besatzung notwendig sind. Sie selbst wären ebenso Ziel eines Umsturzes wie die israelischen staatlichen Unterdrücker*innen. Stattdessen bitten sie um Hilfe von kapitalistischen Regierungen weltweit, den Vereinten Nationen und Nichtregierungsorganisationen und appellieren vergeblich, Druck auf Israel auszuüben, damit es Zugeständnisse macht. Übrigens ist die internationale Hilfe für die Autonomiebehörde in den letzten zehn Jahren stark zurückgegangen, während Israels internationaler Handel zugenommen hat, auch mit einer Reihe arabischer Länder.
Da die Palästinensische Autonomiebehörde am Boden liegt, war es bei den letzten Kommunalwahlen üblich, dass Fatah-Mitglieder als “Unabhängige” kandidierten, um dem gegen ihre Führung gerichteten Zorn zu entgehen. Schon bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2006 war die Fatah zu diskreditiert, um sie zu gewinnen, und die Hamas, eine Partei des rechten politischen Islams, ging als Sieger hervor.
Die Hamas regierte schließlich nur im Gazastreifen, auch sie wird nur von einer Minderheit unterstützt und bietet keinen Weg zur Befreiung Palästinas. Wie die Fatah ist sie pro-kapitalistisch und lehnt den unabhängigen Kampf der Arbeiter*innenklasse ab. Ihre Hauptmethode im Kampf gegen die Besatzung ist der Raketenbeschuss Israels, der zwar von einer Schicht von Palästinenser*innen als Widerstand begrüßt wird, in Wirklichkeit aber gegen die gewaltige Übermacht der israelischen Streitkräfte nutzlos ist. Da die Geschosse israelische Zivilist*innen treffen – wie auch die verheerenderen Selbstmordattentate der Hamas und des Islamischen Dschihad während der zweiten Intifada – haben sie außerdem den Effekt, dass die israelischen Jüd*innen das Argument ihrer Regierung unterstützen, dass nur die militärische Bombardierung die Grundlage für einen Waffenstillstand schaffen kann.
Im Westjordanland haben militärische Gruppen, die mit der Hamas und dem Islamischen Dschihad in Verbindung stehen, Berichten zufolge neue Kämpfer*innen angeworben, und es sind neue bewaffnete Gruppen entstanden, wie z. B. Höhle der Löwen (Arīn al-Usūd) in Nablus. Bewaffnete Geheimgruppen, die sich jeglicher demokratischer Kontrolle entziehen, werden den Befreiungskampf jedoch nicht voranbringen. Das hat sich 2011 gezeigt, als Massenbewegungen in Tunesien und Ägypten langjährige Diktatoren stürzten, die ihre Macht durch große staatliche Polizei- und Militärapparate aufrechterhalten hatten.
In den letzten Jahren gab es einige örtlich begrenzte Massenaktionen, unter anderem entlang des Zauns in Gaza, gegen die Unterdrückung rund um die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem und gegen Zwangsräumungen. Die Organisierung an der Basis, die demokratische Diskussion und Entscheidung über die Art der Aktionen und die Wahl von Führungspersönlichkeiten, die dann zur Rechenschaft gezogen werden, gehören zu den notwendigen Schritten, um die Besatzung erfolgreich zu bekämpfen. Wichtig ist auch, dass die israelische Zivilbevölkerung nicht zur Zielscheibe wird, nicht zuletzt, um eine Grundlage für die Zusammenarbeit und Verbindungen zwischen den Beschäftigt*innen auf beiden Seiten der Trennungslinie zu schaffen.
Wie in Israel muss auch in den Gebieten eine politische Alternative zu den pro-kapitalistischen Parteien aufgebaut werden, die ein Programm zum Bruch mit dem Kapitalismus enthält. In Tunesien und Ägypten bedeutete das Fehlen eines solchen Programms und von Massenarbeiter*innenorganisationen, die dafür eintreten könnten, dass die kapitalistischen Politiker*innen und Militärs das kapitalistische System aufrechterhalten und lediglich personelle Veränderungen an der Spitze vornehmen konnten.
Erreichen des Sozialismus
Die notwendige politische Alternative ist der Sozialismus in den palästinensischen Gebieten und in Israel, denn nur wenn das Privateigentum an den wichtigsten Unternehmen durch öffentliches Eigentum und demokratische Kontrolle durch die Arbeiter*innenklasse und die armen Massen ersetzt wird, kann die Grundlage für die Beendigung der kapitalistischen Ausbeutung, der Ungleichheit, des Wettbewerbs, der Konflikte und der Umweltzerstörung geschaffen werden.
