Türkei: Eine vernichtende Niederlage für Erdogan

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Die Kommunalwahlen könnten den Anfang vom Ende der AKP-Herrschaft bedeuten

Am 31. März 2024 straften die Wähler in der Türkei Erdogans rechte, pro-kapitalistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ab, die seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht ist. Nach ihrem Wahlsieg in den Großstädten im Jahr 2019 konnte die selbsternannte sozialdemokratische kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) die Kontrolle über die Großstädte behalten.

Von Nazim und Berkay, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) 

In Istanbul gewann Ekrem Imamoglu von der CHP die Wahl mit 51 Prozent der Stimmen gegen Murat Kurum (40 Prozent), seinen stärksten Konkurrenten von der AKP. In der Hauptstadt Ankara gewann der CHP-Kandidat Mansur Yavas die Wahl mit 60 Prozent und erhielt damit doppelt so viele Stimmen wie der AKP-Kandidat. Im Vergleich zu 2019 konnte die CHP ihren Stimmenanteil sowohl in Istanbul als auch in Ankara deutlich steigern. 

Kommunalwahlen mit nationalem Bezug

Im Mai 2023 gewann Erdogan die Präsidentschaftswahlen, wenn auch in einem recht knappen Rennen gegen den CHP-Kandidaten Kemal Kilicdaroglu. Erdogan errang diesen Sieg trotz des verheerenden Erdbebens vom Februar 2023 – bei dem tragischerweise über 50 000 Menschen ums Leben kamen und kolossale Schäden angerichtet wurden – und der sich verschärfenden Wirtschaftskrise.

Im Vorfeld der Kommunalwahlen 2024 war es Erdogans Ziel, die großen Städte des Landes – Istanbul, Ankara, Antalya und Adana – zurückzuerobern, die nach den letzten Kommunalwahlen 2019 an die Opposition gefallen waren. 

Mehr als anderswo war die Niederlage in Istanbul ein schwerer Schlag für die AKP, denn in den Worten Erdogans: “Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei”. Istanbul ist die Vorzeigestadt, in der Erdogan seine politische Karriere als Bürgermeister von 1994 bis 1998 begann. Mit einer geschätzten Bevölkerung von über 16 Millionen Menschen erwirtschaftet Istanbul mehr als 30 Prozent der türkischen Wirtschaftsleistung. 

Die Oppositionsparteien haben die Wahlen unter völlig undemokratischen Bedingungen gewonnen, wobei Erdogan verzweifelt versuchte, seinen starken Einfluss auf den türkischen Staatsapparat und die Medien auszunutzen. 

Trotzdem erlitt Erdogan landesweit eine vernichtende Niederlage. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren gelang es Erdogans AKP nicht, landesweit die stärkste Partei zu werden. Die CHP erhielt 37,5 Prozent der Stimmen gegenüber 35,6 Prozent für die AKP, während die CHP im Jahr 2019 30 Prozent und die AKP 44,3 Prozent der Stimmen erhielt. 

Landesweit hat die AKP mehr als 4,7 Millionen Stimmen verloren und die CHP 3,3 Millionen Stimmen gewonnen. Unerwarteterweise hat die CHP AKP-Hochburgen in Zentralanatolien gewonnen. In einigen konservativen ländlichen Gebieten liegt die CHP zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten in den Umfragen voran. 

Wirtschaftskrise und Gaza 

Obwohl einige behaupten, der Sieg der CHP sei auf den Führungswechsel im November 2023 zurückzuführen, stimmt dies nicht. 

Auch wenn sich die CHP bei dieser Wahl viel stärker auf die Sozialpolitik konzentriert hat, gab es keine echte Begeisterung für die CHP. Die Wähler bestraften Erdogan und die lokalen AKP-Politiker, indem sie für jene Kandidat*innen stimmten, die am wahrscheinlichsten gewinnen würden. 

Die Türkei befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise, mit einer Inflation von 123 Prozent Anfang 2024. Um die Inflation einzudämmen, hat Erdogan seine unorthodoxe Wirtschaftspolitik aufgegeben, nach der niedrigere Zinssätze die Inflation verringern würden. Die Zentralbank hat die Zinssätze von 15 Prozent im Juni 2023 auf 47 Prozent im letzten Monat erhöht. Doch die Inflation steigt weiter an, und es droht eine massive Schuldenkrise am Horizont. 

