Die revolutionäre Inspiration Lenins

Zum 100. Todestag des russischen Revolutionärs

Vorbemerkung: Anlässlich des 100. Todestags von Vladimir Illjitsch Lenin am 21. Januar veröffentlichen wir hier eine Besprechung der Lenin-Biografie Lars T. Lih durch Peter Taaffe aus dem Jahr 2014. In den nächsten Tagen werden weitere Artikel erscheinen, die sich mit Lenin auseinandersetzen.

Lenin war, neben Leo Trotzki, der wichtigste Führer der russischen Oktoberrevolution des Jahres 1917 – der ersten sozialistischen Revolution, in der die Massen selbst, organisiert in Räten, die Macht in die eigenen Händen nahmen. Die von Lenin geführte bolschewistische Partei spielte dabei eine zentrale Rolle.

Diese Revolution blieb in den Folgejahren in dem von Krieg und Bürgerkrieg zerstörten und ökonomisch und kulturell ohnehin rückständigen Russland isoliert. Die Macht der Arbeiter*innen wurde durch die Macht einer Parteibürokratie ersetzt, die zur stalinistischen Diktatur führte. Bürgerliche Politiker*innen und Historiker*innen stellen den Stalinismus gerne als logische Folge von Lenins Politik und Methoden dar und Lenin selbst als brutalen Diktatur. Nichts könnte der Wahrheit mehr widersprechen. Lenin stand für Arbeiter*innendemokratie und Sozialismus und versuchte in seinen letzten Lebsnsjahren und -monaten den Kampf gegen die Bürokratisierung der jungen Sowjetunion zu führen. Sein Tod am 21. Januar 1924 machte das jedoch unmöglich.

In einem Versuch, auf die Beschreibung Lenins durch kapitalistische Historiker als brutalen Diktator zu antworten, wenden sich einige Linke an Lars T. Lih. Er hat versucht, den Führer der Russischen Revolution als eine Art schwammigen Liberalen neu zu erfinden. Dabei besteht die Gefahr, dass das Verständnis dafür, wie man eine Bewegung aufbaut, die in der Lage ist, die Gesellschaft zu verändern, verloren geht.

Von Peter Taaffe

In der jüngsten “Revolution” in der Ukraine [2003-2004] – die sich gegen Wladimir Putins Versuche richtete, die ukrainische Regierung zu erpressen, um im Einflussbereich Russlands zu bleiben – demolierte eine Menschenmenge die letzte verbliebene Lenin-Statue in der Hauptstadt Kiew. Statuen wie diese wurden in der Vergangenheit in der ehemaligen “Sowjetunion” von den privilegierten stalinistischen bürokratischen Eliten errichtet, die sich vor dem Zorn der Massen schützen wollten, indem sie sich auf die politische Autorität Lenins beriefen. In Wirklichkeit trennte sie eine kolossale Kluft von Lenins wahren Ideen von Sozialismus und Arbeiter*innendemokratie.

Im kapitalistischen Westen gab es, wenn überhaupt, nur wenige Lenin-Statuen, die umgestürzt werden konnten. Also taten kapitalistische Historiker*innen und Akademiker*innen, insbesondere nach dem Zusammenbruch des Stalinismus – und damit leider auch der Planwirtschaften in Russland und Osteuropa – das Nächstbeste. Sie verunglimpften Lenin und seinen Mitanführer der Russischen Revolution, Leo Trotzki, und versuchten so, die Ideen des Sozialismus und des echten Marxismus systematisch zu diskreditieren.

In einer Reihe gewichtiger Bände unternahm eine kleine Armee moderner “Historiker”, wie Richard Pipes, Orlando Figes und nicht zu vergessen der unnachahmliche Robert Service, eine kolossale Umschreibung der Geschichte. Figes wurde öffentlich als Kritiker der Werke anderer Historiker*innen entlarvt, während er insgeheim lobende Rezensionen seiner eigenen Bücher schrieb! Service’s “Biographie” über Trotzki, die wir sofort nach ihrer Veröffentlichung rezensiert haben, ist inzwischen sogar von nicht-marxistischen Historiker*innen als nicht objektiv diskreditiert worden.