Eine Reihe linker Organisationen auf internationaler Ebene hält die israelisch-jüdischen Arbeiter*innen fälschlicherweise für zu sehr dem Nationalismus verhaftet und im Vergleich zu den Palästinenser*innen für zu “privilegiert”, um jemals gegen den israelischen Kapitalismus vorzugehen. Die massive Bewegung in Israel in diesem Jahr hat dieser Position einen Schlag versetzt. Die Anführer*innen der Bewegung haben keine sozialistischen Forderungen gestellt, aber die Erfahrungen, die die Teilnehmer*innen gemacht haben, einschließlich des Generalstreiks, der Blockade wichtiger Straßen und des Parlamentsgebäudes und der schweren polizeilichen Repression – berittene Polizei, Wasserwerfer, Stinkwasser, Verhaftungen und Schläge – haben zweifellos viele dazu veranlasst, Lehren zu ziehen, die künftige Kämpfe auf ein höheres Niveau bringen können.
Das Wohlergehen der israelischen Wirtschaft ist mit dem Wachstum der Weltwirtschaft verknüpft, das sich verlangsamt. Die Kämpfe der Arbeiter*innen in Israel, die mit den kapitalistischen Interessen kollidieren, sind unvermeidlich, da ihre Bosse versuchen, den Lebensstandard der Arbeiter*innen weiter zu drücken, um die Gewinne und die Militärausgaben des Staates aufrechtzuerhalten. Israel ist eine klassenbasierte Gesellschaft, wie alle kapitalistischen Länder, aber mit einer herrschenden Klasse, die einen dicken Nebelschleier nationalistischer Propaganda aufzieht, um den Eindruck zu erwecken, dass die Interessen der jüdischen Arbeiter*innenklasse und der Mittelklasse dieselben sind wie die der Kapitalist*innen, da sie alle israelische Jüd*innen sind. Der Konflikt mit den Palästinenser*innen wird zusammen mit der feindseligen Rhetorik der iranischen Theokratie und der arabischen Regime benutzt, um die Unsicherheit zu betonen und die israelischen Jüd*innen hinter die herrschende Klasse und den Staat zu ziehen.
Auf diese Weise wird die nationale Frage über alle anderen als das wichtigste Thema gestellt, wodurch die Klassenspaltung weniger offensichtlich und spürbar wird. Die bevorstehenden Klassenkämpfe werden jedoch diese Unwahrheit erschüttern und noch deutlicher zeigen, dass der Nationalismus der Kapitalist*innen auf entgegengesetzten Interessen beruht als der der überwältigenden Mehrheit. Für die Kapitalist*innen ist er Teil des Gebäudes des “Teile und Herrsche”, das ihre soziale Basis, ihr Territorium, ihre einheimischen Arbeitskräfte, ihre Profitmacherei, ihre Reichtumsanhäufung und ihr Prestige untermauert. Für die einfachen Menschen ist es in erster Linie der Wunsch, ihre eigene Kultur und Religion (für die nicht-säkularen Menschen) in ihren eigenen Gemeinschaften zu schützen und auszudrücken, mit einem angemessenen Lebensstandard, guten öffentlichen Dienstleistungen und in Sicherheit.
In dieser kapitalistischen Welt mit einem hohen Maß an Armut und Ungleichheit hoffen viele Menschen, dass nationale Grenzen einen teilweisen Schutz gegen einen “Wettlauf nach unten” beim Lebensstandard bieten können, der ein Merkmal des heutigen verrottenden Kapitalismus auf der ganzen Welt ist. Nationale Grenzen waren ein Produkt des Kapitalismus und für dessen Entwicklung notwendig. Obwohl sich der Kapitalismus heute im Niedergang befindet, kann er seine Abhängigkeit von den Nationalstaaten nicht überwinden – sie ist systemimmanent. Die meisten der riesigen Konzerne stützen sich jeweils auf einen Nationalstaat, um Schutz, Unterstützung, Infrastruktur und um einen Teil ihrer Arbeitskräfte und Märkte zu erhalten. Infolgedessen sind Wettbewerb und Konflikte zwischen Staaten um Territorium, Handel und natürliche Ressourcen ebenfalls systemimmanent.
In einer sozialistischen Gesellschaft hingegen würde öffentliches Eigentum an diesen Unternehmen zusammen mit einer sozialistischen Wirtschaftsplanung bedeuten, dass Regierungen, die aus Vertreter*innen der Arbeiter*innen bestehen, den Lebensstandard aller schützen und verbessern können. Sie werden auch in der Lage sein, kulturelle, sprachliche und andere Minderheitenrechte zu garantieren. Diese Fortschritte im Sozialismus werden die Grundlage dafür bilden, dass Grenzen zunehmend an Bedeutung verlieren werden.
