Kenia: Massenproteste zwingen die Regierung zum Rückzug

Neue Welle des Klassenkampfes gegen Steuererhöhungen

Massenproteste in Kenia haben die Regierung gezwungen, die unbeliebten Steuererhöhungen zurückzunehmen. Diese stellten einen massiven Angriff auf den Lebensstandard der Mittelschichten, der Arbeiter*innenklasse, der Armen und der jungen Menschen dar. Am Dienstag, dem 26. Juni, drangen die Massenproteste in das Parlament ein, setzten es in Brand und verhinderten so die Verabschiedung des geplanten Finanzgesetzes. Um dem Zorn der Massen zu entgehen, mussten Politiker*innen durch Tunnel fliehen. Dies war nur der jüngste in einer Reihe von Angriffen von Präsident Ruto – der inzwischen den Spitznamen “Steuereintreiber” trägt – und seiner Regierung, die zuvor Treibstoffsubventionen gestrichen und neue Steuern erhoben hatte.

Von Deji Olayinka, Socialist Party (CWI in England & Wales) und Sean Figg (Internationales Sekretariat des CWI)

Massive Proteste in der Vorwoche verhinderten eine vorzeitige Verabschiedung des Finanzgesetzes und zwangen die Regierung zu einem teilweisen Rückzug. Die Minister*innen versprachen beispielsweise die geplanten Steuererhöhungen auf Windeln, Speiseöl und Brot zurückzunehmen. Dieser Teilsieg zeigte, dass mehr als das möglich ist, und das wiederum ermutigte die Demonstrant*innen, die “7 Tage des Zorns” fortzusetzen und bei der nächsten Besprechung des Gesetzes noch weiter zu gehen, diesmal bis ins Parlament selbst. Die Demonstrant*innen haben die Lage richtig eingeschätzt – Ruto wurde zu einem demütigenden Rückzieher gezwungen. Am 26. Juni bezeichnete er die Proteste noch als “verräterisch”. Kaum zwölf Stunden später legte er das Finanzgesetz angesichts des überwältigenden Widerstands der Bevölkerung und der Massenmobilisierung auf Eis.

Die Proteste werden vor allem von der Jugend in den Städten getragen. Am 26. Juni wurden aus allen 47 Bezirken Kenias Proteste gemeldet. Durch Aufrufe in den sozialen Medien, insbesondere über Tik Tok, wurden Proteste initiiert, darunter auch der Marsch #OccupyParliament am 26. Juni. Diese Aufrufe erhielten eine “spontane” Massenreaktion, die das Ausmaß der Wut und des Widerstands gegen die Regierung widerspiegelt. Journalist*innen vor Ort berichten, dass die Proteste sich völlig unabhängig von den bestehenden politischen Parteien entwickelten und es keine erkennbare Führung gibt. Einige Kommentator*innen zogen Parallelen zum raschen Wachstum und der blutigen Unterdrückung des #EndSARS-Protests 2020 in Nigeria.

Wie schon in der Vergangenheit ist der Staat mit schwerer Gewalt gegen die Proteste vorgegangen. Öffentliche Kritiker*innen wurden aus ihren Häusern verschleppt. Die Polizei und sogar die Armee wurden hinzugezogen, und die Demonstrant*innen wurden mit Tränengas, Wasserwerfern und wahllosen Schüssen konfrontiert, was dazu führte, dass mehrere Menschen getötet und unzählige weitere schwer verletzt wurden. Bereits im vergangenen Jahr wurden in dem Land über 100 Menschen von der Polizei getötet. Zuvor war Ruto selbst vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt worden, weil er am Tod von über 1200 Menschen nach den Parlamentswahlen 2007 beteiligt war. Die Anklage wurde jedoch fallen gelassen, nachdem Zeug*innen ihre Aussagen geändert hatten (1). Im Zuge der Massenproteste vom 26. Juni wurden nun 23 Menschen getötet und 300 verletzt.

Diese Repression hat die Demonstrant*innen noch mehr erzürnt und offenbar dazu geführt, dass die Rolle der staatlichen Streitkräfte in Frage gestellt wurde. Ein Video zeigt, wie ein Polizist kündigt, nachdem er erfahren hat, dass sein Bruder während der Proteste getötet wurde. Dies zeigt, dass der Staat zwar die Polizei und die Armee anweisen kann, gegen die Proteste vorzugehen, dass die Beamt*innen aber nicht von ihren Gemeinschaften getrennt sind. Einzelne Gruppen können sich abspalten und eine Rolle bei der Unterstützung der Bewegung spielen. Die Armee ist nun zur Verstärkung der Polizei eingesetzt worden.