Angesichts der anhaltenden Krise des Kapitalismus, die zu einem neuen Interesse an Sozialismus und Marxismus geführt hat, ist heute jedoch ein neuer, “subtilerer” Ansatz erforderlich. In der akademischen Welt gibt es bereits eine Revolte gegen die bisherige Konzentration auf die marktwirtschaftliche, kapitalistische Wirtschaftslehre. Studierende und Dozent*innen fordern zunehmend, dass sie mit den Ideen von Karl Marx sowie mit den “radikaleren” kapitalistischen keynesianischen Ökonomen vertraut gemacht werden. Darin lässt sich ein Element des Wiederauftauchens der 1960er Jahre in den heiligen Institutionen des Lernens erkennen. Die enorme Radikalisierung von Studierenden und Akademiker*innen, die sich damals entwickelte, war ein Spiegelbild und in gewissem Maße ein Vorläufer der Massenbewegungen der Arbeiter*innen in den 1960er und 1970er Jahren.

Dieses Buch von Lars T. Lih – erstmals 2011 in der Reihe “Critical Lives” veröffentlicht – ist eine Antwort auf diese neue Situation. Darin, wie auch in seinen anderen Schriften, ist er Lenin wohlgesonnener als die oben genannten Historiker. Aber die Behauptung auf dem Buchumschlag, dass das Buch “eine bemerkenswerte neue Interpretation von Lenins politischer Anschauung” präsentiere, ist, gelinde gesagt, übertrieben. Lars gibt selbst zu: “Meine Sicht auf Lenin ist nicht besonders originell und deckt sich weitgehend mit der Sichtweise der meisten Beobachter Lenins und seiner Zeit”. Leider finden die “meisten Beobachter” immer noch nicht Lenins Ansichten “sympathisch”. Dies gilt insbesondere, wenn es um den Charakter der Partei geht, die die Arbeiter*innenklasse für einen erfolgreichen Kampf gegen den Kapitalismus und für den Sozialismus braucht.

Arbeiter*innen und Bäuer*innen

Trotzki, der in diesem Buch kaum Erwähnung findet, schildert in seiner unvollendeten Biografie über Stalin die reale Geschichte des Bolschewismus in seiner Anfangsphase sehr viel ausführlicher, wenn auch nur in groben Zügen. Er skizziert auch klar die Ansichten Lenins zu den entscheidenden Fragen des Charakters der erforderlichen revolutionären Partei und zu den Strukturen und Praktiken einer solchen Partei, einschließlich des demokratischen Zentralismus und seiner Ursprünge.

Lars hingegen schreibt in einer irreführenden, wolkigen und abstrusen Weise: “Lenin hatte eine romantische Vorstellung von der Führung innerhalb der Klasse. Er versuchte, die einfachen Aktivist*innen … mit einer erhabenen Vorstellung davon zu inspirieren, was ihre eigene Führung erreichen könnte”. In diesem Sinne ist das Buch auf irritierende Weise mit Phrasen wie Lenins “heroisches Szenario” gespickt. Hinzu kommen plumpe Behauptungen über die Beziehungen zwischen der Arbeiter*innenklasse und der Bauernschaft in Russland: “Sein Beharren auf dem Bauern als Mitläufer schloss eine überhöhte, ja romantische Sicht auf die Bauern in der Revolution nicht aus. Heroische Führer brauchten heroische Gefolgsleute.”

Natürlich konnte Lenin, wie die meisten Marxist*innen, begeistert sein. Sie wiederum konnten sich für das Spektakel der kämpfenden Arbeiter*innen begeistern, vor allem, wenn es einen Höhepunkt der Revolution erreichte. Der Marxismus ist durchdrungen vom Geist des Optimismus. Gleichzeitig ist Lenin in Bezug auf die Aussichten des Klassenkampfes im Allgemeinen und auf alle Fragen, die das Schicksal der Arbeiter*innenklasse betreffen, äußerst realistisch. Seine Auffassung von Führung, wie auch von der Notwendigkeit der Partei, war nicht “erhaben”, sondern praktisch und ergab sich aus dem Notwendigen.

Doch was soll man von Lars’ Schlussfolgerungen am Ende des Buches halten, wenn er schreibt: “Der alte Bolschewismus war durch seine Wette auf die revolutionären Qualitäten der Bauernschaft definiert. Doch weniger als ein Jahrzehnt nach seinem Tod führte das von Lenin gegründete Regime Krieg gegen die Bauern und erzwang während der Kollektivierungskampagne eine Revolution von oben, was zu einer verheerenden Hungersnot beitrug”. (Seite 202)

Erstens hat der Bolschewismus nie eine “Wette” auf die Bäuer*innennschaft abgeschlossen, sondern erkannt, dass diese niemals eine unabhängige Rolle spielen konnte. Daher stellte sich die Frage, wer sie in der Revolution anführen würde – wer würde ihre Forderung nach Land erfüllen – die Arbeiter*innenklasse oder die Bourgeoisie? Die Geschichte hat bewiesen, dass die Arbeiter*innenklasse die Bäuer*innenschaft in der Tat befriedigt hat, nachdem die Bourgeoisie und ihre Parteien bewiesen hatten, dass sie den Massen, einschließlich der Bäuer*innenmassen, niemals das Land sowie Frieden und Brot geben würden. Zweitens ist es lächerlich, “das von Lenin gegründete Regime”, wie Lars es tut, mit dem von Stalin geführten Regime zu identifizieren, das bereits zehn Jahre nach Lenins Tod von einer privilegierten bürokratischen Elite beherrscht wurde. Lenins Witwe, Nadeschda Krupskaja, erklärte 1926, dass Lenin, wenn er gelebt hätte, unter dem stalinistischen Regime inhaftiert worden wäre.

