50 Jahre CWI in Deutschland 

50 Jahre Verteidigung des Marxismus – 50 Jahre Kampf für eine sozialistische Alternative

Vor fünfzig Jahren wurde sowohl die Vorgängerorganisation der Sol in Deutschland (Dezember 1973) als auch das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI – im April 1974) gegründet. Wir veröffentlichen in den nächsten Wochen eine Reihe von Artikeln, die sich mit der Geschichte des CWI in Deutschland und international beschäftigen werden. Ein Teil dieser Texte ist in der aktuellen Ausgabe des Magazins sozialismus heute auch in Printform veröffentlicht worden und kann beim Manifest-Verlag bestellt werden.

Als im Dezember 1973 von einer handvoll Mitglieder der SPD-Jugendorganisation Jusos die erste Ausgabe der VORAN (Vorläufer-Zeitung der „Solidarität“) herausgebracht wurde, dachte so manche*r Linke wahrscheinlich „Oh je! Noch eine marxistische Zeitung?“ Schließlich gab es unzählige Gruppierungen, Strömungen und Publikationen, die sich auf den Marxismus beriefen: DKP, KBW, KAB, KB, KPD, KPD/ML, GIM, BSA, IAK, IKD, Stamokap, Antirevisionisten etc. pp.! Die heutigen Leser*innen werden sich wahrscheinlich fragen: „Was? Die Sol-Mitglieder waren mal in der SPD? Warum das denn?“ Antworten auf diese und andere Fragen zur fünfzigjährigen Geschichte von VORAN/SAV/Sol, der deutschen Sektion des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (die internationale sozialistische Organisation, der die Sol angeschlossen ist, englische Abkürzung CWI), gibt der Sol-Bundessprecher Sascha Staničić in dieser Sonderausgabe von sozialismus heute.

Es waren drei marxistische Jusos, die – inspiriert von der britischen „Militant“-Tendenz (einer marxistischen Organisation, die innerhalb der Labour Partei arbeitete und die britischen Jungsozialist*innen führte) –1973 den Aufbau einer neuen marxistischen Organisation in der deutschen Arbeiter*innenbewegung in Angriff nahmen und die Herausgabe der Zeitung VORAN beschlossen. Sie waren davon überzeugt, dass die Ideen des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI), die sich um die britische Militant-Organisation, gerade begann zu gruppieren, auch für die Bundesrepublik Deutschland von Bedeutung waren und anderen Strömungen in der Arbeiter*innenbewegung etwas voraus hatten. Sie sahen die Notwendigkeit des Aufbaus einer internationalen marxistischen Organisation, die die besten Traditionen der revolutionären Arbeiter*innenbewegung fortsetzen kann: die Traditionen von Marx und Engels, Liebknecht und Luxemburg, Lenin und den Bolschewiki, Trotzki und der Linken Opposition gegen den Stalinismus. Nur mit diesen Ideen bewaffnet gingen sie voller Selbstbewusstsein an die Aufgabe, eine neue Organisation zu schaffen.

1973

Das Gründungsjahr von VORAN war ein Jahr des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die Arbeitslosigkeit war gering. Das Wort „Reform“ meinte noch eine Verbesserung für die Lebenssituation der Masse der Bevölkerung – und die SPD wurde im eigentlichen Sinne des Wortes mit „Reformpolitik“ identifiziert. Nach der 68er Bewegung und der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler im Jahr 1969 waren hunderttausende Arbeiter*innen und Jugendliche in die SPD eingetreten. Die Jusos waren ein linksreformistischer Massenverband mit einer breiten Verankerung an Schulen, Universitäten und unter Arbeiter*innenjugendlichen. Die verschiedenen Flügel stritten sich darum, wer den Marxismus und den Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft repräsentiere. In der SPD wurde ein „Langzeitprogramm“ diskutiert, wonach bis 1985 Schritt für Schritt der „demokratische Sozialismus“ eingeführt werden sollte. 1975 verabschiedete der SPD-Parteitag einen „Orientierungsrahmen 85“, der durch jährliche Wachstumsraten von fünf Prozent innerhalb von zehn Jahren Wohlstand, soziale Sicherheit und Chancengleichheit für alle durchsetzen sollte. 1973 gab es eine Welle von wilden (das heißt nicht durch die Gewerkschaften offiziell aufegrufenen) Streiks, 1974 erstreikten sich die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes Lohn- und Gehaltserhöhungen von elf Prozent.

1973 existierten mit der Sowjetunion, den osteuropäischen Staaten, China und einer Reihe anderer Länder noch der große Block nichtkapitalistischer Staaten – Gesellschaften in denen zwar das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft, Marktkonkurrenz und Profitproduktion durch eine geplante Wirtschaft ersetzt waren, die aber nicht von der Masse der arbeitenden Bevölkerung regiert und verwaltet wurden, sondern von einer abgehobenen, privilegierten Elite von Partei- und Staatsbürokrat*innen. Bis weit in die 70er Jahre gab es in diesen Staaten einen enormen wirtschaftlichen Fortschritt, der zu steigendem Lebensstandard und einer großen sozialen Absicherung führte. Viele Linke weltweit hatten die Illusion, dass in diesen Staaten der Sozialismus schon verwirklicht war oder doch zumindest diese Staaten auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft waren.
Die Arbeiter*innenbewegung wurde von zwei Strömungen dominiert – von Reformismus und Stalinismus. Also einerseits von der Idee Schritt für Schritt, eventuell sogar durch eine Zusammenarbeit mit dem Kapital, die Widersprüche des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu überwinden. Manche – rechte – Reformist*innen waren der Ansicht, dass diese Widersprüche im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft gelöst werden könnten. Andere – linke – Reformist*innen sahen die Möglichkeit eines schrittweisen und parlamentarischen Übergangs zu einer sozialistischen Gesellschaft. Der Reformismus dominierte SPD, Jusos und Gewerkschaften. Die stalinistische Strömung existierte in unterschiedlichen Schattierungen, hatte aber gemein, dass sich die verschiedenen Gruppen an existierenden nicht-kapitalistischen Gesellschaften orientierten – Sowjetunion, DDR, China, Albanien. Die moskauorientierten Gruppen waren die DKP und eine starke Fraktion innerhalb der Jusos, der sogenannte Hannoveraner Kreis, auch „Stamokap“ (das Wort leitete sich von der Staatsmonopolkapitalismus-Theorie ab) genannt. Aus der 68er Bewegung hatten sich vor allem im studentischen Milieu verschiedenste „K-Gruppen“ herausgebildet, die sich an China oder Albanien orientierten. Die moskautreuen Gruppen waren letztlich nichts anderes als der verlängerte Arm der Ostberliner beziehungsweise der Moskauer Außenpolitik. Bei aller Verbalradikalität war ihre politische Praxis letztlich auch nur reformistisch, schließlich setzten die herrschenden Bürokratien in Osteuropa auf eine „friedliche Koexistenz“ mit dem Kapitalismus statt auf seine revolutionäre Abschaffung. Die kleineren K-Gruppen bewegten sich weitgehend außerhalb der Arbeiter*innenbewegung und konnten keine Verankerung innerhalb der Arbeiter*innenklasse gewinnen. Ihre Praxis war durch eine sektiererische Politik gekennzeichnet. Das war auch ein entscheidendes Charakteristikum der Gruppen, die zu keiner dieser beiden Hauptströmungen gehörten, sondern sich – wie VORAN – auf eine revolutionär-marxistische (trotzkistische) und antistalinistische Tradition beriefen.

In dieser Situation lag die Notwendigkeit für die Gründung einer neuen Organisation begründet: Ablehnung von Reformismus und Stalinismus in Theorie und Praxis und konsequente Orientierung auf die Arbeiter*innenklasse als einziger gesellschaftlicher Kraft, die aufgrund ihrer Stellung in der Produktion die Fähigkeit hat, das kapitalistische System zu Fall zu bringen und eine sozialistische Demokratie zu organisieren.

Arbeit in der SPD

Die SPD (und die sozialdemokratischen Parteien international) war in den 70er Jahren nicht das, was sie heute ist. Damals verbanden Millionen von Arbeiter*innen und Jugendlichen ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben mit der Sozialdemokratie. Die Basis der Partei war von abhängig Beschäftigten und Jugendlichen dominiert. Arbeiter*innen, die sich politisierten und in Kämpfe eintraten, orientierten sich in ihrer großen Mehrheit an der SPD. Als große und mächtige Partei sahen die meisten eher die Chance, durch eine Veränderung der SPD eine Veränderung der Gesellschaft zu erreichen, als durch politische Arbeit außerhalb der SPD. Viele der betrieblichen und gewerkschaftlichen Aktivist*innen waren Mitglied in der SPD und betrachteten diese als die politische Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung. Diese Haltung gab es trotz einer SPD-Führung, die sich gänzlich dem kapitalistischen System verpflichtet fühlte. Die SPD war zu diesem Zeitpunkt eine Arbeiter*innenpartei mit bürgerlicher Führung. VORAN vertrat die Ansicht, dass es die wahrscheinlichste Perspektive sei, dass sich aus Klassenkämpfen heraus ein linker Massenflügel in der SPD entwickeln würde und dort das beste Potenzial existieren würde, um Arbeiter*innen und Jugendliche für den Marxismus zu gewinnen. Die Eintrittswellen in die SPD Anfang der 70er Jahre und auch nach Helmut Kohls Regierungsantritt 1982 bestätigten diese Einschätzung im Kern. Die Grundeinstellung „Marxist*innen sind da, wo die Massen sind“ führte zur Arbeit in Gewerkschaften und SPD. VORAN erlag in den Jahren der Betätigung in den reformistischen Massenorganisationen niemals dem Druck, die eigenen Inhalte und das Programm an den Reformismus anzupassen.

Gegen Reformismus

1973 war das Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse und der Linken von der Hochkonjunktur geprägt. Das nahende Ende des langen Nachkriegsaufschwungs wurde von den wenigsten erwartet. VORAN schrieb schon in der ersten Ausgabe: „… spätestens 1975 findet ein schwerer wirtschaftlicher Rückgang statt, der alle in Angriff genommenen Reformen unmöglich zu machen droht.“ Dies weist auf eine Eigenschaft hin, die VORAN und später die SAV und Sol immer auszeichnen sollte: einen ernsthaften Umgang mit der Weiterentwicklung der marxistischen Theorie und der Ausarbeitung von Perspektiven. Leo Trotzki hatte den Marxismus einmal als die „Wissenschaft von den Perspektiven“ bezeichnet. Dies nahmen wir immer ernst, verstanden Perspektiven aber auch immer vor allem als eine Anleitung zum Handeln. Die Aussicht auf ein Ende des Nachkriegsaufschwungs und das Einsetzen tiefer kapitalistischer Wirtschaftskrisen hatte eine Ablehnung reformistischer Vorstellungen zur Folge. VORAN schrieb, dass ein dauerhaftes Reformprogramm „nur dann durchzuführen ist, wenn die Hebel der wirtschaftlichen Macht – das heißt die Schlüsselindustrien und das Bankwesen – in Staatshänden ruhen und durch die organisierten Arbeiter und Angestellten verwaltet und kontrolliert werden.“

Die Weltwirtschaftskrise von 1974/75 und die darauf folgende Rechtsentwicklung der SPD-Regierungspolitik (von Reformen hin zu Konterreformen) waren eine ebenso deutliche Bestätigung der Aussagen von VORAN, wie auch die internationalen Entwicklungen in den 70er und 80er Jahren.Gegen den Reformismus in der Arbeiter*innenbewegung zu kämpfen bedeutet allerdings nicht, auf den Kampf für Reformen zu verzichten. VORAN war nie ein Theoriezirkel oder Debattierclub, der auf eine sozialistische Zukunft vertröstet hat. Wir haben uns immer für den Kampf für Verbesserungen und gegen Angriffe eingesetzt und wo es uns möglich ist, diesen initiiert oder geführt. Doch wir haben immer Forderungen aufgestellt, die deutlich gemacht haben, dass Reformen nur auf Dauer gesichert werden können, wenn der Kapitalismus überwunden wird und den Kampf für Verbesserungen mit dem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft verbunden.

Chile, Portugal, Frankreich

Die Idee des Sozialismus war zu Beginn der 70er Jahre weltweit eine mächtige Kraft. Für große Teile der Arbeiter*innenklasse, und für die meisten Aktivist*innen sowieso, stand nicht die Frage, ob der Sozialismus erreicht werden muss, sondern wie er erreicht werden kann, im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Seit dem Generalstreik der französischen Arbeiter*innenklasse im Mai 1968 gab es in den darauffolgenden Jahren in verschiedenen Ländern revolutionäre Situationen und Chancen den Kapitalismus zu stürzen. Die dominierenden Strömungen in der Arbeiter*innenbewegung, Reformismus und Stalinismus, konnten in der Praxis beweisen, ob sie richtig oder falsch lagen. Ein ums andere Mal musste die Arbeiter*innenklasse für die Fehler ihrer Führungen bezahlen. In Chile zeigte sich mit dem Pinochet-Putsch 1973 die Unmöglichkeit eines parlamentarischen Übergangs zum Sozialismus. In der portugiesischen Nelkenrevolution von 1974 zeigte sich, dass selbst die Verstaatlichung von Banken und Großkonzernen nicht ausreicht, wenn nicht die Arbeiter*innenklasse selber durch eigene Machtorgane die Gesellschaft in die eigenen Hände nimmt. Wird der kapitalistische Staatsapparat nicht aufgelöst und durch einen neuen demokratischen Staat der Arbeiter*innenklasse ersetzt, können sich auch solche Verstaatlichungsmaßnahmen als vorübergehende Maßnahmen zur Betäubung der Massen herausstellen.

Auch die Mitterand-Regierung, eine Koalition aus Sozialistischer und Kommunistischer Partei, die 1981 in Frankreich an die Regierung gewählt wurde, bestätigte die Grenzen reformistischer Politik. Mit einem weitreichenden Reformprogramm auf einer Welle der Begeisterung in die Regierung gekommen, dauerte es keine zwei Jahre bis Mitterand unter dem Druck des französischen Kapitals eine Kehrtwende vollzog und sein Reformprogramm fallen ließ.