Die Bewegung muss weiterhin durch die Organisierung in lokalen Communities und an den Arbeitsplätzen aufgebaut werden. Die Entwicklung von spontanen Protesten, die von Jugendlichen angeführt werden, bleibt in der neokolonialen Welt in dieser Ära der kapitalistischen Krise weiterhin ein Merkmal – in Chile 2019 und Sri Lanka 2021, wobei letzteres den Präsidenten zum Rücktritt und zur Flucht aus dem Land zwang. Die Szenen der kenianischen Jugendlichen, die mutig das Parlamentsgebäude stürmten, erinnerten an die Szenen der srilankischen Jugendlichen, die unverfroren die Residenz des srilankischen Präsidenten besetzten.

Die kenianischen Demonstrant*innen sollten dringend die Lehren aus diesen anderen Protesten ziehen. Bei den kenianischen Protesten hat sich die Forderung nach dem Abtritt der gesamten Regierung herauskristallisiert – aber was soll an ihre Stelle treten? In Sri Lanka bedeutete das Fehlen von Organisation, Führung und einem klaren Programm in der Massenbewegung, dass die herrschende Klasse Sri Lankas in der Lage war, ihre Zeit abzuwarten, ihre Kräfte neu zu sammeln und zu versuchen, ihre Position wieder zu sichern. Dort kehrte ein abgesetzter Premierminister sogar als Präsident zurück! Ruto, seine Regierung, die pro-kapitalistischen Abgeordneten und die herrschende Klasse Kenias werden nun dasselbe tun. Sie werden versuchen, den Sturm zu überstehen und ihre Angriffe auf den Lebensstandard der Massen unter einem neuen Deckmantel fortzusetzen. Ruto stellt bereits Fallen auf, indem er einen “Dialog” mit der Jugend über künftige Sparmaßnahmen vorschlägt und die falsche Vorstellung nährt, dass “wir alle im selben Boot sitzen”, indem er sagt, dass die Sparmaßnahmen mit Kürzungen im Präsidialamt beginnen können

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Bewegung weitergeht und dass sie eine starke und demokratische Organisation entwickelt. Das kann bei der Jugend beginnen, die derzeit an der Spitze der Bewegung steht und zur Bildung von demokratischen Komitees in den Schulen und Universitäten aufruft. Diese sollten auf die breitere Arbeiter*innenklasse, die armen Gemeinden sowie auf die Arbeitsplätze ausgedehnt werden, um die mächtige soziale Macht der Arbeiter*innenklasse zu nutzen. Die Tatsache, dass der Aufruf zum Generalstreik aus den Protesten hervorging, zeigt, dass ein Teil der Demonstrant*innen die Notwendigkeit eines solchen Streiks erkannt hat. Dieser Aufruf sollte in den kommenden Tagen und Wochen wiederholt werden. Er könnte zunächst in Form einer ein- oder zweitägigen Schließung des Landes organisiert werden. Dies wäre eine wichtige Machtdemonstration der Massenbewegung und hätte zum Ziel, neue Schichten der Gesellschaft – insbesondere in der Arbeiter*innklasse – anzusprechen und zu mobilisieren.

Kenia ist, wie fast alle afrikanischen Länder, national und stammesmäßig gespalten. Dies hat sich bei den letzten Wahlen gezeigt, bei denen die Stammeszugehörigkeit in den Vordergrund des Wahlkampfes gerückt wurde. Aber es scheint, dass diese Bewegung die nationalen Grenzen überwunden hat, was eine wichtige Entwicklung darstellt. Die kapitalistischen Politiker*innen werden jedoch versuchen, bisher bestehende Spaltungen auszunutzen, insbesondere wenn sie versuchen, ihre Position zu sichern, in der Hoffnung, dass Rutos Rückzug ihnen den Raum und die Zeit dazu verschafft. In der Protestbewegung muss eine bewusste Politik des vereinten Kampfes über Stammes- und nationale Grenzen hinweg verfolgt werden.