Die revolutionäre Partei

Das Buch enthält viele irreführende und folglich fehlerhafte Aussagen wie diese und kann daher nicht als korrekte Darstellung von Lenins Rolle in der Geschichte angesehen werden. Aber es wurde von einigen Linken aufgegriffen, sogar in bestimmten quasi-marxistischen Kreisen. Das liegt daran, dass Lars’ Darstellung, insbesondere in Bezug auf den demokratischen Zentralismus, einer Schicht entgegenkommt, die die Idee eines “harten” Lenin, zugunsten eines angeblich “offeneren” ablehnt. Es ist nicht das erste Mal, dass wir mit diesem Phänomen konfrontiert werden. In den 1960er und 1970er Jahren “entdeckten” Zeitschriften wie die New Left Review schwammige “bahnbrechende neue Theoretiker”, die dann immer fast so schnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren.

Die Ideen von Lars sind zur aktuellen Mode für diejenigen geworden, die vor dem echten Marxismus und den wirklichen Traditionen von Lenin und Trotzki fliehen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, die auf den Traditionen des demokratischen Zentralismus beruht. Dies steht in keiner Weise im Widerspruch zu der umfassenderen Aufgabe, in dieser Phase eine Massenpartei der Arbeiter*innen zu organisieren. Diese wird sich zwangsläufig auf einer viel lockereren Basis organisieren müssen, die eine Form von Föderation beinhaltet und in Großbritannien natürlich in den Gewerkschaften verwurzelt ist. Die Beibehaltung eines klaren marxistischen Kerns innerhalb solcher breiteren Formationen ist absolut notwendig. Ohne diesen wird es keine dauerhaften Errungenschaften für die Arbeiter*innenklasse geben.

Die Geschichte, auch die jüngste, unterstreicht diesen Punkt. So kamen zum Beispiel die wichtigsten Kräfte hinter der Gründung der Scottish Socialist Party (SSP) im Jahr 1998 aus unserer Partei. Die Führung von Militant (Vorläufer der Socialist Party, A.d.Ü.) unterstützte die Bildung einer solchen breiten Partei; tatsächlich waren wir die ersten, die diese Idee vorbrachten. Aber die Führung von Scottish Militant Labour (SML) schlug vor, die SML gleichzeitig mit der Gründung der SSP faktisch in diese Partei aufzulösen, und führte dies auch durch. Dies wiederum führte zu ihrer Trennung vom Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) in Schottland und international. Sie wurden nicht ausgeschlossen, sondern traten freiwillig aus unseren Reihen aus.

Wir warnten damals, dass dies nicht nur die tragische Schwächung einer ausgeprägten revolutionären Organisation und Tradition in Schottland bedeuten würde, sondern in einem bestimmten Stadium auch den völligen Zerfall der SSP. Leider hat sich dies bewahrheitet. Ein ähnlicher Prozess vollzog sich in Italien, wo verschiedene marxistische Organisationen der Rifondazione Comunista (RC) beitraten, als diese 1991 gegründet wurde, aber im Laufe der Zeit nicht in der Lage waren, die Reihen dieser Partei für eine klare marxistische Position zu gewinnen. Die RC hat sich inzwischen praktisch aufgelöst.

Vergleichen Sie dies mit den Erfolgen von Militant, sowohl als sie in der Labour Party war – 1964 hatten wir nicht mehr als vierzig Unterstützer*innen – als auch während unseres Ausschlusses in den späten 1980er Jahren. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass es sowohl in Schottland als auch in Italien keinen ausreichend organisierten und politisch geschulten marxistischen Kern gab, der in der Lage gewesen wäre, entweder eine Mehrheit in der Partei zu gewinnen oder zumindest eine größere Zahl von Anhänger*innen zu gewinnen, die dann die Grundlage für eine neue Organisation oder Partei hätten bilden können.

