Leben und Kämpfen der “Gastarbeiterinnen”

Gün Tank (Creative Commons Lizenz)

Gün Tank gelingt mit „Die Optimistinnen“ ein großer Roman

In der deutschen Gesellschaft hat viele Jahre lang das Schicksal der „Gastarbeiter“ keine große Rolle gespielt. Aber noch weniger das der „Gastarbeiterinnen“. Der Roman von Gün Tank ist diesem Thema gewidmet.

Von Torsten Sting, Rostock

Das Buch umfasst nur etwas mehr als 200 Seiten, für einen Roman nicht besonders viel. Und dennoch legt man am Ende das Debütwerk der Autorin mit dem Gefühl beiseite, dass man seinen Horizont beträchtlich erweitert hat.

Anwerbeabkommen

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland einen großen Mangel an jungen Männern. Millionen waren im Krieg gefallen oder infolge schwerer Verletzungen nicht mehr arbeitsfähig bzw. befanden sich noch in Kriegsgefangenschaft. Im westdeutschen Teil setzte die Bundesregierung auf die Anwerbung von Arbeitskräften im Ausland. 1955 wurde als erstes mit Italien ein entsprechendes Abkommen geschlossen. Dem folgten Verträge mit dem spanischen Staat, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien.

Ziel war es, dem Arbeitskräftemangel mittels Zuwanderung zu begegnen. Das deutsche Kapital war nach der verheerenden Niederlage, wieder zurück im Rennen um den maximalen Gewinn.

Über das Leben

Das Buch erzählt die Erfahrungen von Frauen, die nach Westdeutschland kamen um sich und in der Regel ihren Familien zu Hause ein besseres Leben zu ermöglichen.

Die Geschichte beschreibt auf eine sehr eindrucksvolle Art die ganze Bandbreite ihres Lebens. Von der schlechten Unterbringung, über den Rassismus der Vorarbeiter, vom Heimweh im Allgemeinen und der Sehnsucht nach den Liebsten im Konkreten. Vom Kampf gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und für höhere Löhne bis hin zur Solidarität zwischen den Frauen aus den unterschiedlichsten Ländern. Dem Aufbegehren gegen die Macht der Chefs und gegen die Vorurteile bei Teilen der deutschen Bevölkerung. Von der Lebensfreude die den schwierigen Umständen trotzte. Aber auch der Humor kommt nicht zu kurz. So führt ein Missverständnis zwischen einer türkischen Arbeiterin und einem Bahn-Schaffner in Folge von mangelnden Sprachkenntnissen, unverhofft zu einem Rendezvous.

Erstes Aufbegehren

Zentrale Figur des Buchs ist die Mutter der Autorin, Nour, die sie meistens „Anne“ („Mutti“) nennt. Als unverheiratete, alleinstehende, junge Frau in ein anderes Land zu gehen, war zur damaligen Zeit alles andere als selbstverständlich. Das betraf nicht nur ihre Heimat, sondern auch Deutschland. Obwohl ihr Traumland eigentlich Frankreich ist, verschlägt es sie, der Arbeit wegen, in die bayrische Oberpfalz. Hier malocht sie in einem Industriebetrieb der Porzellan herstellt. Es ist eine anstrengende und gefährliche Arbeit. Hier lernt sie Kolleginnen aus ihrer Heimat kennen, ebenso aus Spanien, Griechenland, Jugoslawien usw..

Die Unterbringung ist schlecht und führt zu großem Unmut unter den Betroffenen. An den freien Sonntagen kommen die Arbeiterinnen zusammen. Sie schmieden Pläne, wie ihre Situation geändert werden kann. Ein Protestbrief wird geschrieben, der den Chef der Firma überrascht und wütend macht. Die Presse, die Gewerkschaften und die örtliche Politik werden ebenso von dieser Entwicklung auf dem falschen Fuß erwischt. Das sich Gastarbeiter*innen wehren, war bis Anfang der 1970er Jahre ein unerhörtes Phänomen. Die Kolleginnen erzielen einen Teilerfolg. Sie bekommen mehr Duschen und die Zimmer müssen sich nur noch zwei Frauen teilen.