Gegen Stalinismus

Genauso entschieden sprach sich VORAN gegen Illusionen in und unkritische Unterstützung für die nichtkapitalistischen Staaten aus. Basierend auf der Analyse Leo Trotzkis und der Linken Opposition in der Sowjetunion in den 20er und 30er Jahren verteidigten wir zwar die wirtschaftlichen Grundlagen dieser Staaten, also Staatseigentum, Planwirtschaft und staatliches Außenhandelsmonopol. Gleichzeitig gaben wir keinen Millimeter Unterstützung für die politischen Regime der diktatorisch herrschenden Parteibürokratien. Viele Linke, auch manche selbsternannten Trotzkist*innen, hatten immer wieder die Hoffnung, dass sich aus diesen Regimen selbst eine Entwicklung hin zum Sozialismus ergeben könnte. Immer wenn verschiedene dieser Regime in Konflikt mit der Sowjetunion gerieten, machten sich Hoffnungen breit, dies könne ein Bruch mit den stalinistischen Methoden sein. Ob Jugoslawien, Albanien oder China – Tito, Hoxha und Mao wurden zu den neuen Hoffnungsträgern all der Kräfte, die kein Vertrauen in die Kapazität der Arbeiter*innenklasse, selbstständig eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, hatten. Ähnliche Illusionen entwickelten sich in Castros Kuba oder Ho-Chi-Mins Vietnam. VORAN dagegen bestand darauf, diese Gesellschaften auf Basis ihres Inhalts und nicht des Etiketts zu bewerten. Ausgangspunkt war und ist die Überzeugung Rosa Luxemburgs, dass „das Wesen der sozialistischen Gesellschaftsordnung darin besteht, dass die große arbeitende Masse aufhört, eine regierte Masse zu sein, vielmehr das ganze politische und wirtschaftliche Leben selbst und in bewusster freier Selbstbestimmung lenkt.“ Oder in den Worten Trotzkis: „Sozialismus braucht Demokratie, wie der menschliche Körper Sauerstoff, um zu atmen.“

Auch zu Zeiten, als die stalinistischen Staaten wirtschaftlich noch im Aufschwung waren, wies VORAN darauf hin, dass die bürokratische Leitung der Gesellschaft eine Fessel für die ökonomische und soziale Entwicklung dieser Staaten war und sagte wirtschaftlichen Niedergang voraus. Wir betonten, dass Misswirtschaft, Korruption, Fehlplanung unvermeidlich waren und erklärten, dass je komplexer eine Volkswirtschaft wird, desto unmöglicher es wird diese bürokratisch von oben nach unten zu planen.

Als Mitte der 80er Jahre viele Kräfte ihre Hoffnungen auf Gorbatschows Reformkurs setzten, veröffentlichte VORAN eine Broschüre, in der erklärt wurde, dass Gorbatschows Politik der Versuch ist, durch Reformen von oben eine Revolution von unten zu verhindern. Gleichzeitig erklärten wir, dass die Einführung von Marktelementen in der Ökonomie nicht zu mehr Effizienz, sondern zu einer Verbindung der negativen Aspekte von bürokratischer Planung und Marktgesetzen führen wird.

VORAN trat immer für die Entmachtung der stalinistischen Regime durch eine politische Revolution der Arbeiter*innenklasse ein und unterstützte alle Bewegungen in diese Richtung, wie die Solidarnosc-Bewegung 1980/ 81, als VORAN-Aktivist*innen nach Polen reisten, um die Streikbewegung der polnischen Arbeiter*innenklasse zu unterstützen und zu helfen, eine Basis für marxistische Ideen aufzubauen.

Erste Aufbau-Phase

Richtige Ideen und Perspektiven führen nicht automatisch zu Erfolgen beim Organisationsaufbau. Diese Erfahrung mussten auch die VORAN-Aktiven in den 70er Jahren machen. In mancherlei Hinsicht erschien VORAN etwas zu spät innerhalb der Jusos, denn der moskauorientierte Stamokap-Flügel konnte sich frühzeitig als der „marxistische“ Teil der Jungsozialist*innen in der SPD etablieren. Zwischen den übermächtigen Apparaten von Reformismus und Stalinismus war es für eine kleine Gruppe auch schwer sich zu behaupten. Hinzu kamen sicherlich eigene Schwächen und Unzulänglichkeiten, die sich in einer oft etwas amateurhaften Aufmachung der ersten Ausgaben der Zeitung und der immer wieder unregelmäßigen Erscheinungsweise ausdrückten. Es kann auch sein, dass die Orientierung auf die Arbeit innerhalb der Jusos insofern übertrieben wurde, als dass Möglichkeiten, die sich innerhalb des Jugendverbands „Die Falken“ auftaten, nicht konsequent genutzt wurden und zu sehr darauf orientiert wurde, innerhalb der Jusos neue Mitstreiter*innen zu gewinnen, statt bisher unorganisierte Jugendliche und Arbeiter*innen anzusprechen. 

Bis zum Anfang der 80er Jahre gelang der VORAN-Gruppe nur, einen Kern von einigen Dutzend überzeugten und aktiven Mitgliedern zu festigen und die Zeitung in Teilen der Arbeiter*innenbewegung bekannt zu machen. In den Jusos konnten VORAN-Unterstüzer*innen zeitweilig in Remscheid die Mehrheit im Vorstand erobern. Dort traten sie für eine Orientierung auf die betrieblichen und gewerkschaftlichen Kämpfe, wie zum Beispiel die Stahlstreiks 1979, ein. Gleichzeitig wurde Mitte der 70er Jahre eine erfolgreiche Solidaritätskampagne für den Aufbau der spanischen Jusos (vor und nach Ende der Franco-Diktatur) durchgeführt. Die 70er Jahre dienten aber in erster Linie dazu, Programm und Perspektiven von VORAN zu entwickeln und den Grundstein für den Aufbau der Organisation zu legen.

80er Jahre

Unter dem Eindruck der Wirtschaftsrezession der frühen 80er Jahre, des Sturzes der SPD-geführten Bundesregierung und dem Beginn der Kanzlerschaft Kohls waren Zehntausende in die Jusos eingetreten. Ereignisse wie die Streiks in der Druck- und Metallindustrie für die Einführung der 35-Stunden-Woche im Jahr 1984 drückten aus, dass die Radikalisierung der 70er Jahre noch kein Ende gefunden hatte. Dies führte auch zur Annahme linker Positionen in Teilen der SPD und der Gewerkschaften. So hat sich die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA)  innerhalb der SPD 1983 für die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien ausgesprochen. 1988 konnte VORAN in einem Artikel zur 100. Ausgabe schreiben: „Die Zeiten haben sich geändert. Gewerkschaftsbeschlüsse zur Überführung von Schlüsselindustrien in Gemeineigentum zeigen, dass die Erfahrung vieler Arbeiter jetzt allmählich in die Richtung weist, die VORAN von Anfang an vertreten hat.“ Konfrontiert mit der arbeiter*innenfeindlichen Offensive von Kohl-Regierung und Kapital gab es in Teilen der Arbeiter*innenklasse eine Linksentwicklung, die sich zum Beispiel auch in der Wahl des „linken“ Oskar Lafontaine zum saarländischen Ministerpräsidenten mit absoluter Mehrheit im Jahr 1985 ausdrückte. Schon vor der Regierungsübernahme Kohls hatten sich die Friedens- und die Anti-AKW-Bewegung entwickelt, die sich gegen die Politik der Schmidt-Regierung wandten und aus denen heraus sich die Grünen als vierte Partei im bundesrepublikanischen Parteiensystem entwickelten. Innerhalb weniger Jahre konnten die Grünen eine starke parlamentarische und außerparlamentarische Position erlangen. VORAN nahm von Anfang an klar Stellung gegen Aufrüstung, NATO-Doppelbeschluss und Atomenergie. Die Entwicklung der Grünen führte in der gesamten Linken, so auch unter den VORAN-Mitgliedern, zu starken Diskussionen. VORAN charakterisierte die Grünen als eine kleinbürgerliche Bewegung, die vor allem Studierende, Teile der Mittelschichten und gehobene Lohnabhängige ansprach und deren Programm und Ausrichtung es unmöglich machte, dass sie breite Unterstützung innerhalb der Arbeiter*innenklasse erlangen konnte. VORAN hielt an der Notwendigkeit der Orientierung auf die Arbeiter*innenklasse als einziger gesellschaftlicher Kraft mit dem Potenzial, den Kapitalismus abzuschaffen und eine sozialistische Demokratie aufzubauen, fest. Während viele andere Linke, darunter auch einige trotzkistische Gruppen, in die Grünen eintraten und sich darin teilweise auflösten, hielt VORAN an der Arbeit in Jusos und SPD und an der eigenen unabhängigen Organisierung fest. Schon Mitte der 80er Jahre wurde die Entwicklung der Grünen zu einer systemkonformen bürgerlichen Partei vorhergesagt. So schrieben wir im April 1988: „Und eigentlich ist das Programm der Grünen nicht mal ein Ausweg aus der Misere. (…) Selbst wenn man die positiven Forderungen herausgreift, bleibt der Weg offen, wie sie durchgesetzt werden sollen. Auf der Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft können sie nicht durchgesetzt beziehungsweise abgesichert werden. Nötig ist eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft. Aber das wollen die Grünen nicht, sie haben kein sozialistisches Programm. Die Konsequenz wird sein, dass sich die Grünen, dort wo sie in die Regierungsverantwortung kommen, immer mehr in die kapitalistischen Sachzwänge verstricken, bis schließlich kein Unterschied ist zu rechtssozialdemokratischer Politik.“

In den 80ern gelang der VORAN-Gruppe dann auch ein deutliches Mitgliederwachstum. Zwischen 1982 und 1985 wuchs die Gruppe von 50 auf 250 Mitglieder an und verfügte nun über Gruppen in einer Reihe von Städten. Ein wichtiger Faktor bei der Mitgliedergewinnung war eine bundesweit durchgeführte Solidaritätskampagne mit den britischen Bergarbeitern, die sich 1984/85 im Streik befanden. Mehrmals wurden Vertreter der streikenden Kumpel zu Veranstaltungsreisen nach Deutschland eingeladen und es wurden 40.000 Mark für die Unterstützung des Streiks gesammelt. Durch diese Kampagne konnten sowohl neue linke Aktivist*innen aus den Jusos als auch bis dahin politisch unorganisierte Jugendliche und Arbeiter*innen für VORAN gewonnen werden.

Jugend

Wir haben die Jugend immer als eine wichtige Kraft für den Aufbau einer revolutionär-sozialistischen Organisation in der Bundesrepublik betrachtet. Junge Menschen reagieren oft schneller und sensibler auf gesellschaftliche Veränderungen, sind dynamischer und werden nicht durch familiäre Verpflichtungen, Zukunftssorgen oder ähnlichem vom politischen Kampf zurückgehalten. Nicht selten in der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung haben Jugendliche die Initialzündung für große Kämpfe gegeben oder revolutionäre Bewegungen geprägt. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind wohl die junge Zusammensetzung der bolschewistischen Partei zum Zeitpunkt der russischen Oktoberrevolution und die französische Studierendenbewegung im Mai 1968, die Auslöser des größten Generalstreiks in der Geschichte Frankreichs war und eine revolutionäre Lage zur Folge hatte.

VORAN, SAV und Sol haben deshalb immer einen wichtigen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die Arbeit unter Jugendlichen gelegt. Ob bei den Jusos, der SPD-nahen Jugendorganisation „Die Falken“, der Gewerkschaftsjugend, ob in Schulen, Hochschulen und Lehrwerkstätten oder später bei Jugend gegen Rassismus in Europa (JRE), widerstand international, in Schüler*innenstreikkomitees, bei linksjugend [‘solid] oder jetzt bei Jugend für Sozialismus (JfS).

Die Jahre 1986/87 sahen in Frankreich und Spanien Massenbewegungen von Schüler*innen gegen Angriffe auf das Bildungswesen. Auch in der Bundesrepublik plante die Regierung unter dem Stichwort „Abi-Deform“ 1987, die Elitebildung an den Gymnasien voranzutreiben. Auch hier formierte sich unter dem Slogan „Paris, Madrid, Düsseldorf (beziehungsweise jede x-beliebige Stadt, wo eine Demonstration stattfand) zieht mit!“ breiter Widerstand. Dies war von uns erwartet worden und wir hatten uns über Monate auf eine Schüler*innenbewegung vorbereitet, was uns in die Lage versetzte, diese in einigen Orten anzustoßen und zu führen. So konnten VORAN-Aktivist*innen in Aachen einen Schülerstreik mit 1500 Beteiligten anstoßen, in Stuttgart waren es sogar über 5000 Schüler*innen, die auf eine Initiative von VORAN hin die Griffel fallen ließen. In Stuttgart konnte 1989 durch einen Schüler*innenstreik mit 15.000 Teilnehmer*innen die Streichung von Lehrer*innenstellen verhindert werden. Dabei versuchten wir immer die Selbstorganisation von Jugendlichen voran zu treiben, wie zum Beispiel in Stuttgart, wo wir die Gründung des Stuttgarter Schülerrates mit veranlassten. Auch in der Schüler*innenbewegung haben wir Internationalismus konkret gemacht und zum Beispiel eine Rundreise mit einer Vertreterin der spanischen Schüler*innengewerkschaft organisiert.

Diese starke Verankerung von VORAN unter Schüler*innen ermöglichte es uns, 1991 auch viele Schüler*innenstreiks gegen den Golfkrieg anzustoßen und viele Schüler*innen zu Aktionen gegen Rassismus und Faschismus zu mobilisieren.

Betriebliche Kämpfe

Betriebliche und gewerkschaftliche Aktivitäten und Solidaritätsarbeit mit kämpfenden Belegschaften bildete immer einen weiteren Schwerpunkt unserer Arbeit. Als es zu Beginn der 80er Jahre zu einer Welle von Betriebsbesetzungen kam, organisierten wir konkrete Solidaritätsarbeit zum Beispiel mit den Belegschaften von Videocolor in Ulm und der HDW-Werft in Hamburg.

1987 kam es dann im Duisburger Stadtteil Rheinhausen zum Arbeitskampf der Krupp-Belegschaft gegen die Schließung ihres Stahlwerks. Dieser 160 Tage dauernde Kampf erschütterte nicht nur das Ruhrgebiet, wo es zu einem faktischen Generalstreik im Dezember 1987, zu Autobahnblockaden und Großdemonstrationen kam, sondern die ganze westdeutsche Republik. Obwohl VORAN keine Ortsgruppe in Duisburg hatte, erreichten wir durch unsere politischen Vorschläge und unsere praktische Solidaritätsarbeit eine große Anerkennung unter Aktivist*innen des Rheinhauser Arbeitskampfes. Wir erarbeiteten eigens ein Programm für den Erhalt der Stahlindustrie, das in der Forderung nach Verstaatlichung der Branche bei demokratischer Verwaltung und Kontrolle durch Belegschaften, Gewerkschaften und Staatsvertreter*innen gipfelte. Dabei konnten wir uns auf die wachsende Unterstützung für die Forderung nach Verstaatlichung des Krupp-Werks unter vielen Kolleg*innen stützen. Ähnliche Solidarität organisierten wir für die Belegschaft der Zeche Sophia Jacoba in Hückelhoven und für andere Betriebe.

In all diesen Fällen haben wir dafür argumentiert, dass solche Kämpfe nicht isoliert gewonnen werden können. Oftmals haben wir Solidaritätskomitees gegründet und sind für die Ausdehnung der Kämpfe auf andere Betriebe eingetreten. Wir haben auch immer ein Programm für das Überleben des betroffenen Betriebes oder der betroffenen Branche entwickelt und unmittelbare Kampfforderungen damit verbunden zu erklären, dass kein Betrieb und kein Arbeitsplatz sicher ist, solange er der Verfügungsgewalt des Kapitals unterliegt. Schon frühzeitig hat VORAN den Trend zur Privatisierung öffentlichen Eigentums aufgegriffen und bekämpft. Ende der 80er Jahre war beispielsweise eine Kampagne gegen die Zerschlagung der Bundespost in drei Teile (Telekom, Gelbe Post und Postbank) ein wichtiger Schwerpunkt unserer Arbeit, weil wir diese Dreiteilung als Vorstufe zur Privatisierung erkannt haben.