Die Klasse, die Partei und die Führung

Diese Fehler resultieren aus einem falschen Verständnis einiger marxistischer Kräfte vom Verhältnis zwischen der Klasse, einer Partei und ihrer Führung. Der “demokratische Zentralismus” – der Begriff selbst – ist keine Erfindung von Lenin, sondern wurde in der russischen Arbeiter*innenbewegung erstmals von den Menschewiki innerhalb der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDLP) verwendet. Die Konzeption einer Partei, ihre Organisationsmethoden und die Art und Weise, wie Diskussionen und interne Debatten geführt werden sollten, haben jedoch eine lange Tradition, die mit Marx und Engels beginnt.

Dies zeigt sich zum Beispiel in der Satzung des Bundes der Kommunisten von 1847, in dem Marx und Engels Mitglieder waren. Noch bevor der Begriff “demokratischer Zentralismus” verwendet wurde, wurde das Konzept in dieser ersten eigenständigen internationalen Partei der Arbeiter*innenklasse übernommen.

In ihren Statuten legt der Bund der Kommunisten die Bedingungen für die Mitgliedschaft fest: “Unterordnung unter die Beschlüsse des BUndes… Die Kreisbehörde [die eine Reihe von “Zweigstellen” umfasst, wie wir sie heute verstehen würden] ist das ausführende Organ für alle Gemeinschaften des Kreises… Die verschiedenen Kreise eines Landes oder einer Provinz sind einem leitenden Kreis unterstellt… Die Zentralbehörde ist das ausführende Organ des gesamten Bundes und als solches dem Kongress verantwortlich… Der Kongress ist die gesetzgebende Behörde des gesamten Bundes. Alle Vorschläge zur Änderung der Regeln werden über die führenden Kreise an die Zentralbehörde gesandt und von dieser dem Kongress vorgelegt… Wer gegen die Bedingungen der Mitgliedschaft verstößt… wird je nach den Umständen aus dem Bund entfernt und ausgeschlossen”.

Lenin nahm diese und andere Beispiele aus der historischen Erfahrung der Arbeiter*innenbewegung, einschließlich der deutschen Sozialdemokratie, und versuchte, sie auf die spezifischen Bedingungen in Russland anzuwenden. Lenins berühmtes Buch “Was tun?” aus dem Jahr 1901 war der Notwendigkeit einer zentralisierten Partei in Russland gewidmet. Lars befasst sich, wenn auch nicht sehr angemessen, mit einigen Teilen der Geschichte. Er berührt die Meinungsverschiedenheiten über die Formeln Lenins als Antwort auf die “Ökonomisten”, die sich auf die rein alltäglichen Kämpfe konzentrieren wollte. Lenin hat in seiner Beschreibung der Entstehung des sozialistischen Bewusstseins in der Arbeiter*innenbewegung nach seinen eigenen Worten “den Bogen überspannt”.

Lenins Behauptung, sozialistisches Bewusstsein könne nur von außen durch die revolutionäre Intelligenz in die Arbeiter*innenklasse gebracht werden, war falsch. Er entlehnte dies auch von dem deutschen sozialdemokratischen Führer und damaligen Marxisten Karl Kautsky. Obwohl Lenin dies später korrigierte, wurde es zur Rechtfertigung des hochmütigen Vorgehens selbst ernannter “Führer”, in der Regel von winzigen Organisationen, benutzt, die sich als “die” Führung der Arbeiter*innenklasse ausgeben.

Trotzki würdigte Lenins hartnäckige und mühsame Arbeit, mit der er durch den Kampf der Bolschewiki die Grundlage für den Ansatz der Massenpartei legte. Dennoch betonte er, dass der “Dampf”, die Arbeiter*innenklasse, die treibende Kraft der Revolution sei. Die Partei, wenn sie richtig handelt, spielt dieselbe Rolle wie ein “Kolben”, um sie für eine Revolution nutzbar zu machen.

Lenin betonte denselben Punkt im Gegensatz zu den “Kommissaren”, die sich im Untergrund formierten. Sie waren misstrauisch gegenüber den Initiativen der Arbeiter*innen. Trotzki hatte in seiner Broschüre “Politische Probleme” von 1904 vor den Gefahren des Auftauchens solcher Figuren gewarnt. Er wies darauf hin, dass diese Art von Komiteemitgliedern “sich nicht mehr auf die Arbeiter stützen müssen, da sie in den Prinzipien des ‘Zentralismus’ eine Stütze gefunden haben.” Lenin erkannte die Gefahren einer einseitigen Interpretation dessen, was er aufzubauen versuchte, als er schrieb: “Ich konnte mich nicht zurückhalten, als ich hörte, dass es keine arbeitenden Männer gab, die für die Mitgliedschaft im Komitee geeignet waren”. Trotzki bemerkt: “Lenin verstand besser als jeder andere die Notwendigkeit einer zentralisierten Organisation; aber er sah in ihr vor allem einen Hebel zur Steigerung der Aktivität des fortgeschrittenen Arbeiters. Die Idee, aus der politischen Maschine einen Fetisch zu machen, war ihm nicht nur fremd, sondern widerstrebte seinem Wesen.“ (Stalin, S. 103,)

