1984: Der Streik für 35-Stunden-Woche  

29.05.1984, Lorch, Betriebsbesetzung bei Filter-Knecht ((c) Martin Storz/The Public Eye Blog Baumreute 56 B, D-70199 Stuttgart; http://thepubliceyeblog.blogspot.com/2014/05/als-die-sonne-aufging-vor-30-jahren.html#ixzz8eRLFfnO3)

Ein Streik der eine ganze Generation von Gewerkschafter*innen und Linken prägte

Der folgende Artikel basiert auf einem Vortrag, den Ursel Beck bei einer Veranstaltung der Sol Stuttgart zum 40-jährigen Jubiläum des Streiks für die 35-Stunden-Woche hielt. Ursel Beck ist Mitglied des Sol Bundesvorstands, aktiv in der LINKEN und war damals aktiv bei VORAN, der Vorgängerorganisation der Sol, und den Stuttgarter Jungsozialisten. Sie war bei dem Streik 1984 “fliegender Streikposten” und leistete einen aktiven Beitrag zur Solidarität mit dem Streik in der Breite der Gesellschaft. Um zukünftige Kämpfe erfolgreich zu führen lohnt sich der Blick auf vergangene Erfolge und Niederlagen der Gewerkschafts- und Arbeiter*innenbewegung, so wie auf den Kampf der Metaller*innen und Drucker*innen 1984.

Beim Streik für die 35-Stunden-Woche handelte es sich um die größte und härteste Klassenauseinandersetzung in der Nachkriegsgeschichte bis heute. Es ist eine Schande, dass sowohl IG Metall als auch ver.di nicht versuchen, die Erinnerung und die Stärke dieses Streiks 40 Jahre später in die Breite der Mitgliedschaft zu tragen. Dieser Streik hat eine ganze Generation von Gewerkschafter*innen und Linken geprägt.

Von Ursel Beck, Stuttgart

Auf der Website der IGM Schwäbisch Gmünd berichtet der 2. Bevollmächtigte der IG Metall, Herrmann Rettich, dass er viele Jahre nach dem Streik eine Märklin-Kollegin beim Bäcker getroffen hat, die zu ihm ganz stolz sagte: „Denen haben wir es damals mal richtig gezeigt“. Die Auseinandersetzung und der Streik für die 35-Stunden Woche hat der Gesellschaft über Monate einen Stempel aufgedrückt und gezeigt, dass Millionen stärker sind als Millionäre.

Es handelte sich nicht nur um einen Streik von Gewerkschaften gegen Unternehmer*innen, sondern es wurde auch gegen die Regierung, die Medien und den Staatsapparat gestreikt. Zudem war es ein aktiver Streik, bei dem zumindest eine starke Minderheit täglich am  Streikposten stand, bei Streikversammlungen war oder in den Streik Lokalen, die jeder Betrieb hatte. Drucker*innen und Metaller*innen unterstützen sich gegenseitig bei den Streikposten und es entstand eine Solidaritätskampagne für die britischen Bergarbeiter, die seit März 1984 im Streik waren. Während der Auseinandersetzung entfaltete sich eine unheimliche Kreativität und Unterstützung aus der Gesellschaft, insbesondere aus der Kulturszene. Aber wie kam es zum Streik und warum gab es seither keinen vergleichbaren Streik mehr?

Aufbruchstimmung und Radikalisierung

Wie alle großen Streiks hatte der Streik eine Vorgeschichte. Es herrschte eine enorme Aufbruchstimmung und Radikalisierung Ende der 1960er Jahre und Anfang der 1970er. Das schuf eine relativ große Schicht von linken Aktivist*innen und Gewerkschafter*innen, die innerhalb von Betrieben und Gewerkschaften für einen klassenkämpferischen Kurs eintraten und sich mit den rechten Gewerkschaftsfunktionär*innen anlegten.

Ein Produkt davon waren linke oppositionelle linke Listen bei Betriebsratswahlen. Beispielsweise gab es die sogenannte “Plakatgruppe” bei Daimler in Untertürkheim und Eßlingen, ein Zusammenschluss von kritischen Gewerkschafter*innen die seit Anfang der 70er aus der IGM ausgeschlossen wurden. In insgesamt 40 Großbetrieben gab es 1981 oppositionelle Betriebsratslisten und in vielen Metallbetrieben bestand auch die offizielle IGM-Liste aus antikapitalistischen und sozialistischen Kolleg*innen. Die Radikalisierung spiegelte sich auch darin wider, dass innerhalb von Gewerkschaften Linke zum Teil bis auf Vorstandsebene in führende Positionen gewählt wurden.