Zwischenbilanz

Zum Ende der 80er Jahre hatte sich die VORAN-Gruppe in der Arbeiter*innenbewegung und der Jugend einen Namen gemacht. Die Zeitung erschien mittlerweile als zwölfseitige Monatszeitung. 1988 wurde auch eine eigene kleine Druckerei eingerichtet. Der Einfluss innerhalb der Jusos wuchs. In Stuttgart konnte 1987 die Mehrheit im örtlichen Juso-Vorstand gewonnen werden (bis 1995 folgten Aachen, Bremerhaven, Kassel, Siegen, Rostock und der Landesverband Bremen). Es war gelungen, auf örtlicher Ebene eine Reihe wichtiger Kampagnen und Proteste zu organisieren. Neben den schon erwähnten Schüler*innenprotesten und der Kampagne gegen die Privatisierung der Post waren das zum Beispiel Kampagnen gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr in Stuttgart (das alljährliche „Schwarzfahrerfest“ zog bis zu eintausend Besucher*innen an), gegen die Schließung einer Jugendkneipe in Bremerhaven, für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum und gegen verschiedene Nazi-Mobilisierungen in Aachen. Trotz dieser Erfolge wirkte VORAN als eine Propagandagruppe, die nur begrenzten Einfluss auf den Gang von Ereignissen und den Verlauf von Bewegungen nehmen konnte, weil die Dominanz der reformistischen und stalinistischen Strömungen in der Arbeiter*innenbewegung und der Jugend dies verhinderten.

DDR 89/90

Unsere ostdeutsche Geschichte beginnt leider erst im Jahr 1988, als einzelne VORAN-Mitglieder begannen, tageweise nach Ost-Berlin zu fahren, um die dortige Situation besser einschätzen zu können und erste Kontakte zu knüpfen. Zum damaligen Zeitpunkt, als erste oppositionelle Aktivitäten bekannt wurden, schrieben wir: „Auf … ‘reformerische’ Teile der Bürokratie kann die Opposition nicht bauen. Auch in der DDR ist die entscheidende Kraft die Arbeiterklasse. Wenn in den nächsten Jahren zu der politischen Unterdrückung auch noch der ökonomische Druck kommt, werden die Arbeiter in Aktion treten. Dann ist die Chance gegeben, die Bürokratie zu stürzen und eine echte Arbeiterdemokratie aufzubauen.“ Mit der Massenbewegung, die sich im Herbst 1989 in der ganzen DDR entwickelte, kam diese Chance schneller als erwartet.

Der Massenaufstand gegen die stalinistischen Diktaturen war eine Bestätigung der Ideen, die VORAN über Jahre vertreten hatte. Uns war klar, dass die Arbeiter*innenklasse mit den herrschenden Bürokratien in Konflikt geraten musste, wie dies in den Jahrzehnten zuvor schon in der DDR (1953), Ungarn (1956), der Tschechoslowakei (1968) und Polen (1980/81) geschehen war. Wir erkannten in der Bewegung von 1989 das Potenzial für eine politische Revolution, die die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße gestellt hätte und zu einer sozialistischen Demokratie hätte führen können. Gerade der Beginn der Bewegung bestätigte uns in dieser Einschätzung. Während die Massenausreisen nach Westdeutschland zwar die Illusionen in die Marktwirtschaft ausdrückten, die einen Teil der DDR-Bevölkerung erfasst hatten, wurden ab Oktober 1989 die Parolen „Wir bleiben hier!“ und „Wir sind das Volk“ bestimmend. Pro-kapitalistische Ideen und auch Forderungen nach einer deutschen Einheit auf Grundlage des BRD-Systems waren zu Beginn der Massenbewegung nur schwach vertreten. Als Christa Wolf auf der Demonstration von einer Million Menschen am 4. November 1989 in Ostberlin ausrief „Dies ist eine sozialistische Demonstration“ erntete sie massenhaften Applaus. Doch ohne ein Programm zur Errichtung eines demokratischen Rätesystems und ohne eine revolutionäre Partei an ihrer Spitze wurde die revolutionäre Bewegung in ein pro-kapitalistisches Fahrwasser gelenkt. Diese Wende haben wir zu spät erkannt. Zu lange hielten wir eine Restauration kapitalistischer Verhältnisse in der Sowjetunion und Osteuropa insgesamt und damit auch eine Vereinigung von BRD und DDR auf kapitalistischer Grundlage für nicht möglich. Aufgrund dieser Fehleinschätzung hat VORAN Anfang 1990  für einige Wochen fehlerhafte Parolen aufgeworfen, was innerhalb der Organisation zu heftigen Debatten führte. Als klar wurde, dass die revolutionäre Bewegung in eine Konterrevolution umschlug, haben wir gegen einen Anschluss der DDR an die kapitalistische Bundesrepublik gekämpft und die Planwirtschaft in Ostdeutschland verteidigt. Wir argumentierten gegen die Währungsunion und schrieben: „Massenarbeitslosigkeit von 5-6 Millionen, Inflation und Angriffe auf soziale Errungenschaften bisher nicht gekannten Ausmaßes – das wäre das Szenario, das sich aus einer schnellen Einführung der Währungsunion ergeben würde.“ (März 1990) Unsere Warnungen wurden durch den Gang der Ereignisse bestätigt. Die Zerschlagung der Planwirtschaft hat für die ostdeutsche Arbeiter*innenklasse Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit und Abbau der sozialen Sicherung bedeutet.

Im Zuge der revolutionären Bewegung konnte aber eine erste Basis in der DDR aufgebaut werden. Eine Gruppe von Genoss*innen aus dem Büro des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale und eine Reihe von VORAN-Mitgliedern aus Westdeutschland gingen nach Berlin, um in die revolutionären Ereignisse einzugreifen und eine erste Gruppe in der DDR zu bilden. Anfangs noch unter großen Sicherheitsvorkehrungen, weil unklar war, ob sich die stalinistische Diktatur wieder fangen würde, waren wir aber nicht in der Lage, den Gang der Ereignisse zu beeinflussen. In den stürmischen Zeiten einer revolutionären Bewegung ist es nicht möglich, eine revolutionäre Organisation völlig neu zu etablieren und zu einer starken Kraft aufzubauen. Hätte es schon im Sommer 1989 einige hundert oder tausend trotzkistische Aktivist*innen gegeben, hätten diese Masseneinfluss gewinnen, um die Führung in der Bewegung kämpfen und den Gang der Ereignisse beeinflussen können.

Die Sicherheitsvorkehrungen erschienen zwar berechtigt, als sich später herausstellte, dass uns die Stasi ins Visier genommen hatte. Sie führten aber auch immer wieder zu Situationen, die rückblickend als lustige Anekdoten erscheinen, damals aber ausdrückten, dass jahrelange Arbeit unter Verhältnissen der parlamentarischen Demokratie keine gute Vorbereitung auf halb-klandestine Arbeit ist. Jede*r Aktivist*in musste sich zum Beispiel einen Tarnnamen zulegen. Leider passierte es allzu oft, dass diese vergessen wurden. So geschah es, dass eine Genossin einem Interessenten ihren Freund vorstellte. Als dieser dann fragte „wie heißt denn Dein Freund?“ fiel der Genossin der Tarnname nicht ein und sie antwortete ‘wahrheitsgemäß’: „Das weiß ich nicht!“ Dass wir uns untereinander in demselben Gespräch mit verschiedenen Namen ansprachen, war eine der Folgen dieser Unerfahrenheit.

Unter den Bedingungen der rasend schnellen Ereignisse musste unsere junge Gruppe in der DDR sehr flexibel agieren. Zu Beginn kam eine ähnliche Taktik wie in Westdeutschland – Arbeit in einer Massenorganisation – nicht in Frage und wir agierten unter dem Namen „Marxisten für Rätedemokratie“. Zu Beginn des Jahres 1990 begann die ostdeutsche Gruppe dann mit der Herausgabe der Zeitung „Was tun!“. Ortsgruppen bestanden in Berlin und Rostock. Als sich nach der Währungsunion eine Schicht linker Jugendlicher und Aktivist*innen der PDS zuwendete, weil diese als einzige größere Kraft gegen einen völligen Ausverkauf der Errungenschaften der DDR in Erscheinung trat, ging die Gruppe diesen Weg mit und arbeitete kurzzeitig in der PDS-Jugendorganisation „AG Junge GenossInnen“. Später im Jahr 1990 wurden dann die westdeutsche und ostdeutsche Organisationen des CWI zu einer einheitlichen Sektion des CWI in dem vereinigten Deutschland fusioniert. Als die PDS dann dramatisch an Unterstützung verlor und sich die AG Junge GenossInnen leerte, begannen auch die ostdeutschen Gruppen Arbeit in der Sozialdemokratie, so dass nun im ganzen Land einheitlich aufgetreten wurde. Angesichts der Entwicklung, die die SPD schon genommen hatte und der spezifischen Rolle, die sie in Ostdeutschland spielte, war dies ein Fehler, der aber auch relativ schnell korrigiert wurde.

90er Jahre – neue Weltlage

Die Wiedereinführung des Kapitalismus in den vormals stalinistischen Staaten der Sowjetunion und Osteuropas war ein historischer Wendepunkt von sehr weitreichendem Ausmaß. Es war ein Triumph für die Kapitalist*innen weltweit und ein herber Rückschlag für die Arbeiter*innenbewegung und alle Kräfte, die eine Alternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft anstrebten. Die Kapitalist*innen gingen in die Offensive, sowohl ideologisch als auch auf der ökonomischen Ebene. Bürgerliche Philosophen erklärten das „Ende der Geschichte“ und meinten, dass sich der Kapitalismus als letzte und ewig währende Gesellschaftsformation durchgesetzt habe. Der CDU-Mann Norbert Blüm fasste seine Begeisterung in dem Satz „Marx ist tot, Jesus lebt“ zusammen. Kapitalistische Globalisierung und Neoliberalismus, die schon seit Ende der 70er Jahre auf dem Vormarsch waren, erhielten einen neuen Schub. Während der 90er Jahre geriet die Arbeiter*innenklasse in die Defensive und die Kapitalist*innen konnten unter anderem durch eine Privatisierungsoffensive und eine verstärkte Ausbeutung der Arbeiter*innenklasse (Produktivitätssteigerungen bei gleichzeitiger Stagnation der Reallöhne) ihre Profitraten steigern. Der damalige US-Präsident George „Papa“ Bush rief die „neue Weltordnung“ aus, nachdem er den ersten Krieg gegen den Irak gewonnen hatte. Eine solche bedeutende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, noch dazu eine negative für die Arbeiter*innenbewegung und die Linke, warf viele völlig neue Fragen auf. Dinge, die über viele Jahre als unveränderbar oder unmöglich erschienen, geschahen nun. Es war unvermeidbar, dass diese Veränderungen auch innerhalb von VORAN und unserer internationalen Organisation, dem Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI), zu Debatten und Meinungsverschiedenheiten führten.

Neue Methoden vs. Dogmatismus

Die ideologische Offensive des Kapitals wirkte bis tief in die Arbeiter*innenorganisationen hinein. Viele linke Aktivist*innen, gerade solche, die Illusionen in die Sowjetunion und die DDR hatten, zogen sich zurück. Linke Strukturen brachen zusammen. In Gewerkschaften und SPD sank die Zahl der Aktiven und es vollzog sich ein dramatischer Rechtsruck, dem nur wenig entgegengesetzt wurde.

Die SPD-Führung konnte schon bei der kapitalistischen Vereinigung von BRD und DDR ihre Rolle als Vertretung des Kapitals innerhalb der Arbeiter*innenbewegung ausspielen und war eine treibende Kraft bei der Einführung kapitalistischer Verhältnisse in Ostdeutschland. In der Partei waren immer weniger Jugendliche und Arbeiter*innen aktiv, die Ortsvereine wurden zunehmend von Rechtsanwält*innen, Studienräten, Akademiker*innen und Selbstständigen dominiert. Auf kommunaler und auf Landesebene setzte die SPD mit größter Entschiedenheit Sozialabbau, Privatisierungen und Arbeitsplatzvernichtung durch. Jugendliche und Arbeiter*innen, die in Kämpfe eintraten, kamen vermehrt mit der SPD in Konflikt. Dementsprechend zog es Aktivist*innen kaum mehr in die Partei, sondern sie gerieten mehr und mehr in Opposition zu ihr. Dies war eine Erfahrung die die VORAN-Mitglieder in ihrer täglichen Arbeit machten. Während bis zum Ende der 80er Jahre die Arbeit bei den Jusos ein großer Vorteil war, um Arbeiter*innen und Jugendliche zu erreichen, kehrte sich dies immer mehr ins Gegenteil um. Dies warf mehr und mehr die Frage auf, wie weiter gearbeitet werden sollte.

Der Rechtsverschiebung und Entleerung der SPD entsprach eine ähnliche Entwicklung in den sozialdemokratischen Parteien international. Die Frage der Arbeitsweise wurde auch in anderen Sektionen des CWI diskutiert. In Schottland hatte die CWI-Sektion (Militant) in den Jahren zuvor eine Massenbewegung gegen die Poll Tax (Kopfsteuer) geführt, die durch einen millionenfachen Steuerboykott und Massenmobilisierungen die Premierministerin Margaret Thatcher zum Rücktritt zwang. Auch hier stellten die Genoss*innen fest, dass es unmöglich war, den Aktivist*innen der Anti-Poll-Tax-Bewegung vorzuschlagen, in der Labour Party aktiv zu werden und dort Militant als den marxistischen Flügel zu unterstützen. Die schottischen Nationalist*innen der SNP, die sich ein linkes Image gaben, versuchten davon zu profitieren. Die schottischen Militant-Genoss*innen entschieden daraufhin, eine offene Organisation außerhalb der Labour Party zu gründen und eigenständig bei Wahlen zu kandidieren. Diese Frage führte zu einer kontroversen Debatte im gesamten CWI. Sie wurde zur wichtigsten, aber nicht einzigen, Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Strömungen, die mit einer völlig unterschiedlichen Methode an die veränderte Situation herangingen. Die internationale Mehrheit (der auch in Großbritannien und Deutschland die Mehrheit entsprach) stand für eine flexible Reaktion auf die neuen Bedingungen, während die Minderheit starr an den alten Konzepten und Methoden, wie der Arbeit in den sozialdemokratischen Parteien, festhielt. Lenins Hinweis, dass der „Marxismus eine Anleitung zum Handeln, kein Dogma“ ist, wurde von diesen Genoss*innen missachtet und es kam zu einer Spaltung, die auch für die VORAN-Gruppe zwar einen quantitativer Rückschlag, aber eine politische Befreiung bedeutete. Befreit von den Fesseln eines Konservatismus, der auch unter Revolutionär*innen häufig anzutreffen ist, ging man an die neuen Aufgaben in den 90er Jahren.