Demokratischer Zentralismus

Lars T. macht pauschale, unrichtige Bemerkungen über den demokratischen Zentralismus. Er schreibt, dass es keine “Darlegung der Bedeutung des Begriffs gab – Lenin verwendete ihn beiläufig, um bestimmte Punkte zu verdeutlichen”. Er stellt auch fest: “Lenin hätte gesagt: ‘Der demokratische Zentralismus ist unter den Bedingungen des Untergrunds nicht möglich. Echte innerparteiliche Demokratie ist obligatorisch, wenn sie möglich ist, und entbehrlich, wenn sie nicht möglich ist'”.

Aber er liegt völlig falsch, wenn er ohne jede Grundlage in der tatsächlichen Praxis des Bolschewismus behauptet, dass der demokratische Zentralismus in einer Phase praktiziert und in einer anderen Phase völlig willkürlich zurückgenommen wurde. Die Bolschewiki haben sich, wie alle wirklich revolutionären Organisationen, zu jeder Zeit auf die allgemeinen Prinzipien des demokratischen Zentralismus gestützt: maximale Diskussion bis zu einer Entscheidung und dann eine einheitliche Anstrengung der gesamten Partei, Gruppe oder Organisation zur Umsetzung der Entscheidung. Selbst dann ist es völlig falsch, zu behaupten, dass alle Diskussionen und Debatten nach der Beschlussfassung beendet sind. Die Geschichte der echten Arbeiter*innenbewegung hat gezeigt, dass wichtige Diskussionen über ungelöste Fragen in Form von internen Bulletins, Debatten usw. außerhalb des Rahmens des nationalen Parteitags weitergeführt wurden.

Die verschiedenen Seiten dieser Frage mögen für isolierte Intellektuelle schwer zu begreifen sein, aber es ist eine Idee, die die Arbeiter*innenklasse leicht versteht, insbesondere ihre fortgeschritteneren, führenden Schichten. Sie ergibt sich aus der Lage der Arbeiter*innenklasse im Kapitalismus selbst.

Noch nie in der Geschichte war der Kapitalismus so zentralisiert wie heute. Noch nie waren die Zwangsmittel – siehe die Enthüllungen von Wikileaks, die massive Überwachung der eigenen Bevölkerung und anderer Regierungen durch kapitalistische Regierungen – so sehr in den Händen des kapitalistischen Staates konzentriert. Es ist daher unvorstellbar, dass ein loses Netzwerk in der Lage wäre, sich zu mobilisieren, um diese kolossale Macht zu besiegen. Ohne eine zentralisierte Massenpartei, die in der Lage ist, die Werktätigen zu vereinen und dann entschlossen zu handeln, wenn es die Zeit erfordert, ist es unmöglich, die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft, die größte Veränderung in der Geschichte der Menschheit, durchzusetzen.

Die Arbeiter*innenklasse versteht instinktiv die Notwendigkeit einer zentralisierten Partei und der damit einhergehenden Disziplin. Dies zeigt sich in jedem ernsthaften Kampf, insbesondere bei Streiks, an denen die Arbeiter*innenklasse beteiligt ist. Wenn zum Beispiel die Vertrauensleute aufgerufen sind, eine Frage zu diskutieren und zu debattieren, und das manchmal hitzig, werden sie sich normalerweise bemühen, mit einer Stimme zu sprechen, wenn sie die Frage in einer Massenversammlung vortragen. Natürlich wird es Fälle geben, in denen eine Minderheit von Vertrauensleuten und Arbeiter*innen mit einer Empfehlung nicht einverstanden ist, und in einer solchen Situation würden Marxist*innen dafür plädieren, eine umfassende Debatte zu führen.

Diese Methoden, die Elemente des demokratischen Zentralismus beinhalten, werden von den Arbeiter*innen instinktiv verstanden. Dies wird durch die jüngste Erklärung der National Union of Metalworkers of South Africa (Numsa) deutlich. Als sie den Bruch mit dem ANC ankündigte und die Idee einer neuen Massenpartei der Arbeiter*innen unterstützte, erklärte sie: “Die Numsa ist eine revolutionäre Gewerkschaft und spielt als solche eine führende Rolle bei der Beseitigung des Kapitalismus und der damit verbundenen Ausbeutung. Wir sind demokratische Zentralisten – wir glauben an eine robuste, energische und demokratische Debatte, die zu einer gemeinsamen Entscheidung und Aktion führt”.

