Die Spaltung des CWI 2019 – eine Bilanz
2019 spaltete sich das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) und die damalige deutsche Sektion, die Sozialistische Alternative (SAV). Über siebzig Mitglieder, einschließlich der Mehrheit der alten SAV-Führung, gründeten die Sozialistische Organisation Solidarität (Sol). „sozialismus heute“ sprach mit Tom Hoffmann über die Hintergründe.
Vor fast fünf Jahren brach im Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) eine heftige Debatte aus. Wieso kam es 2019 zur Spaltung in der Internationale und zur Gründung der Sol?
In diesem Zeitraum haben sich in CWI und SAV, der damaligen Sektion in Deutschland, die Entwicklung unterschiedlicher politischer Trends offenbart, die keine Zukunft in einer gemeinsamen Organisation hatten. Über einen monatelangen Diskussionsprozess haben sich grundlegende Differenzen in Programm, Methode, Perspektiven und Organisationsprinzipien bestätigt und vertieft.
Das betraf unter anderem die Anwendung dessen, was wir ein sozialistisches Übergangsprogramm nennen, die systematische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Perspektiven und Programm für den Kampf gegen Unterdrückung, ein (un-)kritisches Verhältnis zur Identitätspolitik und Auffassungen über Prinzipien innerparteilicher Demokratie in einer revolutionären Organisation.
Viele sehen die Zersplitterung der Linken als einen Hauptgrund für ihre Schwäche. Kannst du verstehen, dass Spaltungen deshalb mit Unverständnis aufgenommen werden?
Ich kann sehr gut verstehen, dass viele Leute das so sehen. Einheit ist ein hohes Gut im Klassenkampf und die Sol steht für Einheit im gemeinsamen Kampf mit allen, die für die Belange der Arbeiter*innenklasse kämpfen wollen oder den Anspruch haben. Wo diese den Klassenkampf vorantreiben, arbeiten wir heute in Bündnissen, Mieter*innenorganisationen, Gewerkschaften und der Linken zusammen, kooperieren mit anderen linken und sozialen Organisationen, u.a. unseren Ex-Genoss*innen der SAV, und bringen unsere Ideen ein. Dass wir keine sektiererische Haltung einnehmen, zeigt sich alleine schon daran, dass wir seit vielen Jahren für die Bildung breiter sozialistischer Arbeiter*innenparteien eintreten und in diesem Sinne in der WASG und der Partei Die Linke gewirkt haben.
Aber eine revolutionäre Organisation hat den Anspruch ein Programm entwickelt zu haben, welches die Arbeiter*innenklasse an die Macht führen und den Kapitalismus stürzen kann. Die Einheit einer revolutionären Organisation ist an engere programmatische und organisatorische Prinzipien und eine gemeinsame politische Methode geknüpft. In der Geschichte haben sich Spaltungen ja dann auch als gerechtfertigt erwiesen, wenn diese gefährdet waren. Die Spaltung in Bolschewiki und Menschewiki ist ein gutes Beispiel. Einheit darf nicht über Klarheit stehen.
Niemand sollte in einer revolutionären Organisation leichtfertig für eine Trennung der Wege eintreten. Aber wer leichtfertig mit seinen Prinzipien umgeht, ist verloren. Kompliziert wird es, weil sich Prinzipien nicht durch Zustimmung zu bestimmten abstrakten Begriffen oder auch zu bestimmten Texten verwirklichen, sondern durch ihre konkrete Anwendung in der heutigen Zeit. Im CWI hatten sich solche Unterschiede in der Anwendung entwickelt, die durch die Debatte nicht ausgeräumt werden konnten, sondern sich im Gegenteil teilweise erst offenbarten bzw. verstärkten.
Wie kam es denn überhaupt zu dieser Debatte?
Ausgebrochen ist sie Ende 2018 auf einer Sitzung des internationalen Vorstands des CWIs. Im Mittelpunkt stand zunächst die damalige irische Sektion, deren politische Ausrichtung sich zu verändern begonnen hatte – doch zeigte sich, dass das nicht auf diese eine Sektion beschränkt war bzw. andere Genoss*innen die daraus resultierenden Gefahren nicht erkannten und die Mehrheit in der irischen Führung verteidigten.