Rechtliche Lage der Frauen

Es erforderte von den Kolleginnen viel Mut den Weg des Widerstands zu gehen. Sie kamen nach Deutschland mit dem Ziel, binnen eines kurzen Zeitraums möglichst viel Geld zu verdienen und dies im Regelfall größtenteils ihren Familien zukommen zu lassen. Diese waren dringend darauf angewiesen. Eine türkische Kollegin etwa unterstützte ihre kranken Eltern mit dem Geld, weil diese sich die teuren Medikamente nicht leisten konnten.

Die Verträge zwischen vielen Kolleg*innen und den Unternehmen sahen häufig nur eine Laufzeit von einem Jahr vor. An diesem Arbeitsvertrag hing auch die Aufenthaltserlaubnis. Kam es zur Kündigung, drohte die Abschiebung. Der Chef von Nour, machte ihr als Rädelsführerin deutlich, dass der Vertrag nicht verlängert wird und ergänzte: „Und du kannst sicher sein, du wirst nirgendwo hier in der Nachbarschaft einen Arbeitsplatz finden. Ich werde persönlich dafür sorgen.“

Streik bei Pierburg

Nour verschlägt es nach West-Berlin. Eine gute Freundin von ihr, Tülay, landet mit ihrer Familie in Neuss und arbeitet in einer Fabrik der Pierburg-Gruppe, einem wichtigen Zulieferbetrieb der Autobranche. Eines guten Tages meldet sich Tülay bei Nour. Sie brauche dringend ihre Hilfe, in ihrem Betrieb braue sich etwas zusammen. Nour macht sich auf den Weg um ihre Freundin und deren Kolleg*innen zu unterstützen.

Das Buch entführt uns in einen bedeutenden Arbeitskampf der (west-)deutschen Nachkriegsgeschichte. In diesem Jahr, 1973, gab es viele „wilde Streiks“, d.h. diese wurden nicht offiziell von der Gewerkschaft ausgerufen und galten damit als „illegal“.

Die Bedeutung des Arbeitskampfs bei Pierburg kann man an zwei Faktoren festmachen. Zum einen ist es einer der ersten Arbeitskämpfe bei dem migrantische Arbeiter*innen die zentrale Rolle spielen. Zum anderen ist hier hervorzuheben, dass dies in erster Linie Frauen waren.

Sie forderten höhere Akkordlöhne und eine Abschaffung der sogenannten „Leichtlohngruppen“. Diese waren fast ausschließlich den Frauen vorbehalten und sollten angeblich körperlich leichte Tätigkeiten abbilden, was einer Verhöhnung der Realität gleichkam.

Spaltung als Waffe der Herrschenden

Die Autorin legt sehr gut dar, wie die Kapitalseite, insbesondere über die Vorabeiter, die Belegschaft zu spalten versucht. Dabei geben sich Sexismus und Rassismus immer wieder die Klinke in die Hand.

Ein Vorarbeiter ätzt gegen die migrantischen Kolleginnen: „Früher gab es so was nicht, da wusste man noch, was Zucht und Ordnung heißt. Da haben Frauen sich wie Frauen benommen: selbstlos, treu und pflichterfüllend. Sie kannten ihren Platz und hörten auf ihre Männer.“ Die meisten Kollegen und Partner der kämpfenden Kolleginnen ließen sich jedoch davon nicht beirren.

Immer wieder werden die migrantischen Kolleg*innen von Vorgesetzten rassistisch beschimpft. Aus etlichen Zitaten, die von der Autorin gebracht werden, spürt man, dass der deutsche Faschismus keine dreißig Jahre her ist.

