Für eine sozialistische Politik zum Nahost-Konflikt

Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung, Existenzrecht Israels und Selbstbestimmungsrecht

Auf der Linken wird leidenschaftlich darüber diskutiert, wie die Unterdrückung der Palästinenser*innen beendet werden und wie ein Ausweg aus dem so genannten Nahost-Konflikt aussehen kann. Kontrovers diskutieren unterschiedliche linke Kräfte über die Fragen einer „Ein-Staaten-Lösung“ oder „Zwei-Staaten-Lösung“, über das so genannte „Existenzrecht Israels“ und den Charakter der israelisch-jüdischen Bevölkerung. Gruppen wie marx21 sprechen sich explizit für eine „Ein-Staaten-Lösung“ und gegen das so genannte „Existenzrecht Israels“ aus.

Wir sind der Meinung, dass diese Positionen als Absage an das Selbstbestimmungsrecht der israelisch-jüdischen Bevölkerung verstanden werden müssen und deshalb in letzter Konsequenz der nationalen Spaltung der Arbeiter*innenklasse in der Region nicht entgegenwirken, sondern diese sogar vertiefen.

von Sascha Staničić

In den Debatten wird oft darauf hingewiesen, dass „durch die fortgesetzte Siedlungspolitik jede Aussicht auf eine territoriale Einheit eines palästinensisches Staates (schwindet)“ und dass „unter solchen Bedingungen (…) weder ein gleichberechtigter palästinensischer Staat neben Israel entstehen noch so die Grundlage für eine dauerhafte Beilegung des Konflikts in der Region gelegt werden (kann)“ und ein möglicher palästinensischer Rumpfstaat „ökonomisch kaum überlebensfähig“ wäre.

Als „Ursprungsproblem“ wird oftmals die „ethnische Teilung Palästinas“ benannt, welche überwunden werden müsse, um eine Lösung des Nahost-Konflikts zu erreichen. Die Schlussfolgerung ist: „Dies ist nur möglich, wenn ein gemeinsamer, weltlicher und demokratischer Staat geschaffen wird, in dem Juden, Muslime und Christen mit gleichen Rechten zusammenleben können.“

Klassenfrage

Diese Analyse ignoriert die klassenpolitische Dimension des Nahost-Konflikts, die aus unserer Sicht das „Ursprungsproblem“ der ethnischen Teilung determiniert. Israel ist ein Vorposten des westlichen Imperialismus im Nahen Osten zur Durchsetzung imperialistischer Interessen. Die israelische Bourgeoisie braucht die nationale Spaltung in der Region und auch die wiederkehrenden militärischen Auseinandersetzungen mit den Palästinenser*innen, um ihre eigene Herrschaft im Staat Israel gegenüber der „eigenen“ Arbeiter*innenklasse aufrechtzuerhalten. Und auch die herrschenden arabischen Eliten haben ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Konflikts, weil auch sie dadurch von ihrer eigenen Verantwortung für gesellschaftliche Missstände ablenken können.

Wenn wir über die „Bedingungen“ des Nahostkonflikts sprechen, dürfen wir deshalb nicht nur die ethnische Teilung benennen, sondern müssen die dahinter liegenden Interessen offenlegen. 

Die Sol geht davon aus, dass der Staat Israel nicht einfach militärisch besiegt werden kann und dass auf Basis der Macht der israelischen Bourgeoisie in Israel und der palästinensischen Eliten aus Großgrundbesitzern, Unternehmern und PLO- und Hamas-Bürokratie im Westjordanland und dem Gaza-Streifen eine Lösung des Nahost-Konflikts unmöglich ist. Das bedeutet, dass Trägerin einer Lösung die Arbeiter*innenklasse und die unterdrückten Schichten beider Nationen sein müssen, dass also dem Aufbau von Kämpfen, Bewegungen und Arbeiter*innenorganisationen – sowohl dem berechtigten Widerstand der Palästinenser*innen gegen die Besatzung als auch Klassenkämpfen in Israel – eine zentrale Bedeutung zukommen und dass jeder erfolgversprechende Vorschlag für eine Lösung Teil einer sozialistischen Perspektive sein muss.

Zwei-Staaten-Lösung weit weg

Angesichts der aktuellen Ereignisse erscheint ein friedliches Zusammenleben der beiden Völker in weite Ferne gerückt. Viele Menschen – israelische Jüdinnen und Juden genauso wie Palästinenser*innen – halten eine Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr für durchsetzbar. Das war einmal anders. Es ist noch nicht lange her, da genoss diese Idee in beiden Völkern eine mehrheitliche Unterstützung. Eine Annäherung ist also möglich. Aber wie soll diese erreicht werden? 

