Großbritannien: Die Labour-Regierung und die Gewerkschaften

Rachel Reeves und Keir Starmer, © UK Parliament / Maria Unger, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rachel_Reeves_and_Keir_Starmer.jpg (CC BY 3.0)

Was können Arbeiter*innen gewinnen?

Wir veröffentlichen hier das Editorial des “Socialist”, der Wochenzeitung der Socialist Party England & Wales (Schwesterpartei der Sol und Sektion des CWI) vom 17. Juli 2024

Wird der britische Premierminister Keir Starmer “den Gewerkschaften geben, was sie wollen”? So lautete die Frage, die ihm im Hinblick auf die zahlreichen Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst gestellt wurde, zu denen in den nächsten Wochen Empfehlungen vorgelegt werden sollen – Schulen, NHS1, öffentlicher Dienst, Kommunalverwaltung. “Nein”, lautete in einem Wort seine unmittelbare Antwort.

Die Labour-Führung versucht bei jeder Gelegenheit, die Erwartungen zu dämpfen. Doch die Mehrheit der Gewerkschaftsführer*innen erklärte ihren Mitgliedern, dass es in ihrem besten Interesse sei, eine Labour-Regierung zu wählen, da Labour im Gegensatz zu den Tories “zuhören” würde.

Starmer ergänzte: “Was ich im Moment getan habe, ist, wie zu erwarten, die wichtigsten und bedeutendsten Prioritäten zu setzen.” Wie setzt er die Prioritäten? Zweifellos hat die hartnäckige Entschlossenheit der Assistenzärzt*innen, die während des Wahlkampfes gestreikt haben, ihr Anliegen an die erste Stelle der Liste gesetzt.

Die Assistenzärzt*innen in Wales haben kürzlich einer Gehaltserhöhung von 12,4 Prozent durch die walisische Labour-Regierung zugestimmt. Dies wird als Maßstab für die Assistenzärzt*innen in England gelten. Ein Abschluss für sie wird wiederum als Maßstab für den gesamten öffentlichen Sektor gelten.

Zweifellos werden viele Gewerkschaftsführer*innen ihre Mitglieder davon überzeugen wollen, der Labour-Regierung “Zeit zu geben”, oder Ausreden für die “schwierigen finanziellen Umstände” finden, mit denen die Regierung konfrontiert ist. Wie leicht es ihnen fallen wird, mit diesen Argumenten zu überzeugen oder Aktionen und Kämpfe von Beschäftigten zu verhindern, bleibt abzuwarten.

“Wir erwarten ein Gehaltsangebot für Lehrer*innen, das über der Inflationsrate liegt und vollständig finanziert ist”, sagte der Generalsekretär der Nationalen Bildungsgewerkschaft, Daniel Kebede, als Reaktion auf die Äußerungen Starmers und gab damit die Stimmung seiner Mitglieder wieder.

Abschaffung der Obergrenze

In der Zwischenzeit sieht sich Starmer seiner ersten potenziellen parlamentarischen Rebellion in der “King’s Speech”2 gegenüber, die am 17. Juli, nach Redaktionsschluss des Socialist, gehalten werden soll.

Die Labour-Abgeordnete für Liverpool Riverside, Kim Johnson, hat ihre Absicht erklärt, einen Änderungsantrag zur Abschaffung der Obergrenze für das Kindergeld einzureichen. Die Zahl der Kinder, deren Familien aufgrund der von den Tories 2017 eingeführten Politik keine Leistungen mehr erhalten, ist auf 1,6 Millionen gestiegen. Vor den Parlamentswahlen hat die Labour-Führung unter Starmer ihr Versprechen aufgegeben, die Obergrenze abzuschaffen.

Angesichts der Mehrheitsverhältnisse bei Labour wird Starmer die Abstimmung gewinnen.

Neuer Deal für arbeitende Menschen

Die “King’s Speech” wird jedoch den Ton für die ersten Monate der Regierung vorgeben und zu den ersten Gesetzentwürfen wird ein Gesetzentwurf über die Rechte der Beschäftigten gehören, der innerhalb der ersten 100 Tage nach Amtsantritt vorgelegt werden soll und die in “Labour’s Plan, Arbeit lohnenswert zu machen: Ein neuer Deal für die arbeitenden Menschen” dargelegt wird.

Bei der Beschreibung des Labour-Manifests sagte Finanzministerin Rachel Reeves zu Führungskräften aus der Wirtschaft: “Ihre Fingerabdrücke sind hier überall zu sehen”. Vergleicht man die ersten Entwürfe des “New Deal” mit dem endgültigen Dokument, so sind diese Fingerabdrücke deutlich zu erkennen.

“Die Gewerkschaften sollen das Recht erhalten, zu Rekrutierungs- und Organisierungszwecken Zugang zu den Betrieben zu erhalten”, wobei nun der Vorbehalt der Unternehmer*innen hinzugefügt wird: “… vorausgesetzt, sie kündigen dies rechtzeitig an und kommen den angemessenen Forderungen des Arbeitgebers nach.”

Es sind Änderungen wie diese, die die Vorsitzende von Unite the Union, Sharon Graham, dazu veranlassten, den endgültigen Entwurf als “löchriger als einen Schweizer Käse” zu bezeichnen. Was der Prozess tatsächlich offenbart, ist, wie Labour, wie jede Regierung, unter dem Druck konkurrierender Klassen regieren wird, obwohl Keir Starmer sich verpflichtet hat, im Interesse der Kapitalist*innenklasse zu handeln, und es ihm gelungen ist, mögliche Druckpunkte der Arbeiter*innenklasse in seiner eigenen Partei zu beseitigen.