Erfolg ist relativ

Während sich die Mitgliedschaft der VORAN-Gruppe in den 80er Jahren versiebenfacht hatte, musste Erfolg unter den Bedingungen von Rückzug der Arbeiter*innenbeweung und niedrigem Niveau von Klassenkämpfen in den 90er Jahren anders gemessen werden. Die wichtigste Aufgabe war die Verteidigung und Weiterentwicklung des Marxismus. Wenn wir erklärten, dass „der Kapitalismus nicht gesiegt hat, sondern nur übrig geblieben ist“ und darauf hinwiesen, dass eine neue langanhaltende Aufschwungphase des Kapitalismus ähnlich des Nachkriegsaufschwungs ausgeschlossen war; wenn wir erklärten, dass sich die kapitalistische Wirtschaft stattdessen in einer langgezogenen Niedergangsphase befindet und seine Krisenhaftigkeit nicht überwinden kann und wenn wir die Idee einer demokratisch geplanten Wirtschaft verteidigten, gewannen wir über viele Jahre wenig Gehör und mussten gegen den Strom schwimmen. Unter solchen Bedingungen ist es ein Erfolg, wenn man die in einer vorherige Phase gesammelten Kräfte zusammen halten kann. Das gelang uns mehr als anderen Kräften, die sich auf den Marxismus beriefen. Und wir haben es erfolgreich geschafft, uns auf die Schichten von Arbeiter*innen und Jugendlichen zu orientieren, die sich radikalisierten und aktivierten und konnten viele der Besten für unsere Organisation gewinnen.

Jugend gegen Rassismus in Europa (JRE)

Eine dramatische Erscheinung des vereinigten Deutschlands war eine starke Zunahme von staatlichem Rassismus und faschistischen Aktivitäten. Politiker*innen von SPD und CDU/CSU wollten mit dem Märchen von der „Asylantenflut“ von ihrer eigenen Verantwortung für die sozialen Probleme ablenken. Faschistische Gruppierungen spürten durch diese staatliche Politik, nicht zuletzt durch die Debatte über die drastische Einschränkung des Asylrechts, Rückenwind und gingen in die Offensive. Brandanschläge und Pogrome gegen Asylbewerber*innenheime und Wohnungen von Migrant*innen, Übergriffe gegen Nichtdeutsche, Schwarze, Obdachlose, Behinderte und Antifaschist*innen gehörten innerhalb kürzester Zeit zum Standardprogramm der Tagesschau. Hoyerswerda, Mölln, Rostock, Solingen – die Namen dieser Städte werden noch lange mit den Morden an Migrant*innen durch Nazi-Banden verbunden bleiben. Der Kampf gegen Faschismus und Rassismus rückte in den Mittelpunkt des politischen Engagements vor allem von Jugendlichen. VORAN und das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale ergriffen daraufhin die Initiative für eine internationale Demonstration in Brüssel gegen Rassismus und Faschismus, die für den 24. Oktober 1992 unter der Kampagne „Jugend gegen Rassismus in Europa (JRE)“ ausgerufen wurde. Wir rechneten mit 5000 Teilnehmer*innen und waren selbst von der riesigen Resonanz auf die Kampagne und die Demonstration überrascht. 5000 kamen alleine aus Deutschland, 40.000 waren es aus dreizehn verschiedenen Ländern Europas. Doch die Jugendlichen, die sich unter dem Banner „Jugend gegen Rassismus in Europa“ zusammengefunden hatten, wollten nicht nur einmal demonstrieren, sondern den Nazis dauerhaft etwas entgegensetzen. Deshalb entwickelten wir den Vorschlag, aus der Demo-Kampagne eine Jugendorganisation zu machen. Schon im November 1992 fand die bundesweite Gründungskonferenz von JRE statt, an der knapp 200 Jugendliche teilnahmen. In den nächsten Jahren entwickelte sich JRE zu der erfolgreichsten antirassistischen Jugendorganisation mit Gruppen in über fünfzig Städten. Lokal und bundesweit wurden Nazi-Aktivitäten verhindert, Demonstrationen gegen Abschiebungen und staatlichen Rassismus durchgeführt, der internationale Austausch unter Antifaschist*innen gefördert. JRE entwickelte erfolgreiche Outing-Kampagnen von örtlichen Nazi-Fuktionären und mobilisierte immer wieder zu Demonstrationen und Aktionen vor den Wohnungen solcher Faschisten. Zweimal konnte erfolgreich der NPD-Bundesparteitag verhindert werden (einmal führte die JRE-Kampagne zu einem polizeilichen Verbot, ein zweites Mal belagerten wir die Nazis so lange, bis sie den Parteitag abbrechen mussten). Der JRE-Ordner*innen- und Sanitätsdienst spielte eine wichtige Rolle beim Schutz von Demonstrationen. 1994 nahmen über 400 Jugendliche an der JRE-Bundeskonferenz und 1200 am internationalen JRE-Anti-Nazi-Camp teil. JRE gab der Massenbewegung gegen Rassismus und Faschismus einen organisierten Ausdruck. JRE verstand sich aber nie als ausschließliche Antirassismus-Organisation. Großer Wert wurde auf den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit, Sozialabbau, Perspektivlosigkeit und dem Anwachsen rechtsextremer Gruppierungen gelegt. Deshalb verbreitete JRE ein antikapitalistisches Programm und forderte unter anderem „eine Gesellschaft in Deutschland, Europa und weltweit, in der die Produktion nicht am Profit, sondern an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet ist. Nur durch die demokratische Kontrolle der ArbeitnehmerInnen über die Wirtschaft kann eine Gesellschaft entstehen, in der die Bedingungen für die Ausbreitung von Rassismus, Arbeitslosigkeit, Armut, Umweltzerstörung und Krieg beseitigt sind“.

Ende 1994 und 1995 wurden die Nazis erfolgreich zurückgedrängt. Der Staat musste auch auf die antifaschistische Massenbewegung reagieren und verbot mit der FAP und Wiking-Jugend einige faschistische Gruppen. Das führte zwar nur zu einer vorübergehenden Schwächung der faschistischen Organisationen, bewirkte aber auch einen Rückgang der antifaschistischen Bewegung, die auch JRE betraf. Ein Teil der JRE-Mitglieder war mittlerweile bei VORAN eingetreten und von der Notwendigkeit einer sozialistischen Perspektive überzeugt worden, ein anderer Teil hatte aus dem Rückgang der Massenbewegung zynische Schlussfolgerungen gezogen und sich der autonomen antifaschistischen Bewegung genähert, die meisten aber nahmen den Rückgang faschistischer Anschläge einfach zum Anlass, sich in ihr Privatleben zurückzuziehen – Schulabschluss, Ausbildung, Hobbys und Beziehung wurden plötzlich wieder wichtiger. Im Laufe des Jahres 1995 griff JRE immer mehr soziale Themen auf und organisierte zum Ende des Jahres in verschiedenen Städten Jugendstreiks an denen über 15.000 Jugendliche teilnahmen. Aber auch daraus entwickelte sich keine größere Bewegung von Jugendlichen. JRE stützte sich nun fast ausnahmslos auf  CWI-Mitglieder. Andere, vor allem soziale, Themen wurden wichtiger und wir hatten nicht die Ressourcen um sowohl eine lebendige JRE aufrechtzuerhalten und uns gleichzeitig auf die neuen Kämpfe und Bewegungen zu orientieren. Deshalb stellten wir die organisierte JRE-Arbeit zeitweilig ein.

Gründung der SAV 1994

Der Rechtsruck und die Entleerung der SPD waren in den Jahren nach der Vereinigung von BRD und DDR weiter vorangeschritten. Die Jusos wurden immer mehr zum Papiertiger. Die Konzentration der VORAN-Aktivitäten auf die Arbeit bei JRE und auf betriebliche und gewerkschaftliche Kampagnen (vor allem das Eingreifen in den großen Streik des öffentlichen Dienstes 1992 und die Solidaritätskampagne für die Belegschaft des Kalibergwerks Bischofferode) waren auch Ausdruck dieser Entwicklung. Die Jusos verloren rasant ihre Attraktivität für Jugendliche, die auf der Suche nach einer politischen Alternative waren. Wir machten auch gerade innerhalb von JRE die Erfahrung, dass wir den dort engagierten radikalen Jugendlichen nicht mehr vermitteln konnten, warum wir als marxistische Organisation innerhalb von Jusos und SPD agierten. Das führte ab Ende 1993 zu einer Diskussion innerhalb von VORAN, ob man den Weg der schottischen, englisch-walisischen, irischen und schwedischen Schwesterorganisationen folgen solle und eine offene Organisationsstruktur außerhalb der sozialdemokratischen Partei ins Leben rufen soll. Eine VORAN-Konferenz im Mai 1994 beschloss dann nahezu einstimmig die Gründung der SAV – Sozialistische Alternative VORAN (das „VORAN“ wurde anfangs aus Kontinuitäts- und Wiedererkennungsgründen als Teil des Namen verstanden, später aber aus sprachlichen Gründen „entfernt“ – was immer wieder zu der verständlichen Frage führt: „wofür steht denn das ‘V’ in SAV?“).

Damit begann ein neues Kapitel in der Geschichte der Organisation. Unter den Bedingungen der Defensive der Arbeiter*innenbewegung und der Linken drückte die Gründung der SAV den unerschütterlichen Optimismus aus, der Marxist*innen eigen ist – und das tiefe Vertrauen in die Ideen des Marxismus und die Kapazität der Arbeiter*innenklasse, die Gesellschaft zu verändern. Die SAV wurde nicht als marxistischer Theoriezirkel (was „VORAN“ nie war) gegründet, sondern als marxistische Kampforganisation. Der Niedergang vieler linker Kräfte hatte unser spezifisches Gewicht in der Linken schon erhöht, was während der Antkriegsproteste 1991 und durch die JRE-Arbeit deutlich geworden war. Dementsprechend setzte sich die Konferenz zum Ziel, dass „die neue Organisation sich nicht mit einer Beobachterrolle in den kommenden Kämpfen begnügen darf, sondern Teilnehmer und, wo es möglich ist, Führungskraft sein muss.“

Entsprechend dieser Aussage entwickelte die SAV eine rege Kampagnetätigkeit. Neben der antifaschistischen Jugendarbeit spielte Stadtteilarbeit, die Initiierung von lokalen Kämpfen und die Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit eine wachsende Rolle.

1995 kandidierte die SAV zum ersten Mal bei einer Kommunalwahl im „Armenhaus“ Bremerhaven. Im Vorfeld der Wahlen organisierten wir einen erfolgreichen Kampf gegen die Privatisierung der Städtischen Wohnungsbaugesellschaft STÄWOG und gründeten eine Mieter*inneninitiative, die monatelang den Widerstand führte. Die Privatisierung der STÄWOG konnte verhindert werden und bei den Kommunalwahlen erhielt die SAV Bremerhaven 1200 Stimmen (2,3 Prozent).

1996 legte dann die Kohl-Regierung das bis dahin größte Sparpaket in der Geschichte der Bundesrepublik auf. Vor allem die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall stand im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Die SAV brachte sich in die Bewegung gegen das Sparpaket unter anderem mit der Forderung nach einem eintägigen Generalstreik ein und rief die Kampagne „GewerkschafterInnen für Generalstreik“ ins Leben. Damit hatten wir einen großen Anteil daran, dass die Frage eines Generalstreiks zum ersten Mal seit vielen Jahren breit in den Gewerkschaften diskutiert wurde. Wir spielten auch eine wichtige Rolle im „Bündnis Sternmarsch gegen Sozialabbau (BSGS)“. Dieses Bündnis ergriff die Initiative für eine bundesweite Demonstration am 15. Juni 1996 gegen das Sparpaket. Als der Druck in den Betrieben und Gewerkschaften zunahm, sprang die Gewerkschaftsführung auf den fahrenden Zug auf und übernahm den Führersitz. Der DGB war aber gezwungen, offiziell mit dem BSGS zu kooperieren und dem Bündnis eine eigene Auftaktkundgebung zu gewähren. Ähnlich wie im Jahr 2003 spielten wir auch 1996 eine wichtige Rolle beim Zustandekommen der ersten Massendemonstration gegen den Sozialabbau, an der damals weit über 350.000 Gewerkschafter*innen teilnahmen. Diese Demonstration markierte den Anfang vom Ende der Ära Kohl. Das Sparpaket wurde zwar beschlossen, als aber die Kürzung der Lohnfortzahlung in den Betrieben umgesetzt werden sollte, kam es wenige Monate später zu spontanen Massenstreiks in der Autoindustrie, die sich die Lohnfortzahlung sicherten. Im Frühjahr 1997 kam es zu Massenprotesten von Bergarbeitern, die in die Bannmeile (das damalige Bonner Regierungsviertel) eindrangen, Auseinandersetzungen mit der Polizei eingingen und das FDP-Büro besetzten. „Kohl muss weg“ wurde zum Hauptslogan dieses Arbeiter*innenwiderstandes. 18 Monate später war Kohl weg.

Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

Auch die Gewerkschaftsführung passte sich in den 90er Jahren weitgehend der kapitalistischen Marktwirtschaft an. Statt kämpferisch die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten übernahmen die Spitzenfunktionär*innen immer mehr die Rolle von Co-Manager*innen und beteiligten sich an Arbeitsplatzabbau, Privatisierungen etc. In der ötv (vor dem Zusammenschluss zu verdi die Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr) war der Unmut an der Basis besonders groß, weil 1992 der Streik im öffentlichen Dienst abgebrochen worden war, obwohl sich eine Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder in einer Urabstimmung dagegen ausgesprochen hatte. 1996 ergriffen SAV-Mitglieder zusammen mit anderen die Initiative zur Gründung des „Netzwerks für eine kämpferische und demokratische ötv“, einer innergewerkschaftlichen Opposition. Das Netzwerk tritt für eine programmatische und personelle Alternative zur Führung der Gewerkschaft ein und bringt kritische und kämpferische Vertrauensleute, Betriebs- und Personalrät*innen zusammen. Heute wirkt es innerhalb der fusionierten Gewerkschaft ver.di. Der Schwerpunkt ist weiterhin der öffentliche Dienst, es finden aber auch Aktivitäten in Richtung Post und Telekom statt. Nach einer Phase von geringerer Beteiligung, haben sich im Rahmen der Streiks bei der Post und im öffentlichen Dienst 2023 wieder mehr Kolleg*innen an Netzwerk-Aktivitäten beteiligt. 

Die Unterstützung von betrieblichen Kämpfen gehörte immer zu einem Schwerpunkt der Aktivitäten des CWI in Deutschland. Ob die Stahlstreiks Ende der 70er Jahre, der Kampf um die 35-Stunden-Woche 1984, Rheinhausen 1987 oder Bischofferode 1993 – wir waren immer mit Rat und Tat zur Stelle. 1996 konnte die Kölner SAV eine Stadtteilinitiative für den Erhalt des Traktorenwerks Deutz-Fahr ins Leben rufen, an der sich eine große Zahl von Kolleg*innen aus dem Betrieb beteiligte. Nach Monaten von Diskussionen und Veranstaltungen führte diese Arbeit zu einer Stadtteildemonstration mit 1500 Teilnehmer*innen und einem neuntägigen wilden Streik der Belegschaft. Auch wenn die Verlagerung des Werks nicht verhindert werden konnte, so wurde zumindest ein Sozialplan erkämpft. Ähnliche Aktivitäten unternahm die Berliner SAV zum Erhalt des Köpenicker Werkes von AEG-TRO und die Hamburger SAV gegen massiven Arbeitsplatzabbau bei Phönix. 2002 waren SAV-Mitglieder maßgeblich daran beteiligt, die Privatisierung des Kasseler Klinikums zu verhindern.

Neue Arbeiter*innenpartei aufbauen!