Vor den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 hat Erdogan eine enorme Menge an Geld in die Wirtschaft gepumpt, das in die Taschen der armen Menschen floss. So hat er beispielsweise den nationalen Mindestlohn deutlich erhöht und das Benzin für alle Haushalte einen Monat lang kostenlos gemacht. 

Doch nach den Präsidentschaftswahlen hat die Regierung unter der Führung des neuen Finanzministers Mehmet Simsek Sparmaßnahmen eingeführt und die Zinssätze deutlich erhöht. Die Arbeitslosigkeit hat zu steigen begonnen und wird in nächster Zeit wahrscheinlich stark ansteigen. 

Die CHP hat ihr bestes Ergebnis seit den Parlamentswahlen 1977 erzielt. Dennoch sollten diese Ergebnisse als eine Niederlage für das verkommene AKP-Regime betrachtet werden. Die von der AKP-Regierung nach den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr durchgeführte Sparpolitik hat dazu geführt, dass die Lebenskostenkrise für die Mehrheit der Bevölkerung noch unerträglicher geworden ist. 

Die Wähler wollten Erdogan bestrafen, und es wurde nach einer linken Alternative gesucht. Die CHP hat von dieser Wut profitiert, aber sie bleibt dem kapitalistischen System verhaftet, das gegen die Armen gerichtet ist. Sie verspricht zwar eine Politik zur Linderung der Armut, aber sie verteidigt nicht die Interessen der Arbeiter*innenklasse und der Armen. Die CHP-geführten Geminderät*innen werden in der kommenden Periode noch mehr Herausforderungen zu bewältigen haben, da die AKP weitere Kürzungen bei den öffentlichen Diensten vornimmt. Sie werden wahrscheinlich gezwungen sein, Arbeitsplätze und Dienstleistungen zu streichen.

Neben der Wirtschaftskrise hat auch Israels Krieg gegen Gaza zu Erdogans Niederlage beigetragen. Während Erdogan öffentlich die Brutalität des israelischen Staates verurteilte und sogar sagte, die Hamas sei keine terroristische Organisation, um seine soziale Basis zu stärken, sah die Realität anders aus.

Es wurde aufgedeckt, dass nicht nur türkische Unternehmen weiterhin mit Israel Handel treiben, einschließlich Waffenverkäufen, sondern dass auch staatliche Unternehmen und AKP-Politiker direkt oder indirekt in den Handel mit Israel verwickelt waren. Diese Enthüllung wirkte sich insbesondere auf islamisch-konservative Wähler aus. 

Dies wurde durch den unerwarteten Aufstieg der Neuen Wohlfahrtspartei (YRP) deutlich, einer 2018 gegründeten islamischen Partei, die aus derselben politischen Tradition wie die AKP stammt. Sie wurde mit 6,2 Prozent der Stimmen und fast 3 Millionen Stimmen zur drittstärksten Partei, was fast einer Verdoppelung ihres Ergebnisses bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr entspricht. Neben ihrer Haltung zum Gaza-Streifen sprach auch ihre Rede von einer “gerechten Ordnung” die Kernbasis der AKP an. 

Angriffe auf demokratische Rechte

Die Partei für Gleichheit und Demokratie des Volkes, die DEM-Partei (ehemals HDP), erhielt 5,7 Prozent der Stimmen, d. h. 2,6 Millionen Stimmen, gegenüber 1,9 Millionen im Jahr 2019, und das trotz systematischer Repressionen gegen alle ihre Führer und Mitglieder/Aktivist*innen.

Um zu verhindern, dass die DEM-Partei gewinnt, hat der türkische Staat in mehreren Provinzen Tausende von Soldaten in diese Gebiete verlegt, damit sie ihre Stimme abgeben konnten. Die DEM-Partei erzielte jedoch in 10 Provinzen sehr gute Ergebnisse und konnte alle ihre Hochburgen im Osten und Südosten halten. In den großen Städten wie Istanbul und Ankara wählten die Kurd*innen die CHP, um die verhasste AKP loszuwerden, obwohl die DEM-Partei in diesen Städten ihre eigenen Kandidat*innen aufstellte.

In Van gewann die DEM-Partei die Wahl mit mehr als 55 Prozent der Stimmen, doch die türkische Wahlbehörde sprach der AKP den Sieg zu und begründete dies mit einer früheren Verurteilung. Nach Massenprotesten in Van und mit breiter Unterstützung in der gesamten Türkei sah sich die Regierung zu einer Kehrtwende gezwungen und gab den Sieg an die DEM-Partei zurück. Dies war ein wichtiger Sieg, der die Verwundbarkeit von Erdogans Regime angesichts der Massenproteste deutlich macht. 