Diskussion und Entscheidung

Es stellt sich also die Frage nach dem Gleichgewicht zwischen Demokratie, umfassenden Debatten und Diskussionen und der Wahrung des Rechts aller Mitglieder, sich an der Formulierung der Politik zu beteiligen, und Zentralismus, der Notwendigkeit, in jeder Phase einheitlich zu handeln. Dies kann nicht a priori entschieden werden – durch allgemeine Grundsätze, die jederzeit und unabhängig von den konkreten Umständen gelten. Die Organisation, selbst in einer revolutionären Massenpartei, ist für Marxist*innen kein unabhängiger Faktor. Sie ist eine Schlussfolgerung aus der Politik. Es sind die Politik, die Perspektiven und das Programm sowie die konkreten Umstände, die bestimmen, welche Formen der Organisation in jeder Phase angewandt werden sollten. Aber es stimmt nicht, wie Lars T. meint, dass der demokratische Zentralismus nur unter bestimmten Umständen angewandt wird und unter anderen nicht. Für Marxist*innen bedeutet demokratischer Zentralismus ein “bewegliches Gleichgewicht” zwischen Demokratie und Zentralismus, wobei je nach den konkreten Umständen der Demokratie oder dem Zentralismus der Vorzug gegeben wird.

Unter den Bedingungen des Untergrunds neigen die zentralistischen Methoden dazu, die volle Entfaltung der demokratischen Diskussion, Rechte und Prinzipien zu dominieren. Dies bedeutet jedoch keineswegs einen vollständigen Zentralismus mit wenig Demokratie. Im Gegenteil, während des Kampfes gegen das brutale zaristische Regime und seine Polizei debattierten und stritten die russischen Revolutionär*innen, einschließlich der Bolschewiki, miteinander über Programm und Politik. Dies war ein notwendiges Mittel zur Schärfung der politischen und theoretischen Waffen in Vorbereitung auf die Revolution. Es fanden sogar regelmäßig Kongresse statt, sowohl im Untergrund als auch während des Bürgerkriegs.

Es herrschte volle Diskussions- und Debattenfreiheit. Für die Bolschewiki, insbesondere Lenin und Trotzki, bedeutete dies jedoch nicht, dass die revolutionäre Partei zu einem Debattierklub werden sollte. Denjenigen, die diese Methode als inhärent “ungesund” bezeichnen, gab Trotzki einen Rat. Angesichts der Uneinigkeit in den Reihen seiner Anhänger*innen in Frankreich in den 1930er Jahren sagte er: “Eine kleinere, aber einmütige Organisation kann mit einer klaren Politik enormen Erfolg haben, während eine Organisation, die von internen Streitigkeiten zerrissen ist, zum Verfall verurteilt ist”. Es gibt heute einige Organisationen in Großbritannien und international, auf die Trotzkis Worte sehr treffend sind.

Lars T. versucht, einen weicheren Lenin zu präsentieren, der “offener” und “demokratischer” ist als die “zentralistische”, wenn nicht gar autoritäre Figur, die gewöhnlich von bürgerlichen und den meisten “marxistischen” Historiker*innen gleichermaßen beschworen wird. Dieser “neue” Lenin ist fast ein “Liberaler” in seiner angeblichen Akzeptanz der offenen, öffentlichen, uneingeschränkten Diskussion in einer revolutionären Partei.

Diese neue Herangehensweise an Lenin verzerrt seine wahren Ansichten. Es gab Zeiten, in denen Lenin und Trotzki für die offenste Art der Diskussion eintraten, auch in öffentlichen Foren und in schwierigen Zeiten, die in gewissem Maße außerhalb der Partei stattfanden. Nikolai Bucharin und die so genannten “Linkskommunisten”, die ihn bei der Brest-Litowsk-Kontroverse 1918 in seinem Eintreten für einen “revolutionären Krieg” unterstützten, hatten eine Tageszeitung, die gegen die Ideen von Lenin und Trotzki argumentierte.

Die kommunistischen Massenparteien in Frankreich und Italien argumentierten in ihren Tageszeitungen gegen die Idee der Einheitsfront. Aber nach zwei Jahren waren sie gezwungen, den Beschluss der Kommunistischen Internationale umzusetzen.