Während wir bei der Gründung der SAV im Jahr 1994 die Aussichten für die weitere Entwicklung der SPD noch offen diskutiert haben, zeigten die folgenden Jahre, dass die Entwicklung der Sozialdemokratie mehr war als „nur“ eine Rechtsverschiebung an der Spitze. Die SPD hat grundlegend ihren Charakter verändert und ist vollständig in das Lager der Kapitalist*innenklasse gewechselt. Die Verbindungen zur Arbeiter*innenklasse sind qualitativ zurückgegangen und Arbeiter*innen, die beginnen zu kämpfen, sehen die SPD als Gegnerin und nicht als mögliche Bündnispartnerin. Die Parteilinke und die Jusos sind ebenfalls weit nach rechts gegangen und bieten keine Perspektive für den Aufbau einer kämpferischen und sozialistischen Parteilinken. Dieser Prozess hatte sich mit der Übernahme der Regierung durch SPD und Bündnis 90/Die Grünen noch verschärft. Die Schröder/Fischer-Regierung übertraf ihre Vorgängerregierung in Sachen Sozialabbau, Abbau von Arbeitnehmer*innenrechten und Kriegspolitik. Die sogenannte „SPD-Linke“ organisierte keine prinzipienfeste Opposition gegen diesen Kurs. Kurz: die SPD ist von einer Arbeiter*innenpartei mit bürgerlicher Führung zu einer durch und durch bürgerlichen Partei geworden. Sie ist als potenzielles Kampfinstrument für die Arbeiter*innenklasse verloren.

Manche Linke haben in den 90er Jahren gehofft, die PDS könne den Platz der SPD als bundesweiter, linker Arbeiter*innenpartei einnehmen. Wir haben immer darauf hingewiesen, dass dies nicht zu erwarten war, weil sie einerseits den Makel ihrer stalinistischen Vergangenheit nicht losgeworden war und andererseits ihre Politik schon Mitte der neunziger Jahre auf den Boden der Akzeptanz der Marktwirtschaft gestellt hat. Spätestens durch ihre Regierungsbeteiligungen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin hatte die PDS zu Beginn der Nuller Jahre bewiesen, dass sie sich nicht auf der Seite der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen befindet, wenn eine Regierungsbeteiligung möglich war. Gerade in Berlin hatte sie eine Vorreiterrolle in Sachen Sozialabbau und Bekämpfung von Arbeitnehmer*innenrechten eingenommen. Während es bis zur Gründung der WASG 2004 richtig war, zur Wahl der PDS aufzurufen (wenn es keine wirklich sozialistische Alternative bei Wahlen gab), weil die PDS auf der Wahlebene den Wunsch nach einer Alternative zum Neoliberalismus der anderen Parteien Ausdruck verlieh, bot die Partei selber nie eine Perspektive, zu einer starken politischen Interessenvertretung für Arbeiter*innen und Jugendliche zu werden.

Deshalb warfen wir seit Mitte der 90er Jahre die Losung „Für den Aufbau einer neuen Arbeiter*innenpartei mit sozialistischem Programm“ auf und haben begonnen bei Parlamentswahlen – eigenständig und als Teil von linken Wahlbündnissen – zu kandidieren bis wir dann 2004 am Aufbau der WASG und später der Partei Die Linke teilnahmen.

Das Fehlen einer Arbeiter*innenpartei mit Massenbasis war in Bewegungen und Kämpfen immer wieder schmerzlich spürbar. Viele Aktivist*innen sahen und sehen heute wieder keine Alternative auf der politischen Ebene. Eine Arbeiter*innenpartei würde das ändern. Nicht nur bei Wahlen. Sie würde die Möglichkeit bieten, dass sich Arbeiter*innen und Jugendliche unabhängig organisieren und gesellschaftliche Alternativen zur kapitalistischen Marktwirtschaft entwickeln könnten. Wir treten dafür ein, dass die Gewerkschaften mit der SPD brechen und die Gründung einer neuen Arbeiter*innenpartei mit vorantreiben. Während wir für eine solche breite Partei von Arbeiter*innen und Jugendlichen eintreten, verstehen wir sie nur als einen notwendigen Zwischenschritt auf dem Weg zu einer revolutionär-marxistischen Massenpartei. Wie es im Grundsatzprogramm der SAV formuliert war: „Die SAV unterstützt jeden Ansatz zum Aufbau einer breiteren Arbeiterpartei, ohne dass sie ein sozialistisches Programm zur Bedingung macht. Ohne eine Partei mit einem klaren revolutionär-sozialistischem Programm wird es jedoch nicht gelingen, das kapitalistische System zu überwinden. Die SAV hat sich zum Ziel gesetzt, eine revolutionäre Partei aufzubauen.“

Bewegung gegen kapitalistische Globalisierung

Das Jahr 1999 leitete mit der internationalen Demonstration gegen die WTO-Tagung in Seattle (USA) den Beginn einer neuen weltweiten Bewegung ein – der Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung. Damals verging keine internationale Tagung von Regierungs- und Kapitalvertreter*innen ohne Massenproteste. Gleichzeitig bildeten sich in dieser Bewegung neue Strukturen wie die Sozialforen und die Organisation Attac. Diese Bewegung hat einen wichtigen Beitrag geleistet, die Kapitalist*innenklasse mehr und mehr in eine ideologische Defensive zu drängen. Sie markierte einen wichtigen Wendepunkt, weil sie offensiv die Frage der Struktur der Weltwirtschaft aufwarf. Die SAV und das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale waren von Anfang an aktiver Teil dieser Bewegung. Gemeinsam mit unseren Schwesterorganisationen waren wir an allen wichtigen Demonstrationen dieser Bewegung und an den verschiedenen Sozialforen beteiligt. In Deutschland arbeiteten wir kritisch-solidarisch innerhalb von Attac und verschiedenen Sozialforen mit. Innerhalb der Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung traten wir für eine antikapitalistische Ausrichtung ein und dafür, die Aktivitäten auf die konkreten Kämpfe der Arbeiter*innenklasse und der Jugend zu orientieren.

Im Jahr 2001 riefen wir die unabhängige antikapitalistische Jugendorganisation „widerstand international!“ ins Leben, die sich im Dezember 2001 auf einer internationalen Konferenz mit 500 Teilnehmer*innen mit anderen Jugendgruppen zu „International Socialist Resistance“ zusammenschloss.

Gegen den Krieg!

Die nach dem Zusammenbruch des Stalinismus ausgerufene „neue Weltordnung“ hat sich als eine Weltunordnung entpuppt. Kapitalistische Krise und wachsender Konkurrenzkampf führen zu immer mehr militärischen und kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Bundesrepublik Deutschland hat in den 90er Jahren begonnen, eine aggressive imperialistische Rolle weltweit zu spielen, das Tabu von Auslandseinsätzen der Bundeswehr wurde gebrochen.

Der Kampf gegen den Krieg war immer ein besonders wichtiger Aspekt sozialistischer Aktivität. Wir haben alle Versuche des deutschen Kapitals, seine imperialistischen Ambitionen zu erreichen, bekämpft. Vor allem waren wir massiv an den Bewegungen gegen den Krieg gegen Rest-Jugoslawien 1999, dem Afghanistan-Krieg 2001 und dem Irak-Krieg 2003 beteiligt.

In der Bewegung gegen den Irak-Krieg haben wir die Kampagne „Jugend gegen Krieg“ ins Leben gerufen, die am Tag des Kriegsbeginns bundesweit über 200.000 Jugendliche bei Schulstreiks anführte. SAV-Mitglieder konnten vor hunderttausenden Demonstrant*innen sprechen, unter anderem bei der Demonstration von einer halben Million Menschen am 15. Februar. Wir spielten aber auch eine Rolle bei Protesten während der Arbeitszeit gegen den Krieg im Bürgerhospital Stuttgart.

Gegen Agenda 2010 und Hartz IV!

Im Jahr 2003 – nach der Ankündigung der Agenda 2010 durch Kanzler Schröder – verbreiteten wir als erste die Idee einer bundesweiten Demonstration gegen Sozialabbau und stießen die bundesweite Aktionskonferenz im August des Jahres an, die dann die Demonstration vom 1. November festlegte. Diese Demonstration war mit 100.000 Teilnehmer*innen ein politischer Paukenschlag. Mit einer solchen Beteiligung hatte niemand gerechnet. Auch hier gehörten SAV-Mitglieder zu den Redner*innen und Moderator*innen bei den Kundgebungen. Diese Demonstration war die Initialzündung für betriebliche Aktionen im weiteren Verlauf des Jahres 2003, für die Bewegung der Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV und für die gewerkschaftlichen Massenkundgebungen mit einer halben Million Beteiligten vom 3. April 2004 – mit denen die Gewerkschaften einerseits ihre potenzielle Macht demonstrierten und gleichzeitig der Bewegung ein Ende setzten.

Wahlen und WASG 

Wie oben ausgeführt, hatten wir seit Mitte der 1990er Jahre für die Bildung einer neuen breiten Arbeiter*innenpartei mit sozialistischem Programm argumentiert. Wir hatten seitdem auch immer wieder bei Wahlen kandidiert, ob in Form von Direktkandidat*innen bei Bundestagswahlen, als Teil von linken Kooperationen wie mit der Demokratischen Linken in Berlin oder der Regenbogen-Liste in Hamburg, bei Kommunalwahlen wie 1995 in Bremerhaven und dann im Jahr 2004 in Rostock, Aachen und Köln. In Rostock kandidierte die SAV unter eigenem Banner und erzielte 2,5 Prozent und damit zog Christine Lehnert als erste für die CWI-Sektion in Deutschland gewählte Kommunalabgeordnete in die Rostocker Bürgerschaft. In Aachen und Köln wurden die SAV-Mitglieder Marc Treude und Claus Ludwig für lokale Bündnisse gegen Sozialabbau in die jeweiligen Stadträte gewählt (einige Jahre später folgten Abgeordnete in Kassel und Lemgo). Diese Wahlerfolge waren zwar einerseits nur möglich, weil die Fünf-Prozent-Hürde bei Kommunalwahlen nicht mehr galt, aber sie drückten auch den wachsenden Bedarf nach einer politischen Stimme linke der SPD – und der PDS – aus.

Dieser Bedarf materialisierte sich dann in Folge der Agenda-Politik der SPD, als sich verschiedene Initiativen bildeten, in denen linke Sozialdemokrat*innen, Gewerkschafter*innen, Aktive aus sozialen Bewegungen, Intellektuelle und PDS-Abtrünnige die Frage einer Wahlalternative zu SPD und PDS diskutierten und dann zur Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) im Jahr 2004 zusammenkamen. Wir erkannten damals sofort, dass diese neue Partei aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (der Massenproteste gegen die Agenda 2010) und ihrer Zusammensetzung ein größeres gesellschaftliches Gewicht haben würde und beteiligten uns enthusiastisch daran. Wir traten innerhalb der WASG für demokratische Strukturen, eine kämpferische Politik und ein sozialistisches Programm ein, was uns schnell in Konflikte mit Teilen der dort führenden Kräfte brachte. Da wir aber keine sektiererische Herangehensweise an den Tag legten und wir die Annahme eines sozialistischen Programms nicht zur Bedingung für unsere Mitarbeit machten, konnten wir uns bundesweit einen Namen als konstruktiver Bestandteil der WASG machen und einen anerkannten Platz innerhalb der neuen Partei erarbeiten.

Eigenständige WASG-Kandidatur Berlin

Auch wenn der Widerstand gegen die Agenda 2010 nicht erfolgreich war, weil die Gewerkschaftsführungen nicht zu einem konsequenten Kampf bereit waren, fiel die erste rot-grüne Bundesregierung darüber, Nach einer Wahlschlappe für die SPD bei den Landtagswahlen in NRW im Mai 2005 rief Kanzler Schröder Neuwahlen zum Bundestag aus. Bei diesen Landtagswahlen hatte die WASG erstmals kandidiert und mit 2,2 Prozent einen Achtungserfolg erzielt, vor allem aber deutlich mehr Stimmen als die PDS geholt, die nur 0,9 Prozent erreichte. Die Aussicht auf vorgezogene Bundestagswahlen rief dann den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine auf den Plan, der erklärte, zu einer Kandidatur zum Bundestag bereit zu sein, wenn WASG und PDS gemeinsam antreten würden. Das eröffnete die Diskussion über die Vereinigung der beiden Parteien, die dann 2007 vollzogen wurde.

Die SAV entwickelte damals eine Position für eine Vereinigung der linken Kräfte, auch über WASG und PDS hinausgehend, aber zu bestimmten Bedingungen. Vor allem forderten wir, dass eine Beteiligung an Sozialabbau, Privatisierungen und arbeiter*innenfeindlicher Politik, wie sie die PDS in Landesregierungen und Kommunen in den Jahren zuvor mitgetragen hatte, ausgeschlossen werden müsste. Konkret erkannten wir, dass die Auseinandersetzung um die politische Basis einer Vereinigung zu einem konkreten Kampf um die 2006 anstehenden Abgeordnetenhauswahlen in Berlin führen würde. Die Berliner WASG hatte als eine Quelle eine Gruppe von Linken, die sich zum Ziel gesetzt hatten, bei diesen Wahlen eine linke Wahlalternative zur Regierungs-PDS anzubieten. In der Berliner WASG entbrannte nun ein Kampf um diese Frage. Die damalige SAV-Führung beschloss sehr frühzeitig, eine Konzentration auf diese Auseinandersetzung, weil wir erkannten, dass eine eigenständige Kandidatur der WASG, auch gegen den Trend zur Vereinigung von PDS und WASG, eine große Anziehungskraft auf kämpferische Schichten ausüben könnte und wir uns der bundesweiten Bedeutung dieser Auseinandersetzung bewusst waren.

Diese Schwerpunktsetzung zahlte sich aus. Nicht nur leisteten wir einen entscheidenden Beitrag dazu, innerhalb der Berliner WASG eine linke Mehrheit für einen eigenständigen Wahlantritt zu erreichen, sondern damalige SAV-Mitglieder spielten auf verschiedenen Ebenen im Landesverband der WASG eine entscheidende Rolle. Lucy Redler wurde zum Gesicht der Berliner WASG und zur Spitzenkandidatin bei den Abgeordnetenhauswahlen im September 2006. Alle Versuche der bundesweiten Führungen von WASG und PDS unter Oskar Lafontaine, Klaus Ernst, Bodo Ramelow und anderen, die Berliner WASG an einem eigenständigen Wahlantritt zu hindern, scheiterten an der Entschlossenheit der Mehrheit im Berliner WASG-Landesverband, die sich ihr Recht zum Wahlantritt sogar vor einem bürgerlichen Gericht erstreiten musste. 

Es ist keine Frage, dass die WASG in Berlin die Fünf-Prozent-Hürde und damit den Einzug ins Abgeordnetenhaus geschafft hätte, wenn es nicht dieses massive Störfeuer aus den eigenen Reihen gegeben hätte – von der eigenen Parteiführung um Oskar Lafontaine und Klaus Ernst und von vermeintlich linken Kräften im eigenen Landesverband, wie der damaligen Linksruck-Gruppe (heute nach einer Spaltung Marx21, Sozialismus von Unten und Revolutionäre Linke). Letztlich reichte es dann aber nur für 3,8 Prozent der Erst- und 2,9 Prozent der Zweitstimmen (52.000 bzw. 40.000 STimmen) – ein Ergebnis, welches für eine Erstkandidatur sehr gut war, aber aufgrund der Tatsache, dass die WASG im Laufe eines Jahres als Partei verschwinden sollte, kein Startpunkt für einen erfolgreichen Parteiaufbau in der Bundeshauptstadt sein konnte.