In Reaktion auf die Diskussionen auf dieser Sitzung erkannten Mitglieder aus England und Wales, Schottland, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Venezuela, Südafrika, Malaysia, Indien und Sri Lanka, dass sich ein politischer Trend entwickelte, der grundlegende Prinzipien, Programm und Ausrichtung des CWI in Frage stellte. Um das zu verhindern und die Auseinandersetzung transparent, demokratisch und organisiert führen zu können, gründeten diese Genoss*innen am Ende der Sitzung eine Fraktion mit dem Namen “In Defence of a working-class Trotskyist CWI” (In Verteidigung eines auf die Arbeiter*innenklasse orientierten, trotzkistischen CWI). Der Name war sperrig, weshalb wir ihn im Alltag bald auf “Internationale Fraktion” abkürzten, aber er brachte zum Ausdruck, worum es ging, nämlich unsere Prinzipien. Ihr schlossen sich im weiteren Verlauf auch Genoss*innen aus anderen Ländern an.
Die Fraktion sah als eine ihrer ersten Aufgaben, auf die objektiven Ursachen dieser Entwicklung hinzuweisen. Der Kapitalismus war schon 2018 in einer langgezogenen Krise und hat sich von den Auswirkungen des Crashs von 2007/08 nie wirklich erholt. Trotzdem mussten wir feststellen, dass die Arbeiter*innenklasse ideologisch, politisch und organisatorisch weiter geschwächt war. Die Folgen des Zusammenbruchs des Stalinismus waren noch nicht überwunden.
Massenbewegungen und Aufstände waren in vielen Ecken der Welt eine Folge der Großen Rezession. Es kam zum so genannten Arabischen Frühling, den Platzbesetzungen in Südeuropa, erstmals einem europaweit koordiniertem Streiktag. Syriza kam an die Regierung, Podemos wurde gegründet und andere linke Parteien erstarkten. Aber all das führte letztlich nicht zu grundlegenden Veränderungen. Sozialistische Ideen waren immer noch kein Massenphänomen geworden und die Gründung kämpferischer Arbeiter*innenparteien lies auf sich warten. Dieser Widerspruch erzeugte Enttäuschung und auch großen Druck auf Linke und Marxist*innen und war ein Rezept dafür, nach Abkürzungen zu suchen – wenn die Arbeiter*innenklasse nicht den Weg weist, dann vielleicht andere Kräfte, wie die Frauen- oder Umweltbewegung, haben sich einige gedacht.
Wie äußerte sich das denn in der Debatte? Du sagtest ja, es ging um eine ganze Reihe von Themen…
Ein ganz entscheidender Aspekt war das, was wir im CWI als Übergangsmethode bezeichnen. Viele „trotzkistische“ Organisationen beziehen sich auf das 1938 verabschiedete und von Leo Trotzki verfasste Gründungsmanifest der Vierten Internationale, das als „Übergangsprogramm“ bekannt wurde. Dabei führt Trotzki unter anderem aus, dass es nötig ist, den Kampf der Arbeiter*innen um ihre unmittelbaren Interessen mit dem Kampf für eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft zu verknüpfen. Ein System von „Übergangsforderungen“ soll diese beiden Pole verbinden. Das ist heute immer noch nötig, aber unter anderen Bedingungen – weswegen die meisten Gruppen dabei scheitern, Trotzkis Methode auf die heutige Zeit anzuwenden.
Im Gegensatz zu 1938 gibt es heute zum Beispiel kein verbreitetes Bewusstsein in der Arbeiter*innenklasse darüber, was Sozialismus überhaupt ist und warum er die nötige Alternative zum Kapitalismus darstellt. Deshalb ist es erstens nötig, sozialistische Ideen im Allgemeinen wieder zu verbreiten und zweitens diese selbst genauer erklären. Auch wenn der Kapitalismus mittlerweile in breiten Teilen der Bevölkerung kein gutes Image hat, muss man dabei zuweilen immer noch gegen den Strom schwimmen – vor allem wenn man sich an größere Teile der Arbeiter*innenklasse wendet.