Israelisch-jüdische Arbeiter*innenklasse

Auch diese Frage ist nur zu beantworten, wenn man eine Klassenperspektive einnimmt. Ein massenhafter Widerstand der Palästinenser*innen kann die Sympathie und Unterstützung von israelisch-jüdischen Arbeiter*innen erreichen, wenn er sich nicht gegen Zivilist*innen, sondern gegen die Besatzungsorgane richtet und einen klassenpolitischen Appell an die israelisch-jüdische Arbeiter*innenklasse richtet.

Zu diesem Schluss muss man kommen, wenn man die Rolle der israelisch-jüdischen Arbeiter*innenklasse betrachtet. Nur wenn diese, oder zumindest große Teile von ihr, von ihrer eigenen Regierung und Staat weggebrochen werden können, wird die Besatzungspolitik des Staates Israel zu besiegen sein. 

Es ist richtig, um mit Marx zu sprechen, dass die Arbeiter*innenklasse einer unterdrückenden Nation nur selber frei werden kann, wenn sie sich gegen diese Unterdrückung stellt. Eine Voraussetzung für eine Lösung des Nahost-Konflikts ist, dass sich in der israelisch-jüdischen Arbeiter*innenklasse die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts für die Palästinenser*innen durchsetzt. Dies zu erreichen ist jedoch schwierig, denn die israelisch-jüdische Arbeiter*innenklasse ist zwar einerseits Opfer der Klassenherrschaft einer israelisch-jüdischen Bourgeoisie und verschärfter Angriffe auf soziale Rechte, Löhne, Arbeitsbedingungen, aber fühlt sich gleichzeitig in ihrer Sicherheit bedroht durch den nationalen Konflikt. Das Bedrohungsgefühl – verstärkt durch Raketenbeschuss und aktuell den Terrorangriff vom 7. Oktober – treibt die israelisch-jüdischen Arbeiter*innen immer wieder in die Arme “ihres” Staates, der vorgibt, ihren Schutz zu garantieren. Auch wenn Raketenbeschüsse und der Terrorangriff der Hamas letztlich auch Ergebnis der Politik der israelischen Regierung sind und diese das größte Sicherheitsproblem für die israelisch-jüdische Bevölkerung darstellt, muss eine linke Strategie für eine Lösung des Nahost-Konflikts dieses Bedrohungsgefühl der israelisch-jüdischen Arbeiter*innenklasse berücksichtigen.

Selbstbestimmungsrecht

Eine Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts für die Palästinenser*innen in der israelisch-jüdischen Bevölkerung kann deshalb unmöglich erreicht werden, wenn man dieser die Bildung eines „gemeinsamen“ Staates, in dem sie zur Minderheit würde, vorschlägt bzw. zur Bedingung macht. Denn formal gleiche Rechte in einem gemeinsamen Staat bedeuten für eine Minderheit möglicherweise nichts anderes als Benachteiligung und faktische Entrechtung. Das Schicksal der Tamil*innen auf Sri Lanka ist dafür ein gutes Beispiel.

Um also den Konflikt zu überwinden sind nach unserer Überzeugung folgende politische Faktoren  nötig: erstens die gegenseitige Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts, also auch die Anerkennung des Rechts der israelisch-jüdischen Bevölkerung, einen eigenen Staat zu haben und zweitens die Betonung der gemeinsamen Klasseninteressen der israelisch-jüdischen und der palästinensischen Arbeiter*innen und Bäuerinnen/Bauern und drittens der Aufbau sozialistischer und gewerkschaftlicher Arbeiter*innenorganisationen auf beiden Seiten, die in Israel Arbeiter*innen beider Volksgruppen organisieren müssten. Das ist der notwendige Prozess, der in der Zukunft auch ein Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat ermöglichen kann.

Existenzrecht Israels?

Bedeutet das nun, das „Existenzrecht Israels“ zu unterstützen? Stefan Bornost von marx21 schreibt dazu: „Die Definition Israels als ‚jüdischer Staat‘ – statt eines weltlichen Staats, in dem Juden und Araber gleichberechtigt zusammenleben -, führt automatisch zur Diskriminierung des arabischen Teils der Bevölkerung. Das Existenzrecht Israels, das grundsätzlich als Existenzrecht des jüdischen Charakters des Staates gedacht ist, rechtfertigt diese Diskriminierung.“ Und lehnt eine Zustimmung zum Existenzrecht Israels ab.