Linkspartei und AKL 

Es ist uns und der Berliner WASG zweifellos gelungen die Frage der Regierungsbeteiligung mit prokapitalistischen Parteien zu einer zentralen Frage des Fusionsprozesses von WASG und PDS zu machen und ein Bewusstsein für diese Frage zu schaffen, wie es zuvor nicht existierte. Wir argumentierten, dass dies die Gretchenfrage für eine Vereinigung beider Parteien sein solle, denn ein neue linke Partei, die eine Politik der Regierungsbeteiligung mit prokapitalistischen Parteien betreibt, würde früher oder später scheitern. Leider bestätigt sich diese Voraussage in den Entwicklungen der letzten Jahre. 

Wir haben zur Fusion deshalb eine ablehnende Haltung eingenommen und dagegen gestimmt, weil wir diese Entwicklung vorausgesehen hatten. Damit lagen wir richtig. Falsch lagen wir jedoch mit unseren praktischen Schlussfolgerungen. Wir nahmen, trotz unserer Opposition zur Fusion, natürlich wahr, dass diese bei einer Schicht von Arbeiter*innen, Akademiker*innen und jungen Menschen eine gewisse Begeisterung und Hoffnungen auslöste und dass damit in Westdeutschland eine Partei links der SPD entstehen würde, die eine kleine Massenbasis und die Chance auf parlamentarische Vertretung in Kommunal- und Landesparlamenten hatte. Und: Die Linke war im Westen etwas Neues und sehr von dem Schwung und der Radikalität der WASG geprägt. Deshalb sollten Marxist*innen an dem Prozess teilnehmen. Im Osten und in Berlin sah das anders aus und unsere Einschätzung war, dass Die Linke hier im Wesentlichen eine Fortsetzung der alten PDS sein würde und keine große Anziehungskraft entwickeln würde, da sie hier schon mehr als Teil des kapitalistischen Establishments betrachtet wurde. Auch das war richtig. Falsch war unsere Einschätzung, dass es deshalb in Berlin und Ostdeutschland das Potenzial für eine Kraft links der Linken geben würde und unsere Schlussfolgerung der neuen Partei nur in Westdeutschland beizutreten und in Berlin zu versuchen mit den Mitgliedern der WASG zusammen die BASG (Berliner Alternative für Solidarität und Gegenwehr) als Lokalpartei zu gründen. Das konnte nicht funktionieren, weil der politische Platz links von SPD und Grünen bundesweit von der neuen Linkspartei belegt war, auch wenn diese in Berlin und Ostdeutschland kaum neue Mitglieder anzog. Diesen Fehler haben wir schnell korrigiert und sind nach einem Jahr auch in Berlin und im Osten der Linken beigetreten. Für Fehler wird man aber bestraft und die Führung der Linkspartei hat gegen die Mitgliedschaft von Lucy Redler, mir und anderen Mitgliedern der damaligen SAV-Bundesleitung Einspruch erhoben und unseren Beitritt in einem bürokratischen Verfahren zwei Jahre hinauszögern und so unsere Mitarbeit für diesen Zeitraum verhindern können, weil wir unsere Kritik an der Politik der Koalitionsbildung mit SPD und Grünen ja nicht eingestellt hatten.

In den Jahren darauf haben wir in der Linkspartei gewirkt und uns dort der Antikapitalistischen Linken (AKL), dem „linkesten“ innerparteilichen Zusammenschluss angeschlossen. Wir konnten in verschiedenen Städten lokale Gruppen der Partei aufbauen, Kampagnen führen, haben Kandidat*innen für Die Linke gestellt, die zum Teil in Kommunalparlamente gewählt wurden. Lucy Redler wurde 2016 in den Parteivorstand gewählt.

Dabei haben wir einerseits erklärt, dass Die Linke, trotz ihrer inhaltlichen Unzulänglichkeiten das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen in der Bundesrepublik zugunsten der Arbeiter*innenklasse verschiebt und die Lage schlechter wäre, wenn diese Stimme der Opposition zu Sozialabbau, Krieg und Rassismus nicht im Bundestag vertreten wäre. Gleichzeitig haben wir unsere Kritik an der reformistischen Politik und der fortgesetzten Regierungsbeteiligung immer offensiv vorgetragen und versucht dagegen in der Partei Kräfte zu sammeln und gleichzeitig exemplarische Kampagnenarbeit vor Ort betrieben. 

linksjugend [‘solid], BAK RL, Jugend für Sozialismus 

Mit der Mitarbeit in der Linkspartei haben die jungen Mitglieder der damaligen SAV auch Aktivitäten im parteinahen Jugendverband linksjugend [‘solid] aufgenommen. Das Ziel war, einen Beitrag dazu zu leisten, diesen zu einem kämpferischen sozialistischen Jugendverband zu machen, der eine Anziehungskraft auf Jugendliche, vor allem auch Arbeiter*innenjugendliche, ausstrahlt. Das war eine beschwerlichere Aufgabe, als die Mitarbeit in der Partei selbst, denn linksjugend [‘solid] ist wahrscheinlich der einzige Jugendverband, der undemokratischer funktioniert als die Mutterpartei und der in manchen Fragen deutlich problematischere Positionen eingenommen hat. Das hat nicht zuletzt etwas mit dem starken Einfluss antideutscher Kräfte zu tun, aber auch mit einer zunehmenden Dominanz identitätspolitischer Vorstellungen. Immer wieder mussten unsere jungen Mitglieder die Erfahrung machen, dass sie mit Ausgrenzungs- und Ausschlussversuchen konfrontiert waren statt mit der Bereitschaft zur politischen Debatte. Besonders perfide war, dass diese Angriffe oftmals mit Lügengeschichten unterfüttert waren. So wurden die absurdesten Dinge behauptet: SAV-Mitglieder durften angeblich nur persönliche Beziehungen innerhalb der Organisation eingehen, wurden zum Zeitungsverkauf gezwungen, Hauptamtliche seien privilegiert und vieles andere. Das gipfelte in einer Kampagne „Raus aus der SAV“, die von unseren jungen Mitgliedern mit politischen Stellungnahmen und der Kampagne „Rein in die SAV“ begegnet wurde.Später gründeten SAV-Mitglieder zusammen mit anderen innerhalb von linksjugend [‘solid] den Bundesarbeitskreis Revolutionäre Linke (BAK RL), der die marxistisch und klassenkämpferisch orientierten Kräfte sammelte und der am stärksten wachsende Zusammenschluss wurde. In Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz konnten wir zusammen mit anderen Kräften des linken Verbandsflügels Mehrheiten in den Landesverbänden gewinnen und vorbildliche Arbeit umsetzen. Aus dieser Arbeit erwuchsen unter anderem die Sol-Gruppen in Mainz, Lemgo, Hamm und konnten Mitglieder in Kaiserslautern, Bonn, Aachen, Berlin, Dortmund und anderen Städten für das CWI gewonnen werden. Doch im Bundesverband war die Blockade der anderen Kräfte nicht zu durchbrechen. Als mit der fortschreitenden Krise der Linkspartei auch der Jugendverband immer unattraktiver wurde und wir die Erfahrung machten, dass die Verbindung zur Linken eher ein Hindernis für die Organisierung junger Menschen geworden war, zogen unsere jungen Mitglieder zusammen mit anderen die Schlussfolgerung, die weitgehend fruchtlose Arbeit im Bundesverband der linksjugend [‘solid] zu beenden und mit Jugend für Sozialismus (JfS) einen neuen, sozialistischen Jugendverband ins Leben zu rufen, der offen für Mitglieder der linksjugend ist, weiterhin eine kritisch-unterstützende Haltung zur Partei Die Linke einnimmt, aber klassenkämpferische Positionen vertritt und über demokratische Strukturen verfügt.

Charité und CFM

Die intensive Mitarbeit in WASG und dann der Linkspartei und ihrem Jugendverband ging einher mit einer Intensivierung der betrieblichen und gewerkschaftlichen Arbeit. Neben der intensiven, kontinuierlichen und oftmals unspektakulären (aber alles andere als unwichtigen) Arbeit, die viele unserer Mitglieder in ihren Betriebsgruppen, Gewerkschaftsgremien, Betriebs- und Personalräten oder Jugend- und Auszubildendenvertretungen leisten, konnten wir in einigen Bereichen exemplarische Arbeit leisten und wichtige Organisierungsprozesse und Arbeitskämpfe voran treiben.

Herausragend in dieser Hinsicht ist zweifellos die Arbeit, die damalige SAV-Mitglieder am Berliner Universitätsklinikum Charité geleistet haben. Im Rahmen der Kandidatur der WASG Berlin zu den Abgeordnetenhauswahlen war der Charité-Personalrat Carsten Becker nicht nur einer der Kandidaten, sondern auch wieder in das CWI eingetreten, dem er von Mitte der 1980er Jahre bis Ende der 1990er Jahre schon einmal angehört hatte. Ihm folgte einige Jahre später mit Stephan Gummert ein weiterer betrieblicher Gewerkschaftsaktivist. Beide waren mit anderen zusammen verantwortlich für den Aufbau einer kämpferischen ver.di-Betriebsgruppe und der Entwicklung von neuen Streiktaktiken und Kämpfen im Krankenhaus, die der Auslöser für die seit einigen Jahren sich entwickelnden bundesweiten Arbeitskämpfe für mehr Personal in den Krankenhäusern waren. Diese Arbeit wurde sehr eng durch die Bundesleitung und den Berliner Stadtverband der SAV begleitet und unterstützt. Wir waren an der Gründung von Solidaritätskomitees und -bündnissen beteiligt und haben dazu beigetragen, dass die Kämpfe Erfolge erzielen konnten und eine große Aufmerksamkeit gewonnen haben – so groß, dass andere Kräfte der Linken, wie die Partei Die Linke oder die Interventionistische Linke (IL) mit mehr Mitgliedern und Ressourcen auf den fahrenden Zug aufsprangen und die Unterstützungsarbeit mehr und mehr dominieren konnten. Die Krankenhaus-Kämpfe waren seit dem Charité-Streik von 2011 der wahrscheinlich dynamischste Teil der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und es ist keine Übertreibung zu sagen, dass dies ohne die Pionierarbeit von CWI-Mitgliedern an der Berliner Charité nicht in dieser Form geschehen wäre.

Alternative Marienfelde

Auch im Daimler-Werk in Berlin-Marienfelde entwickelten wir exemplarische Aktivitäten. Dort lernten wir einen kritischen Betriebsrat kennen (den wir in der Folge auch für die SAV gewinnen konnten), der sich gegen die von der IG Metall mitgetragene Einführung eines neuen Entgeltrahmenabkommens (ERA) wendete und in der Belegschaft dagegen mobilisierte. Wir unterstützten ihn dabei, Protestaktionen von Kolleg*innen zu organisieren und entwickelten mit ihm daraus eine kämpferische Betriebsgruppe, die sich – anknüpfend an ähnliche Gruppen in anderen Daimler-Werken – „Alternative“ nannte und mit unserer Unterstützung mit der Herausgabe einer gleichnamigen Betriebszeitung begann. Es gelang bisher unorganisierte und passive Kolleg*innen für die IG Metall und betriebliche Aktivität zu gewinnen. Bei den Betriebsratswahlen 2010 kandidierte die Gruppe auf einer eigenen Liste gegen die offizielle IG Metall-Liste, deren sozialpartnerschaftliche Ausrichtung geradezu grenzenlos war (obwohl der Vertrauensleutekörper von einem DKP-Mitglied geführt wurde). Darauf reagierte die IG Metall mit einem Ausschlussverfahren gegen die Kandidat*innen der Alternative-Gruppe, wogegen wiederum eine intensive Kampagne organisiert wurde, die viel Unterstützung von Gewerkschafter*innen aus anderen Betrieben erfuhr. Letztlich wurden die Ausschlüsse abgewehrt, aber befristete Funktionsverbote erlassen, was es der Gruppe sehr viel schwerer machte, innerhalb des IG Metall-Vertrauensleutekröpers im Betrieb eine Basis aufzubauen. Bei den Betriebsratswahlen gab es mit 560 Stimmen und fünf gewonnenen Betriebsratssitzen einen guten Erfolg.

Leider konnte sich die Gruppe nicht kontinuierlich aufbauen. Sie erlitt einen schweren Schlag, weil ihr führender Kopf – unbemerkt von seinen Kolleg*innen im Betrieb und Genoss*innen in der SAV – Zuhälter geworden war und, während einer langen Krankschreibung begonnen hatte, ein Bordell zu betreiben. Als dies bekannt wurde, handelte die damalige SAV-Führung sofort und die Person kam einem Ausschluss durch eigenen Austritt zuvor. Auch in der Alternative-Gruppe kam es zum Bruch, weil fast alle Kolleg*innen darin übereinstimmten, dass Prostitution sexuelle Ausbeutung von Frauen ist und Zuhälterei mit gewerkschaftlichen Prinzipien der Solidarität nicht vereinbar ist. Die Gruppe konnte sich dann mit unserer Unterstützung fangen und auch bei den darauffolgenden Betriebsratswahlen einige Sitze gewinnen. 

In der Folge hat sich die SAV dann jedoch aus der Unterstützung für die Alternative-Gruppe zurückgezogen, weil die für die Begleitung der Gruppe zuständigen Mitglieder die SAV 2014  nach einer langen politischen Debatte um die Ausrichtung der Organisation verließen. Wir wollten diesen Konflikt damals nicht in die Alternative-Gruppe tragen und entschieden uns, die Begleitung der Gruppe den ausgetretenen Mitgliedern, die in der Folge die kleine linke Gruppe „Lernen im Kampf (LiK)“ bildeten, zu überlassen. Das war ein Fehler, denn die LiK-Unterstützer*innen beendeten irgendwann ihre Unterstützung für die Alternative-Gruppe und die Herausgabe der Betriebszeitung wurde eingestellt.

Debatten

In der Geschichte der CWI-Sektion in Deutschland gab es immer wieder intensive politische Debatten und Meinungsverschiedenheiten. Manchmal führten diese dazu, dass sich die Wege trennten. Aber nicht immer. So hatten zum Beispiel auf einer Bundeskonferenz 2007 ein Viertel der Delegierten dagegen gestimmt, auch nur in Westdeutschland in die Partei Die Linke einzutreten, ohne dass dies zu Austritten oder einer Spaltung geführt hätte. 

In einigen Fällen hatten wir Mitglieder bzw. kleine Gruppen in die Organisation aufgenommen,die aus anderen politischen Traditionen kamen und bei denen sich nach einiger Zeit leider herausstellte, dass die unterschiedlichen Herangehensweisen doch zu schwer wogen, um in einer gemeinsamen Organisation zu agieren. Das galt für eine kleine Gruppe im Raum Mannheim um Augusto Yankovic, der während der Corona-Pandemie die schwurblerische und nach rechts offene „Freie Linke“ mitbegründete und für die Münchener Gruppe um Max Brym, die während der WASG zur SAV stieß und wo sich die Wege später wegen dem Bruch finanzieller Prinzipien durch eine dortige Genossin, die Bezirksrätin in Oberbayern für Die Linke geworden war und aufgrund größerer Differenzen zur Frage von Israel und Palästina wieder trennten.