Zwei sozialistische Staaten
Da der israelisch-palästinensische Konflikt im Kapitalismus nicht enden wird, ist weder eine Zwei-Staaten-Lösung noch eine Ein-Staaten-Lösung möglich, solange der Kapitalismus existiert. Aber wie sieht es auf der Grundlage des Sozialismus aus? Wie relevant ist die Forderung nach zwei sozialistischen Staaten heute? Bedeutet die Ausweitung der Siedlungen, dass die Sozialist*innen stattdessen einen sozialistischen Staat fordern sollten? Oder sollten sie alternativ die Lösung für die Verhandlungen der Arbeiter*innen offen lassen, wenn der Kapitalismus beseitigt ist?
Für Sozialist*innen steht fest, dass es nach der Abschaffung des Kapitalismus allein den Vertreter*innen der Arbeiter*innenklasse auf beiden Seiten der heutigen Trennungslinie obliegt, darüber zu diskutieren und zu entscheiden, ob es eine Grenze geben soll, wo sie sein soll und für wie lange. Wenn die Massenorganisationen der Arbeiter*innen auf beiden Seiten beschließen, vor dem Sturz des Kapitalismus ein Ein-Staaten-Programm zu verabschieden, sollte dies von Sozialist*innen ebenfalls voll respektiert werden.
Unser gegenwärtiges Programm muss jedoch den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewusstsein Rechnung tragen. Umfragen unter Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten zeigen, dass die Unterstützung für “zwei Staaten” von einer Mehrheit auf eine Minderheit gesunken ist: 32 Prozent in einer Umfrage vom September 2023 (pcpsr.org). Dies ist jedoch vor dem Hintergrund zu sehen, dass 71 Prozent der Meinung sind, dass ein palästinensischer Staat nicht mehr erreicht werden kann, was nicht bedeutet, dass er nicht mehr gewünscht wird.
Nach 75 Jahren der Unterdrückung wollen die meisten Palästinenser*innen das Recht auf Selbstbestimmung. Sie wollen nicht unter der Besatzung leben und befürchten, dass sie in einem “Einheitsstaat” diskriminiert würden – selbst wenn sie dort die Mehrheit bilden würden, nicht zuletzt, weil sie sich der Diskriminierung der Palästinenser*innen innerhalb Israels wohl bewusst sind. In der gleichen Umfrage sprachen sich 27 Prozent der Palästinenser*innen in den Gebieten für einen “Einheitsstaat” aus, aber auch hier ist ein wichtiger Faktor, dass viele die Idee eines eigenen Staates aufgegeben haben und glauben, dass nur noch ein Kampf für gleiche Rechte in einem Staat möglich ist.
Ein weiterer Aspekt, der sich unweigerlich auf die Einstellungen auswirkt, ist, dass die meisten Palästinenser*innen zwar die Handlungen des israelischen Regimes als Haupthindernis für die Verwirklichung ihrer Bestrebungen ansehen, dass aber zweifellos ihre düsteren Erfahrungen mit dem Leben unter der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland oder der Hamas-Regierung im Gazastreifen zu einer Skepsis gegenüber der Vorstellung von einem palästinensischen Staat geführt haben. Für Sozialist*innen macht dies umso deutlicher, dass nicht nur ein Übergang zum Sozialismus notwendig ist, um einen palästinensischen Staat zu schaffen, sondern auch, um die maroden pro-kapitalistischen palästinensischen Behörden loszuwerden und sie durch regelmäßig gewählte, rechenschaftspflichtige Komitees der Arbeiter*innen und Armen auf allen Ebenen der Gesellschaft zu ersetzen.
Die heutige Forderung nach einem sozialistischen palästinensischen Staat entspricht also in Wirklichkeit immer noch den gegenwärtigen nationalen Bestrebungen und Sicherheitsbedenken der meisten Palästinenser*innen sowie ihrem verzweifelten Bedürfnis nach angemessenen Lebensbedingungen.
In der heutigen Situation können die meisten Menschen in Israel-Palästina das enorme Maß an Unsicherheit und Misstrauen, das in 75 Jahren blutigen Konflikts entstanden ist, nicht so weit in ihrem Bewusstsein überwinden, dass sie einem Programm, das gleiche Rechte in einem Staat vorsieht, vertrauen können. Für die israelischen Jüd*innen geht das Bewusstsein für das Blutvergießen auch lange vor der Gründung Israels zurück, in die Zeit der schrecklichen Pogrome gegen Jüd*innen und natürlich des Holocausts.