Es stimmt: der Staat Israel ist ein reaktionäres, imperialistisches und rassistisches Gebilde. Er hat eine religiös geprägte Verfasstheit und institutionalisiert die Diskriminierung der Palästinenser*innen. Aber das „Existenzrecht Israels“ wird gemeinhin nicht verstanden als politische Unterstützung für diesen Staat Israel in seiner gegenwärtigen Verfasstheit und politischen Ausprägung, sondern als Recht der Jüdinnen und Juden auf einen eigenen Staat in den Grenzen Israels von 1967. Dieses Selbstbestimmungsrecht der israelischen Nation, die sich seit der Staatsgründung 1948 entwickelt hat, sollten Marxist*innen unterstützen. Dieses mit dem Hinweis darauf zu negieren, dass der israelische Staat sich als „jüdischer Staat“ definiert bzw. als „kolonialer Siedler-Staat“ errichtet wurde, bedeutet die seit über 65 Jahren gewachsene Realität zu negieren. Mit einem ähnlichen Argument könnte man das „Existenzrecht“ der USA in Frage stellen, die ebenfalls als kolonialer Siedlerstaat begründet wurden. Die israelische Nation ist eine historisch gewachsene Realität, wie es die USA sind. Sie ist in Klassen gespalten und es ist Aufgabe von Sozialist*innen, die israelisch-jüdische Arbeiter*innenklasse zu gewinnen. Die Anerkennung ihres Selbstbestimmungsrechts ist dafür eine Voraussetzung, um ihre Unterstützung für den Kampf gegen die Besetzung und für die Rechte der Palästinenser*innen zu gewinnen.

Palästinensischer Widerstand

Der palästinensische Widerstand kann und soll nicht bis dahin abwarten, aber er sollte auf Massenmobilisierungen statt auf Stellvertreterpolitik durch Hamas oder Fatah setzen, um diesem Ziel näher zu kommen. Deshalb sprechen wir uns für eine sozialistische Intifada aus – einen Massenaufstand, wie den vom Ende der 1980er Jahre, aber mit sozialistischer Zielsetzung. Genauso wichtig ist es aber, den Klassenkampf in Israel voran zu treiben und hier die Voraussetzungen für einen gemeinsamen Kampf von israelischen Jüdinnen und Juden und Araber*innen zu nutzen. Tritt man an die israelisch-jüdische Arbeiter*innenklasse mit dem Vorschlag einer „Ein-Staaten-Lösung“ heran, wird es schwer fallen, Gehör für Vorschläge für gemeinsamen Widerstand zu bekommen.

Um aber gegenseitiges Vertrauen aufbauen zu können, müssen beide Seiten deutlich machen, dass sie das Recht der anderen Seite auf einen eigenen Staat akzeptieren. Das ist in der Praxis nicht von den herrschenden Eliten zu erwarten, sondern wäre nur durch den Aufbau einer sozialistischen Arbeiter*innenbewegung zu erreichen.

Aus dieser Perspektive heraus unterstützen wir das Recht des palästinensischen Volkes gegen Krieg, Besatzung und Belagerung Widerstand zu leisten und schlagen vor, diesen Widerstand massenhaft und demokratisch zu organisieren und ihn mit dem Kampf gegen Armut, Korruption und für eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft zu verbinden. Wir fordern ein Ende von Besatzung, Krieg und Siedlungsbau und treten in Israel für gemeinsame, multiethnische Verteidigungskomitees ein, die Schutz vor nationalistischen Übergriffen organisieren könnten. 

Sozialismus

Wir schlagen die Bildung zweier sozialistischer Staaten in der Region vor, als eine Möglichkeit, einen Ausweg aus dem nationalen Konflikt in der Region zu finden. Natürlich gibt es viele Fragen, die durch die Formel zweier sozialistischer Staaten nicht automatisch gelöst sind. Aber sie können eben nur gelöst werden, wenn die Machtverhältnisse sich ändern und die Arbeiter*innenklassen beider Nationen in freie und demokratische Verhandlungen über diese komplizierten Fragen eintreten können. Dazu gehören unter anderem der Umgang mit den Siedlungen im Westjordanland, das Rückkehrrecht der vertriebenen Palästinenser*innen, die Frage von Minderheitenrechten (also dem Status von Jüdinnen und Juden in einem sozialistischen Palästina und von Araber*innen in einem sozialistischen Israel), der Status von Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Wenn eine israelische Arbeiter*innenregierung mit einer palästinensischen Arbeiter*innenregierung diese Fragen verhandeln könnte, kämen sie möglicherweise zu dem Ergebnis, einen gemeinsamen Staat zu bilden. Aber das kann nicht der Ausgangspunkt in sozialistischer Propaganda für die Überwindung des Nahostkonflikts sein, sondern kann nur das Ergebnis sein, wenn eine sozialistische Arbeiter*innenbewegung in der Region erfolgreich ist.

Das mag weit weg erscheinen. Aber es ist Aufgabe von Sozialist*innen zu sagen, was ist und darauf hinzuweisen, dass Konflikte wie im Nahen Osten vor allem eines deutlich machen: der Kapitalismus ist unfähig sie zu lösen – Sozialismus ist dringende Notwendigkeit geworden!

Der Text ist eine überarbeitete Fassung eines Artikels aus dem Jahr 2014.