Die Debatte mit den Mitgliedern, die später die Gruppe „Lernen im Kampf“ bildeten war von größerer Bedeutung, weil sie – wenn auch wenige – Genoss*innen umfasste, die über viele Jahre eine wichtige Rolle in der Führung der Organisation gespielt hatten und weil sie wichtige politische Fragen der Programmatik und Herangehensweise vor allem an die Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit umfasste. Diese Mitglieder entwickelten eine opportunistische Anpassung an die linkeren Teile des Gewerkschafts- und auch Linke-Apparats und schraubten Forderungen und Kritik an der Gewerkschafts- und Parteiführung herunter. Sie überschätzten die Elemente von Linksentwicklung, die es in Teilen des Gewerkschaftsapparats gab und tendierten dazu, eine unabhängige marxistische Position aufzugeben oder zumindest zurückzustellen. Diese Debatte ging über mehr als ein Jahr und füllte die Seiten des Mitgliederbulletins. Es war der Mehrheit in der damaligen SAV-Bundesleitung sehr wichtig, dass diese Debatte umfassend und demokratisch geführt wurde. Irgendwann rebellierte aber eine Mehrheit des Bundesvorstands und entschied, dass der Fokus wieder mehr auf den Aufbau der Organisation gelegt werden müsse, da die Argumente ausgetauscht waren. Die späteren Lik-Unterstützer*innen verließen daraufhin nach und nach die SAV.

Große Rezession und EU-Krise

Diese Debatte fand in den Jahren nach der sogenannten Großen Rezession von 2008/09 und während der Euro- und Griechenland-Krise statt. Diese Wirtschaftskrise war ein Wendepunkt für die Entwicklung des Kapitalismus und des Klassenkampfs. Nur durch massive staatliche Interventionen, einschließlich der Verstaatlichung von Banken und Finanzinstituten, und nur aufgrund der besonderen Rolle des staatskapitalistischen Chinas konnte die Tiefe dieser Krise begrenzt werden – und trotzdem war es die tiefste kapitalistische Wirtschaftskrise seit der Großen Depression nach dem Schwarzen Freitag 1929. 

Diese Krise löste international enorme Massenbewegungen aus und stärkte in einer Reihe von europäischen Ländern linke Parteien. 2012 kam es zu europaweit koordinierten Streikaktionen von Gewerkschaften. In Griechenland kam Syriza an die Regierung, im spanischen Staat entstand explosionsartig mit Podemos eine neue linke Partei, in Irland konnten die damalige CWI-Sektion Socialist Party und andere Linke eine Reihe von Parlamentssitzen erobern und auch der so genannte Arabische Frühling ab Dezember 2010 war eine Folge dieser Krise. 

Damit bestätigten sich unsere Perspektiven in vielerlei Hinsicht, sowohl in Bezug auf die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, als auch hinsichtlich der Folgen, die diese für den Klassenkampf und Linksverschiebungen in der Klasse hat. Es bestätigte sich auch, dass es den Versuch geben wird, breite linke Parteien zu bilden, die verschiedene Kräfte und Strömungen der Linken zusammenbringen würden. Auch die Partei Die Linke in Deutschland konnte in Folger der Großen Rezession die besten Wahlergebnisse erzielen und einen gewissen Zulauf und wachsende Unterstützung in der Arbeiter*innenklasse verzeichnen.

Gleichzeitig zeigte sich aber auch, wie weit das Bewusstsein durch den Zusammenbruch des Stalinismus zurück gefallen war, wie weit die organisierte Arbeiter*innenbewegung und Linke zurückgeworfen waren und wie viele Erfahrungen und Traditionen verloren gegangen waren. 

So gab es den Widerspruch zwischen Massenmobilisierungen und enormer Kampfbereitschaft, aber einem Mangel an Selbstorganisation und einem Fehlen einer Schicht von klassenkämpferischen Aktivist*innen, die diese Bewegungen hätten vorantreiben können. Stattdessen führte der Reformismus der gestärkten linken Kräfte, wie Syriza in Griechenland, zu Niederlagen und Verrat – und daraufhin Enttäuschung und Rückzug unter den Massen. 

In der damaligen SAV führte das zu intensiven Debatten unter anderem zur Frage, wie ein sozialistisches Programm zur Euro- und Griechenland-Krise aussehen sollte, welche Politik eine sozialistische Regierung in Griechenland betreiben sollte und wie sich Marxist*innen generell zu EU und Euro positionieren sollten. Dabei bestätigten wir die traditionelle Analyse der EU als Bündnis kapitalistischer Staaten, das keine Unterstützung durch Linke erhalten sollte und wendeten diese flexibel auf konkrete Situationen an. In Griechenland bedeutete das, die Frage eines Bruchs mit dem Euro an ein sozialistisches Maßnahmenpaket der Regierung zu knüpfen, Jahre später in Großbritannien für einen linken Brexit einzutreten. 

Im Zuge dieser Entwicklungen haben wir auch massiv an verschiedenen überregionalen Mobilisierungen teilgenommen, wie den Blockupy-Protesten 2013 in Frankfurt am Main und den Demonstrationen gegen den G20-Gipfel in Hamburg im Jahr 2017. 

Mieter*innenarbeit

Es ist unmöglich, in diesem Text alle Aktivitäten der CWI-Sektion in Deutschland darzustellen. Neben der Aktivität unter Jugendlichen, innerhalb der Linkspartei und in Betrieben und Gewerkschaften, war aber immer auch Stadtteilarbeit und Mieter*innenarbeit ein Bestandteil unserer Aktivitäten. Vor allem in Stuttgart konnte sich die Sol eine wichtige Position in den dortigen Mieter*inneninitiativen aufbauen und immer wieder wichtige Proteste anstoßen, die auch zu Erfolgen führten. In anderen Städten reagierten wir auf Verdrängungsversuche und organisierten Solidaritätsarbeit für Mieter*innen wie in Dortmund, Berlin und Lemgo.

Stuttgart 21

Eine der größten Bewegungen nach der Jahrtausendwende war zweifellos die Bewegung gegen das Megaprojekt Stuttgart 21, den Bau eines neuen unterirdischen Hauptbahnhofs in Stuttgart. Wir gehörten zu den ersten, die schon Mitte der 1990er diese Pläne aufgegriffen und gegen das Projekt eine Broschüre verfasst hatten. 2010 kam es dann zu einer wachsenden Massenbewegung gegen Stuttgart 21 mit wöchentlichen Demonstrationen, die auf ihrem Höhepunkt über 100.000 Menschen mobilisieren konnten. Unsere Mitglieder in Stuttgart spielten dabei eine wichtige Rolle. Am so genannten „Schwarzen Donnerstag“, dem Tag an dem die Bauarbeiten begannen, fand in Stuttgart auf Initiative von damaligen SAV-Mitgliedern ein Schüler*innenstreik gegen Stuttgart 21 statt. Die Schüler*innen besetzten zusammen mit anderen Aktivist*innen den Schlosspark, um die Bauarbeiten zu verhindern. Die Polizei ging mit brutaler Gewalt gegen Kinder und Jugendliche vor. Der Aufschrei war groß und die darauffolgende Montagdemonstration die größte. Das heutige Sol-Mitglied Ursel Beck spielte eine wichtige Rolle bei der im Nachgang dieser Ereignisse gebildeten unabhängigen Untersuchungskommission zur Polizeigewalt.

Winfried Wolf

Seit Mitte der Nuller Jahre hatte sich eine kontinuierliche Kooperation mit dem wichtigen antikapitalistischen Ökonomen und Publizisten Winfried Wolf (1949 – 2023) entwickelt, mit dem wir schon seit den 1990er Jahren in Stuttgart gegen Stuttgart21 und zu anderen Themen zusammengearbeitet hatten. Er steuerte regelmäßig Gastbeiträge zur „Solidarität“ bei und wir setzten mit ihm verschiedene Zeitungsprojekte zusammen um. So die Streikzeitung zur Unterstützung der GDL-Streiks ab 2014, die eine wichtige Rolle dabei spielte, innerhalb der Linken und der DGB-Gewerkschaften die ablehnende Haltung gegenüber der GDL zu durchbrechen und eine Ablehnung des Tarifeinheitsgesetzes zu propagieren. Aber auch in der Euro- und Griechenland-Krise beteiligten wir uns an den Zeitungen „Faktencheck Griechenland“ und „Faktencheck Europa“, wobei unterschiedliche Bewertungen der Syriza-Regierung zu einem zeitweiligen Rückzug der damaligen SAV aus dem Projekt führten. Gleiches galt für die Zeitung „Faktencheck Corona“, deren erste Ausgaben von uns mitgetragen wurden, dann aber trennten sich die Wege als Winfried Wolf und andere die ZeroCovid-Kampagne unterstützten.

Verluste

Eine Organisation, die fünfzig Jahre besteht, hat zwangsläufig auch Mitglieder verloren, die gestorben sind. Diese können hier nicht alle genannt werden, aber einige sollen doch hervorgehoben werden.

Im Jahr 2000 verstarb mit Horst Steinert ein Genosse, der noch eine direkte Verbindung zum Kampf gegen den Hitler-Faschismus darstellte. Horst war Anfang der 1930er Jahre Mitglied der KPD-Jugendorganisation und aktiv im antifaschistischen Widerstand, was ihn unter den Nazis ins Gefängnis brachte. In den 1990ern schloss er sich zuerst, trotz seines hohen Alters, JRE und später der SAV an.

2011 verstarb in Aachen Gaétan Kayitare, ein aus Ruanda stammender langjähriger Führungskader der Organisation. Dieser Verlust wiegte besonders schwer, aufgrund der besonderen Rolle, die Gaétan in der Organisation spielte und den Beitrag, den er zum Aufbau der Sektion, aber auch zur politischen Entwicklung vieler Mitglieder gespielt hatte. 

Mit Jörg Winter verstarb im Jahr 2020 ein langjähriges Mitglied, das in Stuttgart über Jahre wichtige betriebliche Arbeit geleistet hatte. Trotz schwerer Krankheit aktivierte ihn der Fraktionskampf und die Spaltung der SAV wieder und er entschied sich bewusst für eine Mitgliedschaft in der Sol. 

2023 nahm sich das Sol-Bundesvorstands-Mitglied Jan Horsthemke aus Dortmund das Leben, was ein schwerer Schock für die gesamte Mitgliedschaft war, der nicht einfach zu verarbeiten war. Jan hatte eine wichtige Rolle, gerade auch als gewerkschaftlicher Vertrauensmann gespielt.

Gegen Rechts

Antirassistische und antifaschistische Aktivitäten haben immer eine wichtige Rolle in unserer Arbeit gespielt. Mit der Gründung der AfD 2013 und ihrer Etablierung in der Parteienlandschaft, aber auch mit den Pegida-, HoGeSa- und anderen rechten Mobilisierungen, hatte diese Arbeit wieder eine wachsende Bedeutung erlangt.

Vor allem die Genoss*innen in Dresden spielten und spielen eine kontinuierliche und wichtige Rolle beim Kampf gegen Rechts in der sächsischen Landeshauptstadt und haben viele Kundgebungen und Demonstrationen gemeinsam mit anderen organisiert. Aber auch in Dortmund, einer Hochburg der militanten Nazi-Szene Westdeutschlands, hat die dortige Ortsgruppe von SAV und nun Sol immer wieder mutig den Kampf gegen Rechts aufgenommen, Demonstrationen organisiert – nicht zuletzt als 2016 ein damaliges SAV-Mitglied Opfer einer Messerattacke von Nazis wurde und wir schnell eine breite antifaschistische Demonstration auf die Beine stellten. 

Aber der Kampf gegen Rechts ist nicht nur ein Kampf um die Straße, sondern auch um die Köpfe – und innerhalb der Linken und Gewerkschaften um eine erfolgversprechende Strategie und Programmatik. Wir haben gerade zu diesem Thema viel publiziert, so 2011 das Buch „Anti-Sarrazin“ als Reaktion auf die rassistischen Thesen des SPD-Politikers Thilo Sarrazin, die die gesellschaftliche Debatte für eine Zeit dominierten und 2017 das Buch „Brandstifter“, das sich mit AfD, Pegida und Islamfeindlichkeit auseinandersetzt. 

Dabei haben wir immer einen sozialistischen Klassenstandpunkt eingenommen und dafür argumentiert, dass die Probleme an ihren Wurzeln gepackt werden müssen. Das heißt, dass wir gegen Bündnisse mit prokapitalistischen Kräften argumentieren, deren Politik die Rechtspopulist*innen und Nazis erst stark macht und uns für ein Programm einsetzen, das den Kampf für soziale Verbesserungen als Bestandteil des antirassistischen Kampfes versteht. 2016 haben in Berlin die Initiative für die Demonstration „Soziales Berlin gegen Rassismus“ ergriffen, die exemplarisch diesen Ansatz verfolgte.

Sozialismustage

Seit dem Jahr 2000 führten wir fast jedes Jahr einen bundesweiten Kongress unter dem Titel „Sozialismustage“ durch, auf dem bis zu 450 Besucher*innen zusammenkamen und  Aktive aus allen möglichen Kämpfen und Organisationen und viele internationale Gäste miteinander debattierten. Seit der Gründung der Sol konnten wir erst einen solchen Kongress auf bundesweiter Ebene durchführen, der 2021 aufgrund der Pandemie kurzfristig zu einem Online-Kongress gemacht werden musste. 2023/24 wurden dann lokale Sozialismustage von den Sol-Ortsgruppen in Lemgo, Mainz, Dortmund, Berlin, Aachen und Köln/Bonn organisiert, die diese Tradition am Leben erhalten. 

Internationale Arbeit 

Das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) spielte im Leben der Organisation immer eine große Rolle. Die Beteiligung an internationalen Schulungen und Konferenzen, gegenseitige Besuche und internationale Solidaritätskampagnen sind ein permanenter Bestandteil unserer Aktivitäten. 

Das umfasst immer wieder Proteste vor Botschaften von Staaten, in denen linke und gewerkschaftliche Kräfte verfolgt werden, aber auch kontinuierliche Unterstützungsarbeit wie wir sie über Jahre für Aktivist*innen in Kasachstan oder Nigeria organisierten.

Zuletzt haben zwei Sol-Mitglieder im Herbst 2023 für Jugend für Sozialismus einen Solidaritätsbesuch gegen einen faschistischen Aufmarsch im griechischen Athen durchgeführt und 2024 ein Mitglied des Sol-Bundesvorstands über mehrere Wochen die irische CWI-Sektion Militant Left bei ihren Aufbauaktivitäten unterstützt. Regelmäßig unterstützt wird auch die österreichische CWI-Gruppe Sozialistische Offensive, zum Beispiel durch Besuche beim alljährlichen großen Volksstimme-Fest.

Manifest-Verlag

2017 ergriff die damalige SAV den mutigen Schritt, einen eigenen Verlag zu gründen. Wir wollten so dem wachsenden Interesse an sozialistischen Ideen gerecht werden, aber auch dazu beitragen, dass marxistische Literatur zu leistbaren Preisen mehr Verbreitung findet. Der Manifest-Verlag hat seitdem 125 Titel aufgelegt und insgesamt circa 38.000 Bücher verkauft. Wir konnten so viele der wichtigsten marxistischen Klassiker von Marx, Engels, Lenin, Luxemburg und Trotzki auflegen, aber auch wichtige bis dahin in deutsche Sprache unveröffentlichte oder lange vergriffene Texte von Trotzki zugänglich machen, sowie in Vergessenheit geratene Literatur des Marxismus und der Arbeiter*innenbewegung neu auflegen und eine Reihe neu geschriebener Titel veröffentlichen, wie zum Beispiel zu den Ideen Rosa Luxemburgs, zur Frühgeschichte der Menschheit, zum Kampf gegen Rassismus und Rechtspopulismus, dem Umgang mit Lebensmitteln im Kapitalismus und Textsammlungen zur Corona-Pandemie, dem Krieg um die Ukraine und dem Nahost-Konflikt. 