Es gibt viele weitere Beispiele, darunter Trotzkis anfängliche Unterstützung der Minderheit innerhalb der amerikanischen SWP in den 1930er Jahren für eine öffentliche Diskussion über den Klassencharakter der Sowjetunion. Er zog seinen Vorschlag jedoch zurück, als seine amerikanischen Mitdenker*innen darauf hinwiesen, dass diese Minderheit vor allem an das kleinbürgerliche Milieu außerhalb der Partei appellierte, das unter dem Druck der “demokratischen” öffentlichen Meinung von der Unterstützung der Sowjetunion abgerückt war. Dies verhinderte jedoch nicht, dass in den Reihen der SWP eine lebhafte Diskussion über diese Frage geführt wurde.

Parteifeindliche Stimmung

Ein Teil der Kampagne der Kapitalist*innen nach dem Zusammenbruch des Stalinismus bestand darin, die Stimmung in der Bevölkerung, insbesondere in der neuen Generation, gegen “Parteien” und das Modell der angeblich geschlossenen, autoritären Partei Lenins zu schüren. Wir argumentierten dagegen, erkannten aber auch, dass alles, was den Anschein erweckte, mit dem Stempel des Stalinismus behaftet zu sein, die neue Generation auf der Suche nach einer politischen Alternative abstoßen würde.

Diese “Anti-Politik”- und “Anti-Parteien”-Stimmung entsprach in Wirklichkeit einer tiefen Feindseligkeit gegenüber allen “offiziellen”, “traditionellen” Parteien, d.h. den kapitalistischen Parteien, einschließlich der Sozialdemokrat*innen und sogar der kommunistischen Parteien, die mit der alten Ordnung identifiziert wurden.

Diese Stimmung hielt übrigens über einen längeren Zeitraum an und ist auch heute noch ein wichtiger Faktor für die politische Situation in vielen Ländern. In Spanien gab es das Phänomen der “Indignados”, und in anderen Ländern gab es ähnliche Tendenzen. In Spanien spiegelte sich darin der völlig berechtigte Hass auf die so genannte “Sozialistische Partei” (PSOE) wider. Dies war ein Faktor, der zur Entstehung der Indignados beigetragen hat. Aber diese Feindseligkeit richtete sich auch oft gegen marxistische Gruppen, obwohl die aktivsten Vertreter*innen der Indignato-Bewegung selbst Mitglieder kleiner politischer Organisationen waren. Sie waren in der Tat “Anti-Gruppen-Gruppen”.

Doch was war das Ergebnis dieser politischen Abstinenz? In Spanien die katastrophale Wahl der rechtsgerichteten PP-Regierung, die eine verheerende Krise mit einer Jugendarbeitslosigkeit von weit über fünfzig Prozent verursacht hat. Daher hat diese neue Generation eine Neubewertung vorgenommen und kehrt wieder zu der Idee zurück, eine politische Alternative aufzubauen.

Eine ähnliche Stimmung herrschte in der Occupy-Bewegung, die sich im Anschluss an Initiativen in den USA weltweit entwickelte. Die anschließende Erfahrung zeigte, dass eine amorphe Bewegung, die zwar von jugendlicher Energie und Idealismus angetrieben wurde, der es aber an einer klaren Richtung und Organisation mangelte, kaum eine Gefahr für die stark zentralisierten und organisierten Kräfte des Kapitalismus darstellte. Ein neuer Weg wurde gesucht, und eine bedeutende Schicht von Arbeiter*innen und Jugendlichen fand diesen Weg in den spektakulären Wahlkämpfen in Seattle und Minneapolis.

Die Wahl einer Sozialistin in den Stadtrat von Seattle, zum ersten Mal seit 100 Jahren, stellte einen echten Sprung nach vorn dar, was die Möglichkeiten für politische Kämpfe nicht nur in den USA, sondern weltweit betrifft. Socialist Alternative [2014 war Socialist Alternative in politischer Solidarität mit dem CWI, trennte sich dann aber 2019] hat in diesem Fall die Initiative ergriffen, aber ähnliche radikale politische Bewegungen kamen auch anderswo zum Ausdruck: in New York mit der Wahl von Bill de Blasio und seiner Beschwörung einer “Geschichte von zwei Städten” mit 73 Prozent der Stimmen und der Wahl von 24 unabhängigen Labour-Kandidaten in Lorain County, Ohio.

Ein ähnlicher Prozess hat sich in Argentinien vollzogen, wo eine trotzkistische Wahlfront bei den jüngsten Wahlen 1,2 Millionen Stimmen erhielt. Dies ergab sich aus der völlig veränderten Situation im Vergleich zu 2001. Damals waren die Parteien trotz einer katastrophalen Wirtschaftslage diskreditiert; insbesondere die marxistischen Parteien kamen kaum voran.