Er zeigt auch, dass es in der kommenden Zeit zu Massenkämpfen für demokratische und nationale Rechte kommen könnte. Die Linke muss bereit sein, für diese Rechte einzutreten und sie mit dem Kampf für den Sozialismus zu verbinden. 

Die Linke

Die TIP, die Arbeiter*innenpartei der Türkei, gewann zwei Gemeinderatsmandate, darunter Samandag, wo sie 47 Prozent erhielt und die CHP schlug. Samandaga ist ein Bezirk in Hatay, einer Stadt, die von dem Erdbeben schwer betroffen war. Der Kandidat der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP) für einen anderen Bezirk in Hatay, Defne, war dem Sieg sehr nahe. Außerdem gewann die Linkspartei Mandate in zwei Bezirken.

In Gebze, einer Industriestadt in der Nähe von Istanbul, in der die Gewerkschaften relativ stark vertreten sind, erzielte der Generalsekretär der TIP ein gutes Ergebnis und erhielt 20 Prozent der Stimmen. Es war bezeichnend, dass es in einem Gebiet, in dem es eine sehr hohe Konzentration von Industriearbeitern gibt, eine linke Herausforderung gab. 

Die TIP verzichtete in den kurdischen Hochburgen zugunsten der DEM-Partei auf die Aufstellung von Kandidat*innen, und in einigen Gebieten erlag sie der Stimmung des geringeren Übels und beschloss, nicht gegen die CHP anzutreten. 

Im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2023 hat die TIP deutlich weniger Stimmen erhalten. Sie wurde von der Stimmung des geringeren Übels erdrückt, da die Menschen Erdogan unbedingt loswerden wollten. 

Doch leider war die Linke nicht organisiert. Anstatt eine Einheitsfront mit Arbeiter*innen- und sozialistischen Organisationen zu bilden, standen sich linke Parteien in Bereichen gegenüber, in denen die Linke anständige Ergebnisse erzielen konnte. In Defne hätte ein*e Sozialist*in gewählt werden können, wenn es nur eine*n Kandidat*in der Linken gegeben hätte. 

Wie die Wahlergebnisse zeigen, wächst die Wut auf das AKP-Regime und es wird nach einer Alternative gesucht. Die Linke hätte eine einheitliche Kampagne aufbauen können, um die Lebenshaltungskostenkrise anzugehen und einen sozialistischen Ausweg anzubieten. 

Erdogan hat deutlich gemacht, dass das Sparprogramm fortgesetzt würde. Trotz der Anhebung der Zinssätze nimmt die Inflation weiter zu. Diese Politik hätte weitreichende Folgen, da immer mehr Menschen in tiefe Armut stürzen würden. 

Es ist dringend notwendig, dass die kurdische und türkische Arbeiter*innenklasse gemeinsam für eine politische Massenstimme kämpft, die die Lebenshaltungskostenkrise bekämpft und die Interessen der Arbeiter*innenklasse verteidigt. 

Eine Einheitsfront von Arbeiter*innen- und sozialistischen Parteien mit einem sozialistischen Programm ist in dieser Zeit unerlässlich. Wie sich dies entwickeln könnte, ist eine andere Frage. Aber eine Sache, die diese Wahl gezeigt hat, ist, dass es eine Suche nach einer Alternative für die Arbeiter*innenklasse gibt, die die Lebenshaltungskostenkrise angeht. Die Linke muss klare Klassenforderungen aufstellen, wie die Wiederverstaatlichung der wichtigsten Versorgungsbetriebe, eine inflationsgeschützte Lohnerhöhung für alle Arbeiter*innen, einen Schuldenerlass und voll finanzierte Dienstleistungen, und dies mit der Notwendigkeit einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft verbinden. 

In der kommenden Periode wird es viele Gelegenheiten geben, bei denen sich Massenkämpfe entwickeln können, die die Notwendigkeit eines Bruchs mit dem Kapitalismus deutlich machen würden. Aber der Aufbau demokratischer Massenorganisationen der Arbeiter*innenklasse wird von entscheidender Bedeutung sein, um sich auf die gigantischen Kämpfe vorzubereiten, die vor uns liegen.