Doch die heutigen ISA-Genoss*innen fingen an diese Aufgabe zu vernachlässigen. In der damaligen irischen Sektion fing das damit an, dass im Wahlkampf 2017 ein faktisch linksreformistisches Programm aufgestellt worden war, welches bei der Besteuerung von Reichtum stehen blieb und nicht die Eigentumsfrage, d.h. zum Beispiel Forderungen nach Verstaatlichungen unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung, aufwarf. In der Kampagne für das Recht auf Abtreibung 2018, wo die Sektion eine wichtige Rolle spielte, setzte sich das fort. Dort wurde kein Forderungskatalog vertreten, der systematisch über die Forderungen der Bewegung hinausgegangen wäre, neben der juristischen Frage auch soziale Fragen in den Mittelpunkt gestellt hätte und so den Bogen zu einer sozialistischen Veränderung der Gesellschaft gespannt hätte. Es hieß zwar in Flugblättern, man müsse den Kapitalismus „sozialistisch herausfordern“ („We need a socialist challenge to capitalism.“). Aber erstens muss man den Kapitalismus nicht nur „herausfordern“, sondern überwinden und zweitens lässt dass die meisten Leser*innen ratlos zurück, wenn man es nicht genauer erläutert, warum eine sozialistische Veränderung nötig ist und was sie konkret bedeutet.
Wir glauben, dass man durch Übergangsforderungen aufzeigen muss, dass sozialistische Maßnahmen nötig sind, um die Interessen der Arbeiter*innenklasse insgesamt zu verteidigen.
Ein anderes Beispiel aus der Debatte zeigte besonders anschaulich, was passiert wenn man keinen Klassenstandpunkt mehr einnimmt – also einen Fehler in gewisser Hinsicht in die andere Richtung begeht und aufhört den Kampf um die unmittelbaren Interessen zu führen. In einer griechischen Stadt mobilisierte die Umweltbewegung gegen eine ansässige Goldmine und sprach sich für ein Ende der Produktion aus. Die damalige griechische Sektion schrieb dazu einen Artikel, in dem die Beschäftigten gefragt wurden, ob ihnen ihr durch die Umweltzerstörung gefährdetes Leben und das ihrer Familien nicht wichtiger wäre, als ihr Job – sie wurden also implizit aufgefordert, diesen aufzugeben! Zentrale Forderungen nach Erhalt aller Arbeitsplätze und Verstaatlichung der Goldmine als Grundlage für eine nachhaltige Produktionsumstellung fehlten.
Hat sich dieser Trend denn seit der Spaltung weiter entwickelt?
Ja, absolut. Die SAV hat heute zum Beispiel unter der Rubrik “Wer wir sind” auf ihrer Website und auch in ihrer Zeitschrift keinen Katalog von Übergangsforderungen mehr zu stehen, welche zwischen den alltäglichen Problemen des Kapitalismus und der sozialistischen Systemalternative die Brücke schlagen. In der Fraktionsdebatte hatten das einige heutige SAV-Genoss*innen noch gemeinsam mit uns an der irischen Sektion kritisiert, die das in ihrer Zeitung nicht mehr abgedruckt hatte.
Natürlich heißt das nicht, dass man heute keine Artikel mehr bei SAV und ISA findet, die sich zum Beispiel für Verstaatlichung aussprechen. Sie haben ja auch nicht vom Sozialismus abgeschworen, aber die Vorstellung davon, wie man den Kampf für Sozialismus führen sollte, haben sich geändert. Das ist vielleicht ein wichtiger allgemeiner Punkt: Das Problem ist nicht, dass alles was die SAV oder die ISA heute schreiben und machen, falsch ist. Viele andere linke Gruppen schreiben auch immer wieder gute Artikel, veröffentlichen richtige Forderungen usw. Das Problem ist viel mehr, dass die Konsistenz verloren gegangen ist, was Programm, Perspektiven und Herangehensweise angeht. Damit aber schult man die eigene Mitgliedschaft in falschen Methoden – wenn man in dem einen Artikel das und in dem anderen Artikel jenes schreibt, in Positionen schwankt oder Wendungen vollzieht, ohne sie zu begründen.