Der Manifest-Verlag konnte seit seiner Gründung einen Auszubildenden ausbilden, hat die Initiative „Verlage gegen Rechts“ mitbegründet und konnte sich in der linken Verlagslandschaft einen Namen machen. Er ist für die Sol zu einem wichtigen Werkzeug geworden, marxistische Ideen zu verbreiten.

Spaltung 2019

2018 traten im Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale schwere inhaltliche Differenzen auf, die zu einem Fraktionskampf und der Spaltung der Organisation führten. Im September 2019 spaltete sich auch die SAV. Während die Mehrheit des Bundesvorstands und der Bundesleitung die Positionen des Internationalen Sekretariats des CWI unterstützten und die Prinzipien und Methoden des CWI verteidigten, unterstützte eine Mehrheit der Delegierten auf einer Sonderkonferenz diejenigen Kräfte, die begonnen hatten wichtige Prinzipien über Bord zu werfen. Daraufhin gründeten circa siebzig vormalige SAV-Mitglieder noch am selben Wochenende die Sozialistische Organisation Solidarität (Sol), die den Anspruch hat die Politik der SAV fortzusetzen und die historische Kontinuität des CWI in Deutschland zu repräsentieren. Die SAV-Mehrheit schloss sich der Internationalen Sozialistischen Alternative (ISA) an. 

Die Trennung der Wege wurde notwendig, weil sich unterschiedliche Trends entwickelt hatten, die nicht mehr zusammenzuführen waren. Die inhaltlichen Fragen der Debatte drehten sich um das Nachgeben der heutigen ISA gegenüber Identitätspolitik hinsichtlich der Frauen- und LGBTQ+-Fragen, einer viel zu weitgehenden Orientierung auf kleinbürgerlich geprägte soziale Bewegungen und dadurch einem Mangel an konsequenter Orientierung auf die Arbeiter*innenklasse, was sich wiederum in einer Vernachlässigung der kontinuierlichen Arbeit in Betrieben und Gewerkschaften ausdrückte, dem Verwässern des sozialistischen Übergangsprogramms bei der Intervention in Massenbewegungen und Wahlen und um demokratische Strukturen und Entscheidungsprozesse innerhalb der Organisation. 

Das war auch eine Folge davon, dass sich trotz der Massenbewegungen nach der Finanzkrise und der zum Teil revolutionären Erhebungen, wie zum Beispiel im sogenannten „Arabischen Frühling“, die Bildung neuer Massenarbeiter*innenparteien und eines verbreiteten sozialistischen Bewusstseins verzögerte. Das CWI hatte gehofft, dass sich diese Prozesse schneller entwickeln würden, als sie es letztendlich taten, und die Folgen des Zusammenbruchs des Stalinismus schneller überwunden würden. Das haben wir realisiert und unsere Perspektiven angepasst, ohne aber die grundlegenden Prinzipien über Bord zu werfen. Diejenigen, die heute die ISA bilden, suchten hingegen nach Abkürzungen, setzten übertriebene Hoffnungen in andere soziale Bewegungen, passten ihr Programm an und verabschiedeten sich von einer konsistenten Orientierung auf die Arbeiter*innenklasse. 

Die Spaltung der SAV vollzog sich per gütlicher Einigung hinsichtlich der materiellen und immateriellen Güter der Organisation. Das war Ausdruck der Tatsache, dass die Kräfteverhältnisse innerhalb der aktiven Mitgliedschaft eher ausgeglichen waren und sich die späteren ISA-Mitglieder vor allem auch auf eine relativ große Schicht inaktiver Mitglieder stützen konnte. So verblieb der Organisationsname und die Webseite sowie das Magazin sozialismus.info bei der SAV und der Zeitungsname „Solidarität“ sowie der Manifest-Verlag kamen in die Hände der Sol, die nun zur CWI-Sektion in Deutschland wurde. 

In den fünf Jahren seit der Spaltung haben sich die Kritikpunkte der heutigen CWI- und Sol-Mitglieder an der heutigen SAV bzw. der ISA bestätigt. Alle Tendenzen, vor allen Dingen der Trend zur Identitätspolitik – wenn auch in marxistischer Terminologie verpackt – hat sich verstärkt. Während die Sol ihre Schwerpunkte auf sozialistische Jugendarbeit und Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit legt, agiert die SAV vor allem über ihre feministische Frontorganisation ROSA und orientiert auf die Klimabewegung. Die Sol konnte ihre Mitgliedschaft seit der Spaltung mehr als verdoppeln, nach unserem Eindruck hat die SAV wahrscheinlich nicht mehr Mitglieder als zum damaligen Zeitpunkt.

Corona 

Nur wenige Monate nach der Gründung der Sol kam es zur Corona-Pandemie und damit zu einer enormen Herausforderung für jede politische Organisation. Nicht nur traten neue politische und programmatische Fragen auf, es mussten auch Arbeitsweisen verändert werden, um den Zusammenhalt in einer Zeit, in der man sich nicht bzw. kaum in Präsenz treffen konnte, aufrechtzuerhalten.

Wir haben schnell und entschlossen auf die neue Situation reagiert und vor allem sehr intensive programmatische Diskussionen in unseren Reihen geführt, die zu einer enormen Fülle an Texten und zu dem Buch „Pandemische Zeiten“ geführt haben, das schon im Mai 2020 erschien. Das gab unseren Mitgliedern eine wichtige politische Orientierung, um diese schwierige Zeit  durchzustehen. Auch haben wir jede Gelegenheit genutzt, um öffentliche politische Aktivitäten durchzuführen und haben sowohl 2020 als auch 2021 wichtige Initiativen für, wenn auch kleine, Proteste am 1.Mai oder gegen die Corona-Schulpolitik ergriffen. 

Wie schon erwähnt, waren wir auch an den ersten Ausgaben der von Winfried Wolf initiierten Zeitung „Faktencheck Corona“ beteiligt. 

So konnten wir während der Pandemie nicht nur die neue Organisation stabilisieren, sondern auch neue Mitglieder gewinnen und vor allem ein hohes Maß an ideologischer Geschlossenheit festigen, aber auch unsere Positionen in den Gewerkschaften stärken.

Für kämpferische Gewerkschaften

Noch vor der Spaltung der SAV hatten wir in die Gewerkschaftslinke die Idee der Neugründung einer Vernetzung von kritischen und kämpferischen Gewerkschafter*innen hinein getragen. Im Januar 2020 kam es dann zur Gründung der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG), an der wir seitdem maßgeblich beteiligt sind. Die VKG hat seitdem immer wieder wichtige Orientierungen für aktive Gewerkschafter*innen veröffentlicht und in Debatten eingegriffen. Es ist ihr bisher nicht gelungen, in einem größeren Maß betrieblich-gewerkschaftliche Aktivist*innen zu vernetzen, die nicht in einer der verschiedenen sozialistischen Organisationen aktiv sind. Das hängt auch mit den oftmals sektiererischen Positionen bzw. dem Diskussionsstil einiger der in der VKG aktiven Gruppen zusammen. 

2023 ist es Sol-Mitgliedern in ver.di weitaus besser gelungen, den sich in den Tarifrunden bei der Post und im öffentlichen Dienst entwickelnden Unmut unter Kolleg*innen aufzugreifen und zu artikulieren und darüber viele Interessierte und Unterstützer*innen am bzw. für das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver,di zu finden. Zwei Sol-Mitglieder aus Berlin, die Delegierte beim ver.di Bundeskongress waren, konnten gemeinsam mit anderen dort so effektiv eingreifen, dass sie auf dem Kongress eine wachsende Opposition gegen den sozialpartnerschaftlichen Kurs und gegen die Unterstützung der Ukraine-Politik der Bundesregierung durch die ver.di-Führung sammeln und zum Ausdruck bringen konnten. Auch bei der Post, der Bahn und der Telekom beteiligen sich Sol-Mitglieder an Vernetzungsinitiativen. 

Die Orientierung auf die Gewerkschaften, die kontinuierliche Mitarbeit in ihnen und die Perspektiven für ihre Bedeutung haben sich 2023 und 2024 durch die  wachsende Zahl an Streiks bestätigt. Die Sol war auf diese Entwicklung besser vorbereitet als andere Organisationen.

Ukraine und Gaza

Die Krise des kapitalistischen Systems hat sich in den letzten Jahren enorm zugespitzt. Zurecht ist vielfach von einer multiplen Krise die Rede, die sich auf den Ebenen der Ökonomie, der Politik, der Umwelt, der Gesundheit entwickelt. Mit den Kriegen um die Ukraine und in Gaza sind militärische Auseinandersetzungen hinzu gekommen, die massive internationale Folgen haben. Beide Kriege haben gleichzeitig innerhalb der Arbeiter*innenklasse und der Linken zu enormen Debatten, Differenzen und Verwirrung geführt.

Sol und CWI haben zu beiden Kriegen einen Klassenstandpunkt eingenommen, der eine politische Unabhängigkeit von den unterschiedlichen an den Konflikten beteiligten bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Kräften zur Grundlage hat und die Arbeiter*innenklasse als einzige Kraft betrachtet, die das Morden und Sterben beenden kann. 

Das hat uns im Fall des Ukraine-Kriegs dazu geführt, den Einmarsch Russlands abzulehnen und für einen Abzug der russischen Truppen einzutreten ohne die ukrainische Selenskyj-Regierung zu unterstützen oder uns für Waffenlieferungen an diese auszusprechen. Wir haben erklärt, dass dieser Krieg nicht einfach als nationaler Befreiungskampf einer angegriffenen Nation betrachtet werden kann aufgrund der komplizierten nationalen Frage in der Ukraine und aufgrund der Tatsache, dass hinter der Ukraine der westliche Imperialismus steht und der Krieg auch den Charakter eines Stellvertreterkriegs trägt. Deshalb ist die entscheidende Frage, wer die Verteidigung gegen den russischen Angriff mit welcher Zielsetzung führt. Sozialist*innen dürfen reaktionär-nationalistischen und pro-imperialistischen Kräften auf keiner Seite Unterstützung zukommen lassen.

Ähnlich verhält es sich beim Krieg gegen Gaza. Auch hier nehmen wir einen sozialistischen Klassenstandpunkt ein. Dieser beinhaltet den Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser*innen zu unterstützen und ein Ende der Bombardierungen, den Rückzug der israelischen Truppen aus Gaza und dem Westjordanland, ein Ende der Besatzung und der Abschottung Gazas zu fordern, ohne jedoch die reaktionäre und arbeiter*innenfeindliche Hamas und ihre terroristischen Methoden zu unterstützen. Gleichzeitig verteidigen wir das Recht der Palästinenser*innen auf Selbstverteidigung und weisen die Politik der Bundesregierung und auch mancher selbsternannter Linker zurück, die jede Kritik an der Politik der israelischen Regierung und des Staates Israel als antisemitisch verunglimpfen und eine Debatte dadurch unmöglich machen wollen. Wir sehen eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft als notwendig an, um den Nahost-Konflikt zu lösen und treten für eine sozialistisches Palästina neben einem sozialistischen Israel im Rahmen einer freiwilligen sozialistischen Föderation des Nahen Ostens ein. Sol-Mitglieder haben seit dem Beginn des Krieges gegen Gaza an unzähligen Protesten und Demonstrationen teilgenommen, in einigen Orten haben wir Palästina-Solidaritätskomitees gemeinsam mit anderen ins Leben gerufen.

Was sind Erfolge?

Fünfzig Jahre CWI in Deutschland bedeutet fünfzig Jahre gegen den Strom schwimmen. Der Kapitalismus existiert immer noch und die Kräfte des Sozialismus scheinen heute schwächer als zu früheren historischen Zeitpunkten. Waren wir also nicht erfolgreich? Gemessen an unserem Ziel, die Welt sozialistisch umzugestalten waren wir offensichtlich noch nicht erfolgreich. Das bedeutet jedoch nicht, dass die vielfältigen Aktivitäten, die Agitation und Propaganda, die vielen Artikel, Bücher und Broschüren, die Diskussionen und Veranstaltungen, die Demonstrationen und Proteste wirkungslos gewesen wären.

Manche Erfolge sind materiell messbar: unsere Dresdner Genoss*innen haben den entscheidenden Beitrag geleistet, um die Privatisierung des Dresdner Städtischen Klinikums zu verhindern. Dass es heute an der Charité einen Tarifvertrag Entlastung gibt, ist auch unser Erfolg. Dass sich die Städtische Wohnungsgesellschaft in Bremerhaven immer noch in kommunalem Eigentum befindet, ist unserer Kampagne vor dreißig Jahren zu verdanken. 

Messbar sind auch die Zehn- und Hunderttausenden, die auf unsere Initiative hin gegen Krieg, gegen die Agenda 2010, gegen Rassismus demonstriert haben und die vielen großen und kleinen Kämpfe, zu denen wir einen Beitrag geleistet haben. 

Weniger greifbar sind die vielen tausend Menschen, die wir in ihrem Denken beeinflusst haben und dazu motiviert haben, sich nicht alles gefallen zu lassen. Und welche Bedeutung das für die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse hat. Wir können sicher sagen: ohne die Arbeit von uns (und anderen Linken) wären die gesellschaftlichen Verhältnisse für die Arbeiter*innenklasse und sozial Benachteiligte noch schlechter.

All das ist aber auch eine Saat, die noch aufgehen wird, wenn die sich enorm vertiefende Krise des Kapitalismus Verwerfungen und Kämpfe enormen Ausmaßes hervorrufen wird. Dass dies der Fall sein wird, ist gerade in den Entwicklungen der letzten Wochen erkennbar.

Aussichten

Dieser Text über fünfzig Jahre CWI-Aktivitäten in Deutschland soll ein „Blick zurück nach vorn“ sein. Denn vor allem geht es darum, aus den vergangenen Kämpfen zu lernen, um die zukünftigen Kämpfe besser führen zu können.

Wir erleben derzeit eine enorme Verstärkung der gesellschaftlichen Polarisierung, eine Zunahme von Mobilisierungen und Kämpfen und ein riesiges Vakuum auf der politischen Linken. Die Schwäche der Linken führt dazu, dass rechtspopulistische und rechtsextreme Kräfte stärker werden und die Streiks und Massenmobilisierungen keinen politischen Ausdruck finden. Noch nicht. Denn das wird früher oder später geschehen, so wie es nach der Großen Rezession 2008/09 geschehen ist – nur diesmal (hoffentlich) ohne dieselben Fehler zu wiederholen. 

Gleichzeitig bietet die gegenwärtige Lage auch einer kleinen marxistischen Organisation wie der Sol die Möglichkeit Mitgliedschaft, Zuhörer*innenschaft und Einfluss auszubauen. Und so die Grundlage zu schaffen, die großen Kämpfe der Zukunft entscheidend zu beeinflussen und somit einen Beitrag zur Bildung einer revolutionären Partei zu leisten, die für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft unersetzbar ist.