Rezession und Arbeitslosigkeit

Mit der weltweiten Rezession 1974/75 kehrte die Massenarbeitslosigkeit zurück. Damit begann die Diskussion über Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich als Mittel im Kampf gegen Arbeitslosigkeit.  In allen Gewerkschaften wurden Anträge für die 35-Stunden-Woche beschlossen – immer gegen den Widerstand der Führung.

So auch in der IGM 1977. Obwohl der Vorstand dagegen war, fand die Forderung eine Mehrheit unter den Mitgliedern. Dieser Mehrheitsbeschluss wurde zunächst vom Vorstand nicht umgesetzt, bis er gezwungenermaßen durch Druck von unten in einem Streik in der Stahlindustrie 1978/79 mündete. Dieser endete jedoch mit einem Ausverkauf und führte zu massivem Protest in den Stahlbetrieben – sogar der Rücktritt des Bezirksleiters wurde gefordert.

Die Rezession 1980/82 verdoppelte die Arbeitslosigkeit dann auf über zwei Millionen. Es war keine Milderung in Sicht, sondern vielmehr stieg die Zahl immer höher. 1984 betrug die Arbeitslosenquote 9,1 Prozent.

Weitere Radikalisierung führt zu erhöhter Kampfbereitschaft

Die Reaktion auf die mit der Rezession einhergehende Arbeitsplatzvernichtung, Betriebsschließungen, Kurzarbeit und die Angriffe der Bundesregierung war eine steigende Radikalisierung in den Gewerkschaften. Es kam zu einer ganzen Serie von Betriebsbesetzungen, beispielsweise in Ludwigsburg bei der Firma Arendt.

Beim IGM-Gewerkschaftstag 1983 war der IGM-Vorstand mit dieser radikalen Stimmung konfrontiert. Es gab den  Antrag, dass die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich plus zusätzliche Lohnerhöhung die Forderung für die Tarifrunde 1984  werden soll. Dieser Antrag wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen. 

Das Problem für den Vorstand der IGM war, dass er einen Streik führen musste, den er eigentlich nicht wollte. Aber die Führung konnte auch nicht vorschnell aufgeben und durfte ihn nicht völlig verlieren. Sonst hätte sie ihre eigene Daseinsberechtigung verloren, sowohl gegenüber den Mitgliedern als auch in ihrer Rolle als Sozialpartner gegenüber Unternehmen und Regierung. Das zwang die IGM-Führung zu einem Spagat zwischen offensivem Auftreten und gleichzeitigem auf die Bremse treten.

Herausforderungen für den Kampf um 35-Stunden-Wochenarbeitszeit 

Die erste Herausforderung war die Propagandaoffensive der herrschenden Klasse gegen die 35-Stunden-Woche. Es wurde von allen Seiten medial gegen die IGM geschossen und das hatte auch Wirkung. Umfragen zufolge waren Anfang 1984 mehr Gewerkschaftsmitglieder gegen einen Streik für die 35-Stunden-Woche als dafür und 20 Prozent unentschieden. Die IGM-Führung wiederum konnte es sich nicht leisten, eine Urabstimmung über Streik zu verlieren und es war auch klar, dass ohne einen solchen Streik das Tabu der Unternehmer*innen von der 40-Stunden-Woche nicht zu brechen war.

Die IGM konterte diese Propaganda und die resultierende Stimmung mit einer Kampagne für die 35-Stunden-Woche: Es wurden Broschüren, Buttons, Aufkleber, Argumentationshilfen produziert. Überall war das Symbol der 35 mit der aufgehenden Sonne platziert. Vor allem aber wurde in den Betrieben Überzeugungsarbeit geleistet und das hatte Wirkung: 80,1 Prozent stimmten im IGM-Bezirk Nordwürttemberg/Nordbaden bei der Urabstimmung für Streik. Andererseits gab es überhaupt nur in zwei Bezirken (Baden-Württemberg und Hessen) eine Urabstimmung, obwohl sie in 12 von insgesamt 17 IGM-Bezirken beantragt wurde.