In der ISA hat sich das zum Beispiel darin ausgedrückt, dass man nicht mehr konsistent das beherzigt, was das CWI als „Doppelte Aufgabe“ entwickelt hat.
Kannst du das ausführen? Inwiefern hat die ISA die „doppelte Aufgabe“ denn aufgegeben?
Das CWI hatte aus dem zurückgeworfenen Bewusstsein in der Arbeiter*innenklasse und der Verbürgerlichung der Arbeiter*innenparteien nach dem Niedergang des Stalinismus die Schlussfolgerung gezogen, dass die Aufgabe von Marxist*innen in dieser neuen Zeit darüber hinaus geht, nur eine revolutionär-marxistische Organisation aufzubauen. Es ist auch nötig, sozialistische Ideen überhaupt wieder zu verbreiten, für neue massenhafte Arbeiter*innenparteien einzutreten und die Arbeiter*innenbewegung als solche wiederaufzubauen. Insbesondere die Forderung nach einer neuen Arbeiter*innenmassenpartei, welche ein wichtiger Schritt auf dem Weg hin zu einer revolutionären Massenkraft sein könnte, spielt in unserer Herangehensweise in den meisten Ländern eine wichtige Rolle.
Doch diese Forderung wirft die ISA heute nicht mehr konsistent auf. Das zeigte sich über einen Zeitraum besonders in den USA durch ein unkritisches Verhältnis zum linken Flügel der Demokraten. Die Socialist Alternative wurde im Verlauf unserer Debatte immmer zögerlicher ihre Kritik an Bernie Sanders im Vorwahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen 2020 zu formulieren. Sanders erhielt trotz seiner Niederlage bei den Demokraten-Vorwahlen 2016 gegen Clinton weiter Massenunterstützung für seine linken Forderungen. Marxist*innen hätten daran positiv ansetzen, aber die Erfahrung von 2016 deutlich in Erinnerung rufen und Sanders offensiv auffordern müssen, mit der Orientierung auf die pro-kapitalistischen Demokraten zu brechen und den Aufbau einer neuen Arbeiter*innenpartei mit allen Unterstützer*innen dieser Idee anzugehen. Unsere Genoss*innen schreckten davor mehr und mehr zurück, zum Beispiel bei Reden auf Sanders-Veranstaltungen und in einigen Fällen begannen sie Kandidat*innen der Demokratischen Partei zu unterstützen.
Heute, wo Sanders nicht mehr antritt und viel von seiner Unterstützung eingebüßt hat, weil er diese Chancen nicht ergriffen hat, und die US-Demokraten durch die Biden-Präsidentschaft diskreditiert sind, taucht die Forderung nach einer neuen Arbeiter*innenpartei wieder offensiver im Material von Socialist Alternative auf. Dafür begehen sie verheerende Fehler an anderer Stelle, zum Beispiel als sie 2023 den Stadtratssitz von Kshama Sawant in Seattle kampflos aufgaben.
2013 wurde Kshama als erste Sozialistin landesweit seit Jahrzehnten in den Stadtrat gewählt. Die Errungenschaften im Stadtrat, unter anderem die Erringung eines 15-Dollar-Mindestlohns oder die Kampagnen zur Besteuerung von Amazon, waren Meilensteine für die gesamte Linke in den USA und wirkten selbst international. Diese erreichte sie damals als Unterstützerin des CWIs und auf der Basis der Methoden unserer Internationale und auch durch die politische Unterstützung des CWI. Doch im Januar 2023 erklärte sie öffentlich, nicht erneut zu kandidieren.
Die Begründung war haarsträubend: weil die Gewerkschaftsführungen die Demokraten unterstützen, wolle man die Priorität auf eine Kampagne namens “Workers Strike Back” legen, die den Klassenkampf von unten voran treiben solle. Wahrscheinlicher ist, dass Socialist Alternative einer Wahlniederlage in Seattle zuvorkommen wollte.
