Zum Tarifabschluss in Hamburg
Seit einem Jahr läuft bereits die Tarifrunde im Einzelhandel. Das ist für deutsche Verhältnisse extrem lang. Nun gibt es den ersten Abschluss. Wie ist dieser zu bewerten?
von Torsten Sting, Rostock, ver.di-Mitglied
Viele Male wurden die Kolleginnen und Kollegen aus den Einzelhandelsbetrieben zum Streik aufgerufen. Am Ende steht in Hamburg ein bitteres Ergebnis.
Anbei die wichtigsten Fakten:
- Nach fünf Null-Monaten werden rückwirkend zum 1. Oktober 2023 die Löhne um 5,3 Prozent erhöht (Der Tarifvertrag für den Hamburger Einzelhandel lief Ende April 2023 aus).
- Zum 1. Mai 2024 werden die Löhne um zusätzlich 4,7 Prozent angehoben.
- Ab 1. Mai 2025 bekommen die Beschäftigten weitere 40 Euro als Festgeldbetrag plus 1,8 Prozent.
- „Die Auszubildendenvergütungen werden überproportional erhöht“, wurde mitgeteilt, ohne konkrete Summen zu erwähnen
- Eine Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 1.000 Euro wird zum 1. Juni 2024 für die Vollzeitbeschäftigten ausgezahlt.
- Ab 1. Januar 2025 erhalten die Kolleg*innen 120 Euro tarifliche Altersvorsorge jährlich mehr (Es gibt einen gesonderten Tarifvertrag zur Altersvorsorge im Einzelhandel, der nicht gekündigt und auch nicht Gegenstand der Tarifverhandlungen war)
- Die Laufzeit des Tarifvertrages beträgt 36 Monate
Bewertung
Vor dem Hintergrund der hohen Inflation der letzten Jahre ist klar, dass die Beschäftigten Reallohnverluste einfahren. Und das in einem Bereich der von niedrigen Löhnen geprägt ist und wo 70 Prozent, insbesondere Frauen, in Teilzeit arbeiten. Diese trifft es zusätzlich, dass die Inflationsausgleichsprämie, mit 1000 Euro sowieso schon dürftig, nur für die Vollzeitbeschäftigten in dieser Höhe ausgezahlt wird. Jene mit geringeren Stundenverträgen erhalten diese nur anteilig. Zu guter Letzt ist die Laufzeit mit drei Jahren extrem lang. Dem ehemaligen ver.di-Bundesfachgruppenleiter Orhan Akman ist mit seiner Bewertung „eine Niederlage, ist eine Niederlage“, zuzustimmen.
Schönrednerei der Führung
Schaut man sich den entsprechenden Artikel auf der Website von ver.di an, traut man seinen Augen kaum. Da steht tatsächlich:„Die Einigung in Hamburg ist aus ver.di-Sicht ein großartiger Erfolg…“. Zu jeder guten Analyse gehört Ehrlichkeit um damit auch notwendige Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen. Die verdi-Führung ist dazu nicht bereit. Ihr geht es darum einen offensichtlich schlechten Abschluss schön zu reden und durchsetzen.
Rahmenbedingungen im Einzelhandel
Natürlich war und ist die Ausgangslage für diese Branche aus gewerkschaftlicher Sicht nicht einfach. Der Anteil von Kolleginnen und Kollegen, die sich mit geringen Stundenverträgen „nur“ ein Zubrot verdienen oder das Studium finanzieren, ist deutlich höher als etwa in der Metallindustrie. Beschäftigte, die nur mit einer zeitlich begrenzen Perspektive in einem Betrieb arbeiten, sind in der Regel schwerer gewerkschaftlich zu organisieren, als Kolleg*innen die einem Vollzeitjob nachgehen und damit ihr Leben oder das der Familie finanzieren müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass immer mehr Betriebe aus der Tarifbindung ausgestiegen sind. Dies betraf gerade wichtige Konzerne (zB. Globus, Metro, Galeria Kaufhof) und hatte zur Folge, dass es schwieriger geworden ist, Druck auf die Kapitalseite aufzubauen.