Unterstützung der Kohl-Regierung fürs Kapital

Mit auf einige wenige Zulieferbetriebe konzentrierte Streiks sollte die Streikkasse geschont werden und die Verhältnismäßigkeit des Streiks eingehalten werden. Dies wurde auch als Minimax-Streiktaktik bezeichnet. Die IGM-Führung kalkulierte, dass die Unternehmer*innen die Streikenden dann kalt aussperren, also ohne Lohnfortzahlung freistellen, und der Staat an die Ausgesperrten Kurzarbeitergeld zahlen würde. Daran gab es aus den Betrieben sehr viel Kritik. Tatsächlich kam es auch so, dass die Unternehmer*innen die streikenden Kolleg*innen aussperrten. Die Kohl-Regierung unterstützte die Aussperrung jedoch indem sie den kalt ausgesperrten Streikenden rechtswidrig Kurzarbeitergeld vorenthielt und 1986 dann die Streichung von Kurzarbeitergeld für kalt Ausgesperrte gesetzlich regelte. Gegen diese aktive Unterstützung der Kohl-Regierung fürs Kapital demonstrierten am 28. Mai 1984 in Bonn 250.000 Metaller*innen.

28.05.1984, Stuttgart, vor der Bahnfahrt zur Großdemonstration in Bonn
((c) Martin Storz/The Public Eye Blog, Baumreute 56 B, D-70199 Stuttgart, http://thepubliceyeblog.blogspot.com/2014/05/als-die-sonne-aufging-vor-30-jahren.html#ixzz8eRM2eAMH)

Widerstand gegen Aussperrungen

Viele Belegschaften ließen sich die Aussperrung nicht einfach gefallen. Die Belegschaft von Daimler Sindelfingen kam der Aussperrung durch einen spontanen Streik zuvor. Dem IGM-Vorstand blieb nichts anderes übrig, als diese Streikausdehnung anzuerkennen. Daraufhin forderten viele andere Belegschaften ebenfalls eine Einbeziehung in den Streik. Das wurde aber von der IGM-Spitze in Frankfurt vehement verhindert. 

Auch bei Filter-Knecht in Lohr und bei Werner und Pfleiderer in Dinkelsbühl haben die Belegschaften sich nicht aussperren lassen und stattdessen den Betrieb besetzt. In einigen anderen Betrieben kam es auch zu Demonstrationen übers Werksgelände. Hätte die IGM-Führung die Bereitschaft zur Betriebsbesetzung genutzt und dieses Mittel flächendeckend eingesetzt, hätte das eine enorme Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Gewerkschaft bedeutet und hätte die Unternehmer*innen in die Knie gezwungen. Genau dieses Szenario hatten die Unternehmen befürchtet und die Regierung auch. Es fand sogar eine Übung des Bundesgrenzschutzes für ein solches Szenario von, wie sie es nannten „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“, statt. Das Mittel Betriebsbesetzung wollte die IGM-Führung aber vermeiden. In keinem Fall wollte man die Machtfrage stellen, weder in einem einzelnen Betrieb noch insgesamt. Dabei hat die IGM eigentlich in ihrer Satzung die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum  verankert.

Am Ende standen in der Metallindustrie 60.000 Streikende in Baden-Württemberg und Hessen 380.000 Ausgesperrten gegenüber. Das führte zur Spaltung. Die streikenden Belegschaften sahen sich als aktive Akteure des Streiks. Die Ausgesperrten wiederum sahen sich als Opfer. Das war eine Bankrotterklärung für die Minimax-Streiktaktik.

Zuspitzung und Schlichtung

Am 18. Mai 1984 wurde der Geschäftsführer der Gewerkschaft von Druck und Papier am Streikposten vor dem Druckzentrum in Möhringen von einem wild gewordenen LKW-Fahrer überfahren und schwer verletzt. Daraufhin kam es zu einer spontanen Protestversammlung und Blockade von 500 Gewerkschafter*innen vor dem Druckzentrum. Dadurch wurde die Auslieferung der Samstagszeitung am nächsten Tag blockiert. Nach diesem Vorfall griffen die Unternehmen verstärkt auf Polizei und Justiz gegen den Streik zurück.

Die IGM bekam für die Blockade eine einstweilige Verfügung  und die Androhung von Zwangsgeldern. Die Polizei brach Streikpostenketten auf und versperrte den Ausgesperrten den Zugang zum Betrieb. Relativ bald darauf gab es ein Gerichtsurteil, dass für Streikbrecher*innen eine Gasse gebildet werden müsse.

Anstatt die Kampfbereitschaft zu nutzen, um den Streik auszuweiten und das Mittel Betriebsbesetzung zu nutzen, griff die IGM-Führung zum Mittel der Schlichtung. Oberster Schlichter war Georg Leber, der rechte ehemalige Vorsitzende der Gewerkschaft IG Bau- Steine – Erden. Der Schlichtungsvorschlag wurde letztlich auch zum Tarifabschluss. Darin wurde eine durchschnittliche betriebliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden bei vollem Lohnausgleich festgehalten. Dies beinhaltete jedoch eine Spanne von 37 bis 40 Stunden für verschiedene Teile der Belegschaft. Zudem wurde eine Erhöhung der Gehälter ab dem 1. Juli 1984 um 3,3 Prozent und ab dem 1. April 1985 um 2 Prozent plus 250 Euro für die Monate Januar bis Juni abgeschlossen sowie eine Vorruhestandsregelung für Beschäftigte ab 58 mit 70 Prozent des Bruttolohns. Über dieses Ergebnis gab es hitzige Diskussionen. Viele Streikaktivist*innen und auch viele Funktionär*innen waren gegen den Schlichterspruch und wollten weiter streiken.