Während seiner Wahlkampagne behauptete Präsident Ruto, er werde einen “Bottom-up”-Ansatz verfolgen und das Leben der einfachen Kenianer*innen verbessern. Doch seit er an der Macht ist, hat er den Willen der Kapitalist*innenklasse und der imperialistischen Mächte erfüllt, indem er die Steuern erhöht hat, um den kenianischen Haushalt auszugleichen und die Rückzahlung der Schulden zu garantieren. Diese Maßnahmen zielen darauf ab, ein IWF-Programm einzuhalten, welches von der Regierung eine Erhöhung der Einnahmen und eine Kürzung der Ausgaben verlangt, was beides den Lebensstandard negativ beeinträchtigt. Die Situation in Kenia bestätigt, dass die Frage der Staatsverschuldung in den neokolonialen Ländern der Auslöser für politische Krisen, Proteste und Aufstände sein kann. Die Verschuldung der neokolonialen Regierungen hat sich in den letzten Jahren massiv verschlimmert, vor allem unter dem Einfluss der Covid-19-Pandemie.

Die kenianische herrschende Klasse gewann in den letzten Jahren an Bedeutung für die westlichen imperialistischen Mächte. Als Regionalmacht haben die kenianischen Streitkräfte eine Schlüsselrolle bei den UN-Einsätzen im Sudan gespielt, und in den letzten Tagen wurde die kenianische Polizei nach Haiti entsandt. Ruto, der selbst aus armen Verhältnissen stammt und einst etwas populistisch war, ist heute mit tausend Fäden an die Interessen des kenianischen Kapitalismus und des Weltimperialismus gebunden. Erst am 24. Juni 2024 machte US-Präsident Biden Kenia offiziell zu einem wichtigen Verbündeten der USA.

Ruto hat sich zurückgezogen. Der Gedanke, dass “diese Regierung gehen muss”, wird nicht so leicht verschwinden, da er nun entfesselt wurde. Es stellt sich die Frage, welche Art von Regierung die Ruto-Regierung ersetzen kann und auf der Grundlage welchen Programms sie regieren würde. Am 27. Juni haben einige Demonstrant*innen erklärt, dass sie nur mit dem Rücktritt von Ruto zufrieden sein werden. Das ist eine gute Forderung, aber dann muss eine Antwort auf die Frage gegeben werden, was an seine Stelle treten soll.

Nur eine Regierung der Arbeiter*innenklasse und der Armen, bewaffnet mit einem sozialistischen Programm, das mit dem Kapitalismus und dem Imperialismus bricht, kann die massenhafte Wut und den Widerstand gegen Ruto und seine Regierung in ein positives Programm für die Entwicklung Kenias umwandeln, das die Krisen bzgl. der Arbeitslosigkeit, der Löhne, des Lebensstandards usw. löst. Die Arbeiter*innenklasse, die Armen und die Jugend werden eine Partei brauchen, die ihnen hilft, diesen Kampf zu organisieren – dies muss dringend in die Debatten über den weiteren Weg des Kampfes in Kenia eingebracht werden, während die Bewegung eine Bilanz ihres jüngsten Sieges zieht und sich Gedanken darüber macht, was durch weitere Massenaktionen in Zukunft erreicht werden kann.

Unser Vorschläge für Forderungen für die Bewegung lauten:

  • Bezahlt die Schulden nicht! IWF raus aus Kenia! Verstaatlicht die kenianischen Banken und das Finanzsystem unter demokratischer Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung!
  • Nein zu jeglicher Form von Austerität – keine Steuererhöhungen und keine Lohn- oder Ausgabenkürzungen! Organisiert einen Massenkampf gegen jede Politik, die das versucht. Für Preiskontrollen bei allen Grundgütern, die demokratisch von den Gemeinden festgelegt werden.
  • Setzt die Proteste fort! Organisiert vernetzte Kampfkomitees in Gemeinden, an Arbeitsplätzen, Universitäten und Schulen, um die nächsten Schritte der Bewegung demokratisch zu organisieren und zu planen.
  • Ruto muss weg! Gegen alle pro-kapitalistischen, pro-imperialistischen und pro-IWF-Parteien, Politiker*innen und Abgeordneten. Beginnt mit dem Aufbau einer Massenpartei der Arbeiter*innenklasse, bewaffnet mit einem sozialistischen Programm, um mit Kapitalismus und Imperialismus zu brechen. Für eine Regierung der Arbeiter*innen und der Armen.

(1) New York Times, 10. September 2022