Wir haben unsere Kritik an diesem Schritt formuliert, den wir als kampflose Aufgabe einer wichtigen gewonnenen Position betrachten. Die “Workers Strike Back”-Kampagne ist nicht nur hinsichtlich ihres Potenzials überhaupt kein adäquater Ersatz für den Stadtratssitz, der eine jahrelang aufgebaute Position gegen das Kapital bedeutete. Sie und Kshamas Begründung beinhalten auch die Gefahr in einen praktischen „Anti-Parlamentarismus“ zu verfallen. Denn “Workers Strike Back” spricht zwar von der Notwendigkeit einer neuen politischen Partei, aber stellt sich nicht der Aufgabe, auch Wahlkampagnen für parlamentarische Positionen zu organisieren.
Nebenbei bemerkt: Ob man diese Kritik nun teilt oder nicht, es spricht leider Bände, dass sich in den Dokumenten des 13. Weltkongress der ISA kein einziges Wort zum Rückzug aus dem Stadtrat findet! Entweder die ISA geht diesen kritischen Fragen und einer internen Diskussion damit aus dem Weg oder die ISA findet es tatsächlich nicht besonders wichtig, Bilanz über diese Entscheidung zu ziehen, sich von einer der herausragendsten Positionen abzuwenden. Dass nun ein Artikel mit dem Titel „Ungeschlagen: Die Lehren aus zehn Jahren, in der eine Sozialistin im Amt war“ veröffentlicht wurde wirkt wie Realitätsverlust, wenn man das kampflose Preisgeben einer wichtigen Position als „Ungeschlagen“ bezeichnet. Das ist ungefähr so, als ob eine Fußballmannschaft nach der zweiten Runde im DFB-Pokal nicht mehr antritt und dann heraus posaunt, sie sei ungeschlagen…
Aber stimmt dann der Vorwurf, dass sich die ISA von systematischer Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit verabschiedet hat, wenn sie solche Kampagnen gründet?
Systematische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit ist ja etwas anderes als eine neue Kampagne in einem Land zu gründen. In einigen ehemaligen Sektionen wurde die systematische Arbeit in Betrieben und Gewerkschaften in unserer Debatte ganz offen in Frage gestellt – also dass es nicht nötig wäre, auf diese aktuell größten Organisationen der Arbeiter*innenklasse eine dauerhafte politische Orientierung zu haben und auch praktisch danach zu streben, sich in ihnen zu verankern und für einen kämpferischen Kurswechsel bzw. sozialistische Ideen zu kämpfen.
Nicht nur die Iren stellten das in Frage. Die Führung der griechischen Sektion sagte damals, dass sich die Arbeit in den Gewerkschafts-Dachverbänden aufgrund deren bürokratischer Strukturen nicht lohne. Sie beschränkte nicht nur ihre praktischen Interventionen auf die Ebene einzelner Betriebe (was je nach Organisationgröße legitim sein kann), sie gab das Ziel des Aufbaus einer betriebsübergreifenden, gewerkschaftlichen Opposition auf. Das haben wir zurückgewiesen.
Natürlich sind die meisten Gewerkschaften heute bürokratisch organisiert und geschwächt. In bestimmten Situationen ist es auch möglich, dass sich Kämpfe von Arbeiter*innen deshalb an diesen Organisationen vorbei entwickeln – und darauf muss man vorbereitet sein. Aber die Erfahrungen des letzten Jahres haben bestätigt, dass die meisten Arbeiter*innen die Gewerkschaften als Werkzeuge zur Verteidigung ihres Lebensstandards wiederentdecken und in dem Prozess versuchen werden, diese Organisationen „instand zusetzen“.