“35 auf ein Schlag – Samstag ist kein Arbeitstag”

Die Sitzung der Großen Tarifkommission im Großen Saal des Stuttgarter Gewerkschaftshaus wurde von über 1000 Streikposten, die den Schlichterspruch ablehnten, belagert. Immer wieder war die Parole zu hören: “35 auf ein Schlag – Samstag ist kein Arbeitstag”, die sich somit auch gegen eine schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche aussprach. Daraufhin wurde die Sitzung als geschlossene Veranstaltung am Tag darauf in Ludwigsburg fortgesetzt. Am Ende stimmten 87 Mitglieder der Tarifkommission für den Annahme und immerhin 31 dagegen.Bei der Urabstimmung stimmten 54,52 Prozent der Abstimmungsberechtigten im Bezirk Stuttgart mit Ja. In den Streikbetrieben gab es eine große Ablehnung.

Niederlage für Unternehmen, Medien und Kohl

Dennoch. Nach sieben Wochen Streik in der Metallindustrie und 16 Wochen in der Druckindustrie war das Tabu 40-Stunden-Woche endlich gebrochen. Das war eine gewaltige Niederlage für die Unternehmer*innen, die Kohlregierung und die Medien. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit hat den Beschäftigungseffekt der Arbeitszeitverkürzung bis 1992 auf ungefähr eine Million Arbeitsplätze beziffert. In den nachfolgenden Tarifrunden verzichteten die Unternehmen und die IGM darauf, es nochmals auf eine harte Auseinandersetzung wie 1984 ankommen zu lassen. Wegen der Etappenstrategie der IGM-Führung dauerte es dann bis zum 1. Oktober 1995, bis die 35-Stunden-Woche tarifliche Arbeitszeit in der westdeutschen Metallindustrie wurde. Und bei jeder Etappe machte die IGM-Führung Kompensationsgeschäfte, wie Lohnverzicht, Flexibilisierung, Überstunden, Wochenendarbeit oder Öffnungsklauseln. Um den Lohnverzicht wieder auszugleichen, machten die Kolleg*innen Überstunden, viele hatten sogar einen Zweitjob, um über die Runden zu kommen. Das hat verständlicherweise dazu geführt, dass die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung über lange Zeit mit großer Skepsis in den Belegschaften betrachtet wurde. Vor allem wegen des steigenden Arbeitsdruck ändert sich das aktuell wieder langsam.

Heute umso mehr: kämpferische und demokratische Gewerkschaften aufbauen

Aber was vor allem anders ist als damals, ist, dass das Klassenbewusstsein und erst recht das sozialistische Bewusstsein stark zurückgeworfen wurden. Das liegt vor allem daran, dass die Revolution in der DDR in der Restauration des Kapitalismus endete und auch in der Sowjetunion und in allen osteuropäischen Ländern der Kapitalismus zurückkam. Das feierten die Kapitalist*innen weltweit als ihren Sieg und nutzten es für eine unvergleichliche ideologische Offensive. Linke wurden dadurch demoralisiert und die meisten glaubten selbst nicht mehr an die Möglichkeit des Sozialismus. Die Generation von Linken aus den 70er und 80er Jahren, die Erfahrungen mit kämpferischen Streiks gemacht hat, ist inzwischen in Rente. Das hat den Druck von der Gewerkschaftsbürokratie genommen und ihr erlaubt, Klassenkampf und Streiks weitgehend zu verhindern bzw. einfacher als früher mit faulen Kompromissen zu beenden. Das muss sich wieder ändern! Linke müssen den Kampf für demokratische und klassenkämpferische Gewerkschaften führen und auch in den Gewerkschaften die Überwindung des Kapitalismus zum Thema machen. Dazu wollen wir als Sol unseren Beitrag leisten.

14.05.1984, Reutlingen, Streikbeginn bei Bosch
((c) Martin Storz/The Public Eye Blog, Baumreute 56 B, D-70199 Stuttgart, http://thepubliceyeblog.blogspot.com/2014/05/als-die-sonne-aufging-vor-30-jahren.html#ixzz8eRM2eAMH)
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