Die meisten israelischen Jüd*innen, ob säkular oder religiös, haben ein starkes Gefühl der jüdischen Identität und wollen das Recht auf Selbstbestimmung als jüdisches Volk. Die Vorläufer des CWI lehnten die Gründung Israels in Palästina ab, da sie, wie Leo Trotzki warnte, erkannten, dass dies eine “blutige Falle” für das jüdische Volk in einem bereits bewohnten Land sein würde. Im Laufe der Jahrzehnte ist der israelische Staat jedoch zu einer festen Größe geworden, mit einem nationalen Bewusstsein, und 70 Prozent der heutigen israelischen Jüd*innen sind dort geboren. Eine Ein-Staaten-Lösung wird von den meisten von ihnen schnell abgelehnt, weil sie fürchten, ohne eigenen Staat dazustehen und auch diskriminiert zu werden, da die palästinensische Bevölkerung die jüdische Bevölkerung zahlenmäßig übertrifft. Dies gilt selbst dann, wenn sie als sozialistischer Staat ins Gespräch gebracht wird, denn das Verständnis dafür, was echter Sozialismus bedeuten würde, ist in Israel, wie auch weltweit, in diesem Stadium gering. Eine Zwei-Staaten-Lösung hingegen wurde lange Zeit von zwei Dritteln der israelischen Jüd*innen befürwortet, und dieser Anteil ist heute auf ein Drittel gesunken, vor allem aufgrund von Zweifeln an ihrer Realisierbarkeit und eines zunehmenden Misstrauens.
Trotz dieser komplexen Stimmungslage entspricht die Forderung nach einem sozialistischen Israel und einem sozialistischen Palästina mit garantierten Rechten für Minderheiten im Allgemeinen den sozialen und wirtschaftlichen Bestrebungen der israelisch-jüdischen Arbeiter*innen und auch ihren Sicherheitsbedenken, die niemals auf der Grundlage einer militärischen Unterdrückung der Palästinenser*innen gelöst werden können. Es ist eine Position, die in dem Maße an Popularität gewinnen kann, wie sich der Klassenkampf in Israel und auch in den palästinensischen Gebieten entwickelt.
Wie sieht es mit den Beziehungen zwischen den beiden Staaten aus? In der Zeit nach dem Sturz des Kapitalismus könnten demokratisch geplante Volkswirtschaften damit beginnen, einen umweltverträglichen, angemessenen Lebensstandard für alle Menschen auf beiden Seiten der Trennungslinie zu schaffen und damit die materielle Grundlage für eine Zusammenarbeit zu schaffen, die den Konflikt ersetzt.
Demokratisch gewählte und rechenschaftspflichtige Vertrer*innen der Arbeiter*innen beider Seiten müssten über alle relevanten Fragen diskutieren, verhandeln und, wenn nötig, Kompromisse schließen, auch über Landesgrenzen, die Aufteilung Jerusalems, die Verteilung von Wasser und anderen Ressourcen und die Frage, wie palästinensische Flüchtlinge zurückkehren können oder eine gerechte Lösung finden.
Sozialist*innen können nicht zwei sozialistische Staaten für sich allein fordern – ein Ergebnis, das nicht ewig Bestand haben könnte; wir fordern sie vielmehr als Teil eines sozialistischen Nahen Ostens und einer sozialistischen Welt. Die vom CWI in den letzten Jahren verwendete Formulierung ist immer noch gültig: “Für einen unabhängigen, demokratischen, sozialistischen palästinensischen Staat an der Seite eines demokratischen, sozialistischen Israels, mit zwei Hauptstädten in Jerusalem und garantierten demokratischen Rechten für alle Minderheiten, als Teil des Kampfes für einen sozialistischen Nahen Osten”.
Die Forderung nach zwei sozialistischen Staaten entspricht nicht nur den gegenwärtigen Bestrebungen und Bedürfnissen, sondern lässt auch vermuten, dass sich die Kämpfe und Organisationen der Arbeiter*innen am ehesten durch getrennte Bewegungen in den palästinensischen Gebieten und in Israel entwickeln werden. Dies ist sowohl auf die vom israelischen Staat auferlegte geografische Trennung als auch auf die Stärke des nationalen Gefühls und des Misstrauens zurückzuführen. Dennoch wäre es falsch, in dieser Frage einen starren Ansatz zu verfolgen. Sozialist*innen müssen sich zu jeder Zeit für den Aufbau von Solidarität und Verbindungen zwischen den Arbeiter*innen auf beiden Seiten einsetzen und dazu beitragen, dass die Einsicht wächst, dass sie einen gemeinsamen Feind haben, nämlich die herrschenden kapitalistischen Klassen, und dass ein Ende des Konflikts in ihren eigenen Händen liegt. Sozialistische Umgestaltungen werden einen raschen Prozess der Beendigung von Mangel und Armut ermöglichen und die Grundlage für den Aufbau von Gesellschaften schaffen, die frei von Unterdrückung, nationalen Spannungen und nationalen Konflikten sind.