Die Arbeit von linken und sozialistischen Kräften kann dabei eine wichtige vorbereitende Rolle spielen. In Großbritannien war ein wichtiger Faktor für das Ausmaß der letzten Streikwelle und das Erstarken der Unite-Gewerkschaft, dass sich die kämpferische Kandidatin Sharon Graham bei der Wahl zur Generalsekretärin durchsetzte. Das war auch Ergebnis von jahrzehntelanger Arbeit, welche Mitglieder der Socialist Party und anderer linker Kräfte in der Gewerkschaft geleistet hatten.
Welche Rolle spielte Identitätspolitik?
Identitätspolitik spielte eine große Rolle. Sie war Teil eines umfassenderen Prozesses, welcher darauf hinaus lief, die Zentralität der Arbeiter*innenklasse bei der sozialistischen Veränderung in Frage zu stellen und sich stattdessen vermeintlich radikaleren oder „progressiveren“ Schichten zuzuwenden, zum Beispiel den Aktivist*innen in Frauen-, LGBTIQ-, Klimabewegung. In diesen spielen identitätspolitische Ideen eine große Rolle. Diese Ideen hatten bereits begonnen, sich in den Reihen unserer damaligen Genoss*innen zu verfestigen.
Vielleicht sollten wir aber vorher klären, was wir unter Identitätspolitik verstehen. Für uns ist Identitätspolitik eine spezifische Vorstellung vom Kampf gegen Unterdrückung, welche sich dem gemeinsamen Kampf der Arbeiter*innenklasse und aller Unterdrückten entgegenstellt. Eine sozialistische Klassenpolitik betont die gemeinsamen Interessen der Mehrheit gegen die kapitalistische Minderheit; die Verantwortung des Kapitalismus für Rassismus, Sexismus und andere Diskriminierungsformen und zeigt von diesem Standpunkt, warum ein gemeinsamer Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung nötig ist. Identitätspolitik betont, was die Arbeiter*innenklasse spaltet, nicht was sie vereint. Sie verwischt die Verantwortung des Kapitalismus für Diskriminierung und erschwert den gemeinsamen Kampf, wenn sie es zur Voraussetzung macht, dass Arbeiter*innen zum Beispiel erstmal ihre (vermeintlichen) Vorurteile, „Privilegien“ usw. reflektieren sollen.
In Irland, wo die Socialist Party in der Kampagne zum Referendum über das Recht auf Abtreibung wie gesagt programmatische Fehler gemacht hatte, gab es immer mehr eine verengte Orientierung auf diese jungen „radikalisierten“ Schichten. Hier wurde während der Debatte zum Beispiel von einem führenden irischen Mitglied gesagt, wer die „Sprache der Frauenbewegung“ nicht spricht, also zum Beispiel mit Begriffen wie „Heteronormativität“ nichts anfangen kann, sollte kein Mitglied der Organisation werden. Und dem wurde nicht widersprochen.
Diese falsche Orientierung zeigte sich auch bei Wahlkämpfen. 2019 bei den Europa-Wahlen war ein Hauptslogan der Socialist-Party-Kandidatin in Dublin „Für eine sozialistisch-feministische Stimme für Europa“. Das vermittelte den Eindruck, dass sie keine Kandidatin für die ganze Arbeiter*innenklasse und deren Nöte ist, sondern nur einen bestimmten Teil anspricht – den der sich als „feministisch“ versteht. Bis zu und bei den späteren Parlaments- und Kommunalwahlen setzte sich diese Orientierung fort. Es gab sogar ein Plakat, auf dem stand nur „Für Frauen“. Die Socialist Party verlor dort sehr viele Mandate. Das lag vor allem auch an der Stärke der nationalistischen Sinn Feín, aber es ist bedeutend dass andere linke Parteien weniger Einbußen zu verzeichnen hatten, weil sie den Schwerpunkt auf soziale Themen legten.