Diese Wahlen deuten darauf hin, dass sich die Situation völlig verändert hat, da sich die bewussteren Arbeiter*innen nun der Notwendigkeit von Organisationen und Parteien bewusst sind. Eine Schicht hat folglich ihre Hoffnungen auf diese “linke Front” übertragen, die sich in einer besonders günstigen Situation befindet, um zu wachsen, wenn sie die richtige Taktik und Offenheit gegenüber den neuen Schichten der Arbeiter*innenklasse anwendet, die in den kommenden Kämpfen nach einer eigenen Massenpartei suchen werden. Dies wird wahrscheinlich die Beibehaltung eines revolutionären Kerns – in einer eigenständigen und separaten Organisation – beinhalten, der eine breitere Basis in einer größeren Massenformation sucht. Es hat andere Gelegenheiten gegeben, die verloren gegangen sind, weil dieser offene Ansatz nicht gewählt wurde.

Der Blick auf Lenin

Millionen von Arbeiter*innen sind auf der Suche nach einem neuen Weg nach vorn. Dieser kann ihnen durch den Aufbau neuer Massenparteien der Arbeiter*innenklasse geboten werden. Aufgrund der Periode, die wir durchlaufen haben, ist es unwahrscheinlich, dass diese in den meisten Ländern sofort ein klares revolutionäres, marxistisches Programm annehmen werden. Aber eine marxistische Organisation, die ehrlich und offen arbeitet, wird von den besten Arbeiter*innen, die nach einem Weg nach vorn suchen, in ihren Reihen willkommen geheißen werden.

Leider werden Bücher wie dieses von Lars T. – und insbesondere diejenigen, die seine Ideen unkritisch loben – nicht in der Lage sein, die Arbeiter*innen auf die stürmische, aber aufregende Zeit vorzubereiten, die vor ihnen liegt. Es stellt die Ideen von Lenin nicht klar dar. Sie ignoriert in skandalöser Weise den Beitrag, den vor allem Trotzki geleistet hat.

Unsere Kritik beschränkt sich nicht nur auf die organisatorische Ebene. Der Autor erläutert die Ideen Lenins in Bezug auf die Perspektiven für die russische Revolution nicht hinreichend. Die zentrale Idee Lenins von der “demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft” unterschied sich von den Vorstellungen der Menschewiki, die eine kapitalistische Entwicklung Russlands sahen und den Sozialismus in die Ferne rückten. Lenin lehnte die Vorstellung völlig ab, dass die schwachen russischen Kapitalisten die Aufgaben der demokratischen kapitalistischen Revolution durchführen könnten: die Bodenreform, die Lösung der nationalen Frage, die Einführung der Demokratie usw. Nur ein Bündnis der Arbeiter*innen und Bäuer*innen, der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung Russlands, sei in der Lage, diese Aufgaben zu erfüllen.

Der Schwachpunkt in Lenins Szenario, den Lars T. in keiner Weise vollständig auslotet, ist die Frage, wer die dominierende Kraft in dem Bündnis zwischen Proletariat und Bauernschaft sein würde. Die gesamte Geschichte beweist, dass die Bauernschaft aufgrund ihrer Heterogenität nie eine eigenständige politische Rolle gespielt hat. Ihre oberen Schichten neigen dazu, mit den Kapitalisten zu verschmelzen; ihre unteren Schichten neigen dazu, in den Reihen der Arbeiter*innenklasse unterzugehen.

Hier setzt Trotzkis berühmte Theorie der permanenten Revolution an, die die Entwicklung der russischen Revolution richtig voraussah. Obwohl die Arbeiter*innenklasse eine Minderheit ist, würde sie aufgrund ihrer sozialen Stellung in der Gesellschaft und ihrer besonderen Merkmale, nämlich ihrer Dynamik und Organisation in der Großindustrie, in der Lage sein, die Masse der Bauernschaft in die Revolution zu führen, um die Autokratie zu stürzen. Nach ihrer Machtübernahme würde sie dann zu den Aufgaben der sozialistischen Revolution in Russland und der Welt übergehen. In Lenins Briefen aus der Ferne wie auch in seinen Aprilthesen stimmt er mit diesen Ideen Trotzkis völlig überein. Dies wird in diesem Buch nicht einmal erwähnt.

Das Buch von Lars T. Lih stellt zweifellos einen Fortschritt gegenüber den böswilligen Verzerrungen der Ideen von Lenin und Trotzki dar. Aber gleichzeitig wird es, wenn es nicht ergänzt und korrigiert wird, weitere Verwirrung darüber stiften, wofür Lenin und Trotzki wirklich standen.

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