Polizeigewalt

Der Staatsapparat soll seinen Teil zur Niederschlagung des Arbeitskampfes beitragen. Tülay berichtet: „Sie haben die Polizei gerufen. Mit Knüppeln sind sie auf uns los. Zwei Kolleginnen aus Griechenland sind verhaftet worden. Eine habe ich auf dem Heimweg zu Hause besucht. Sie sah schlimm aus. Blutergüsse an den Armen. Zehn Stunden wurde sie verhört. Brutal waren sie. Die Frauen sollten sagen, sie würden wegen der Politik streiken, damit sie abgeschoben werden können.“

Kampf um die Einheit

Das Buch beschreibt spannend, wie der Kampf in der Belegschaft geführt wird. Die migrantischen Kolleg*innen wissen, dass der Streik nur dann erfolgreich sein kann, wenn es ihnen gelingt, die mehrheitlich deutschen Facharbeiter auf ihre Seite zu ziehen. Eine wichtige Rolle spielt dabei der linke Betriebsrat. Am Ende kommt es zur Solidarisierung der Belegschaft.

Das es in diesem Kampf um mehr ging, als „nur“ um mehr Geld, macht der wütende Ausbruch des örtlichen Polizeipräsidenten deutlich: „Wilder Streik- das ist Revolution!“

In der Tat war es aus der Sicht der Herrschenden nicht zu akzeptieren, dass Menschen, die nur zum schuften gekommen waren und möglichst schnell wieder abhauen sollten, plötzlich mehr Geld und Rechte einforderten.

Am Ende des Arbeitskampfs steht der Erfolg. Die Akkordlöhne wurden deutlich erhöht und die Leichtlohngruppen erstmals abgeschafft. Dies war auch tariflich ein Meilenstein.

„Heute, eingetaucht im Gestern“

Unter dieser Rubrik wechselt die Autorin immer wieder von der Gegenwart in die Vergangenheit. Sie schildert etwa ihre eigenen Erfahrungen mit dem Rassismus und verwebt dies mit den Erfahrungen der Generation ihrer Mutter. Die Liebe zu ihrer Familie und ihrem Sehnsuchtsort Istanbul durchzieht das Buch, wie der berühmte rote Faden.

Fazit

Dieses Buch setzt der Generation von „Gastarbeiterinnen“, von denen viele dann in Deutschland blieben, ein Denkmal. Es ist aber auch für unsere heutige Zeit lehrreich. Die betrieblichen Auseinandersetzungen verdeutlichen anschaulich, welche Funktion Rassismus in der Gesellschaft einnimmt. Ja, jede Diskriminierung ist natürlich vom humanistischen Gesichtspunkt her, zu verurteilen. Aber die moralische Entrüstung, wie sie heute oft praktiziert wird, reicht nicht aus. Rassismus ist zum Beispiel ein bewusstes Mittel der Herrschenden um die Masse der arbeitenden Menschen zu spalten, damit sie ihre Interessen durchsetzen können. Aber es zeigt sich, dass beim Pierburg-Streik die Mehrheit der Beschäftigten das durchschaute. Der gemeinsame Kampf, von deutschen und nichtdeutschen Arbeiter*innen, von Frauen und Männern, war die Grundlage für den Erfolg bei diesem Kampf. Und dieses Beispiel zeigt auch auf, wie wir auf gesellschaftlicher Ebene jede Form von Diskriminierung bekämpfen können.

Aber dass die tieferen Ursachen der Übel mit dem kapitalistischen Gesellschaftssystem zusammenhängen, wird zwar eher gestreift, kommt aber auch vor. Die 1970er Jahre waren eine sehr politische Zeit und galten als „rotes Jahrzehnt“. Hülay, die Vertrauensfrau der IG Metall wurde, schreibt in einem Brief an ihre Freundin Nour, dass sie bei einem Seminar einiges über die Lehren von Karl Marx gelernt habe. Das sollten wir heute auch, um den Kampf dieser großartigen Arbeiterinnen fortsetzen zu können.

Dieses eher kleine Buch, ist in Wahrheit ein ganz schön Großes. Gün Tank ist ein toller Roman gelungen!

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