Auch in der SAV haben sich seit der Spaltung identitätspolitische Ideen vermehrt. Auf der Website finden sich mittlerweile Artikel, in denen “alten weißen Männern” per se unterstellt wird, sich von “kämpferischen Frauen” bedroht zu fühlen und nicht mehr aufgezeigt wird, dass der Kampf gegen Diskriminierung als gemeinsamer Klassenkampf geführt werden muss. Ihr Artikel zum Kürzungshaushalt der Bunderegierung ist überschrieben mit „Angriff auf Frauen, Kinder und Geflüchtete“ – als ob andere Schichten der Arbeiter*innenklasse nicht betroffen wären. In Bremen organisierte sie in diesem Jahr eine Veranstaltung mit dem Titel „Weaponized Male Incompetence und unbezahlte Care-Arbeit“; also auf deutsch sowas wie „Bewusst eingesetzte, männliche Inkompetenz und unbezahlte Sorgearbeit“. Wir wissen natürlich nicht was dort diskutiert wurde, aber allein der Titel vermittelt die falsche Orientierung von Identitätspolitik, welche die Ursache für ein Problem wie ungleich verteilte Hausarbeit beim Verhalten von Männern im Allgemeinen statt beim Kapitalismus ausmacht und auf individuelle Reflektion statt gemeinsame Kämpfe zur gesellschaftlichen Veränderung setzt.
Welche Bilanz ziehst du aus der Spaltung und wie siehst du die Entwicklung beider Organisationen heute?
Ich glaube, es hat sich völlig bestätigt, was wir gesagt haben: Dass die ISA heute eine grundlegend andere politische Strömung ist. Mittlerweile sieht das auch die ISA so. In der Debatte war das noch anders, da wollten die heutigen ISA-Mitglieder keine großen politischen Differenzen bemerken. Von einigen war das damals schon nicht ganz ehrlich, denke ich – das war damals eine vorgeschobene Behauptung, um den Eindruck zu erwecken, dass wir eine „unnötige Spaltung“ forcieren würden. Wer möchte, kann sich die beiden Erklärungen zur Spaltung auf der Archiv-Website der SAV von damals durchlesen. Leider hat das damals von den wesentlichen politischen Fragen abgelenkt. 2022 veröffentlichte die ISA zum Beispiel einen Artikel, indem uns theoretische Schwächen und “Mangel von systematischer sozialistisch-feministischer Arbeit über Jahrzehnte” vorgeworfen werden. Dass das den Genoss*innen so lange aber scheinbar nicht auffiel, wird nicht thematisiert. Leider ist der Artikel von falschen Behauptungen und selektivem Zitieren geprägt, wie wir in unserer Antwort darstellen.
In der Debatte war schon deutlich geworden, dass die Unterstützer*innen der Gegenseite im damaligen Fraktionskampf tatsächlich unterschiedliche politische Positionen zu den verschiedenen Fragen einnahmen – der Kitt, der sie zusammenhielt, war die Opposition gegen uns. Unsere Warnungen, dass sie durch diesen unpolitischen Block die nächsten Spaltungen bzw. eine föderalistische Entwicklung vorbereiten, haben sich bestätigt. Sektionen und Gruppen in Griechenland, Zypern, Türkei, Schweden und Taiwan haben die ISA verlassen – zum Teil ging es um Differenzen zu Perspektiven, zur Frage von Identitätspolitik und dem Organisationsaufbau der Internationale. Man hört, dass sich mittlerweile zwei faktische Blöcke innerhalb der ISA herausgebildet haben, die wachsende Differenzen haben.
Zuletzt hat mit Albert Kropf ein führendes ISA-Mitglied aus Österreich den Weg zurück ins CWI gefunden und seine damalige Entscheidung als Fehler bilanziert. Das ist sehr ermutigend und wenn es kritische ISA-Mitglieder gibt, die ähnliche Erfahrungen nach der Spaltung gemacht haben, laden wir sie herzlich zur Diskussion mit uns ein. Für die Sol und das CWI war die Fraktionsauseinandersetzung wie ein Wetzstein, auf dem wir Programm und Methode schärfen konnten. Wir wurden organisatorisch zurückgeworfen, aber politisch wurden wir vorbereitet auf all das, was seitdem kam: Corona-Pandemie, Wirtschaftskrise, Ukraine-Krieg oder nun der Krieg im Nahen Osten. Dass wir intakt geblieben sind, ist also kein Zufall.