Fehler
Das bedeutet natürlich nicht, dass ein schlechter Tarifabschluss die logische Folge sein muss. Die ver.di-Führung hat diesen Arbeitskampf bislang ohne erkennbares, längerfristiges Konzept geführt. Das fängt damit an, dass nicht an früheren Streikerfahrungen angeknüpft wurde, die sich als durchaus positiv herausgestellt hatten. Gerade im Einzelhandel kann man die Kundinnen und Kunden gut einbinden. Der Verfasser dieser Zeilen war bei verschiedenen Streikaktionen im Rahmen der Tarifrunde in Rostock dabei. Leider wurden keine Initiativen dieser Art gestartet. Es gab nicht einmal ein Flyer, dass sich an die Einkaufenden gerichtet, die Ziele des Streiks erklärt und zur Solidarität aufgerufen hätte.
Positiv war zweifellos, dass es im Herbst gemeinsame Demos mit den Kolleg*innen aus dem Öffentlichen Dienst gab. Immer wieder klang bei Funktionär*innen durch, dass man im Einzelhandel nicht mehr machen könne, da es viele andere Tarifrunden gleichzeitig gäbe. Dazu muss man anmerken, dass das Potential für gemeinsame Streiks und Demonstrationen bei weitem nicht ausgeschöpft wurde. Aktuell laufen im Bereich von ver.di, mit Ausnahme der Telekom, keine größeren bundesweiten Tarifrunden mehr. Kurzum, es hätte sehr wohl Steigerungspotential auch von Seiten des Apparats gegeben.
Klar ist aber auch, dass die mangelnde Einbeziehung der Kund*innen, ebenso wie die steigerungsfähige Koordinierung mit anderen Arbeitskämpfen, nicht der entscheidende Faktor für den bisherigen Verlauf des Arbeitskampfes war. Zentral ist der Druck, der aus den Betrieben des Einzelhandels kommen muss. Hier war keine Steigerung der Streikaktivitäten zu sehen. Die Tarifrunde zog sich extrem in die Länge, gerade die Konzerne versuchten ver.di „auszuhungern“. Mit REWE und Kaufland beispielsweise befinden sich dennoch zwei der größten Lebensmitteleinzelhändler in der Tarifauseinandersetzung. Gerade im Herbst gab es eine Dynamik, wo die Bereitschaft zum Arbeitskampf und zur Gewerkschaftsmitgliedschaft gewachsen war. Wirksam waren die Streiks an den neuralgischen Punkten der Zentrallager, die eigentlich zum Bereich Handel und Logistik gehören, aber diesmal gemeinsam mit dem Einzelhandel im Tarifstreit waren. Eine Ausweitung davon hätte die Möglichkeiten erweitert, große Märkte wie REWE und Kaufland an den Profiten zu treffen.
Wenn für die Beschäftigten nicht zu erkennen ist, dass der Kampf entschlossen geführt und zumindest ein Teilerfolg in Reichweite ist, wird es schwer, die Basis des Arbeitskampfes zu verbreitern und diejenigen zu motivieren, die sich bislang nicht beteiligt haben. Dabei war bei den Streiks die Entschlossenheit der Kolleginnen und Kollegen erkennbar.
Ausblick
Nun wurde als erstes in Hamburg ein Abschluss erzielt. Die ver.di-Führung wird nun versuchen, in den anderen Tarifbezirken, ähnliche Ergebnisse abzuschließen und damit „die Kuh vom Eis“ zu bringen. Die Kolleg*innen im Einzelhandel sollten stattdessen einfordern, dass Konferenzen und Betriebsversammlungen in allen Tarifbezirken einberufen werden. Hier müsste eine ehrliche Bestandsaufnahme gemacht und über das weitere Vorgehen demokratisch diskutiert werden.
Über diese Tarifrunde hinaus, ist es wichtig einen neuen Anlauf zu nehmen und die Gewerkschaft längerfristig in den Betrieben wieder zu stärken. Dabei können betriebsübergreifende Themen (z.B. Arbeitsbedingungen) eine Rolle spielen, ver.di sichtbar und damit attraktiv für neue Schichten von Kolleginnen und Kollegen zu machen, die bisher abseits standen oder vom Tarifabschluss enttäuscht sind und sich mit dem Gedanken befassen auszutreten. Häufig fühlen sich Kolleginnen und Kollegen, die im Betrieb etwas machen wollen, aber von ver.di-Funktionär*innen allein gelassen.
Darüber hinaus zeigt das Vorgehen der Gewerkschaftsführungen im Einzelhandel, wie nötig der Aufbau einer politischen Alternative zu deren sozialpartnerschaftlichen Linie ist. Mit dem Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di, gibt es dafür eine gute Grundlage. Siehe auch: www.netzwerk-verdi.de