Der New Deal enthält Maßnahmen, die die Gewerkschaften bei den Verhandlungen für ihre Mitglieder stärken können. Dazu gehören das Verbot von “ausbeuterischen Null-Stunden-Verträgen”, die “Beendigung der Schikanen von “Entlassung ‘Feuern und Wiedereinstellen’3“, “individuelle Grundrechte vom ersten Tag an”, die “Einführung eines neuen Tarifvertrags für faire Löhne im Bereich der Sozialfürsorge für Erwachsene”, die “Abschaffung der diskriminierenden Altersspannen” für den Mindestlohn und die Änderung des Aufgabenbereichs der Niedriglohnkommission, so dass dieser “unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten” festgelegt wird.

Bei einigen dieser Maßnahmen muss der Staatssekretär lediglich einen Brief an die Niedriglohnkommission schreiben, andere werden das gesamte Gesetzgebungsverfahren durchlaufen und Gegenstand von Überprüfungen sein usw. Aber bei allen gibt es Punkte, über die man sich streiten kann.

Wie hoch sollte der Mindestlohn sein? Welche Art von Null-Stunden-Vertrag ist nicht ausbeuterisch? Welche Ausrede gibt es für Chefs, die nach dem Motto “Feuern und Wiedereinstellen” verfahren, egal ob sie den Gewerkschaften vorher Bescheid geben oder nicht? Die Gewerkschaftsführer*innen müssen jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um für all diese Themen zu kämpfen.

Zusätzlich zu den Arbeitsrechten verspricht der New Deal einen neuen Nationalen Beschaffungsplan, der bei öffentlichen Aufträgen einen “sozialen Wert” vorschreibt, einschließlich der Gewährleistung von Gewerkschaftsrechten, Umweltstandards und der “Wertschätzung von Organisationen, die Arbeitsplätze, Fähigkeiten und Wohlstand schaffen”. Angesichts der Drohung von Tata Steel, Entlassungen vorzunehmen und die Produktion von neuem Stahl in Port Talbot einzustellen, sollte man fordern, dass neue Vorschriften vorschreiben, dass der gesamte in öffentlichen Infrastrukturprojekten verwendete Stahl aus britischem Stahl hergestellt werden muss. Noch besser wäre es, ausschließlich Stahl aus Port Talbot und anderen Stahlwerken zu verwenden, die in demokratischem öffentlichem Besitz sind.

Soziale Partnerschaft

Der New Deal verweist auf die Sozialpartnerschaft in Wales als Modell, aber dort wurde sie eindeutig nicht zum Nutzen der Beschäftigten eingesetzt. Stattdessen wurde sie genutzt, um die falsche Vorstellung zu fördern, dass die Gewerkschaften und die Unternehmer*innen “gemeinsame Interessen” haben und dass ein Sitz am Tisch bedeutet, dass es keine Notwendigkeit für den Kampf der Arbeiter*innen gibt. Aber die Sozialpartnerschaft hat die Beschäftigten des öffentlichen Sektors nicht daran gehindert, gegen die walisische Labour-Regierung zu streiken.

Das Ergebnis der Parlamentswahlen in Wales gibt Aufschluss darüber, wie die Arbeiter*innen in Wales über eine Labour-Regierung denken, die an den Sparzwängen der Tories festhält. Dort hat die Labour-Partei vier Prozent weniger Stimmen erhalten als 2019, obwohl sie mehr Sitze gewonnen hat.

Die meisten aktiven Gewerkschafter*innen werden bei aller wahrscheinlichen und berechtigten Skepsis gegenüber Starmers Labour-Führung das Potenzial der New-Deal-Reformen verständlicherweise als Stärkung ihrer Positionen wahrnehmen und jede Gelegenheit dazu sollte genutzt werden. Der Gedanke, dass es sich um eine Regierung handelt, die Gesetze zur Stärkung der Gewerkschaften erlässt, kann auch einer breiteren Schicht von Arbeiter*innen Vertrauen geben. Aber kein*e Gewerkschaftsführer*in sollte unwidersprochen behaupten dürfen, dass die Reformen den Kampf der Beschäftigten überflüssig machen.

Gewerkschaftsfeindliche Gesetze

Es sind vor allem der Organisationsgrad und das Vertrauen in den Kampf, die die Arbeiter*innen am Arbeitsplatz stärken. Das Versprechen des New Deal, die jüngsten gewerkschaftsfeindlichen Gesetze der Tories – einschließlich des Trade Union Act 2016 und des Minimum Service Levels (Strikes) Act – aufzuheben, ist die Änderung, die die meisten Hindernisse für Arbeiter*innen beseitigt, die für ihre eigenen Interessen kämpfen. Die Gewerkschaften müssen entschlossen dafür eintreten, dass diese Gesetze in ihrer Gesamtheit aufgehoben werden – vor allem die Mindestbeteiligungsschwelle für eine Streikurabstimmung – und dafür kämpfen, dass auch Thatchers gewerkschaftsfeindliche Gesetze aufgehoben werden.

Wird es Abgeordnete geben, die bereit sind, diese Änderung des Gesetzes über Beschäftigungsrechte voranzutreiben und jede Gelegenheit zu nutzen, um auch andere Forderungen im Namen der Gewerkschaften zu vertreten?

Viele Gewerkschaften haben ihre eigenen formellen parlamentarischen Gruppen von Abgeordneten, die sie unterstützen und mit denen sie in Verbindung stehen, um die Ziele der Gewerkschaften zu unterstützen. Was hindert diese Abgeordneten daran, zur nächsten Sitzung des Gewerkschaftsvorstands oder eines anderen geeigneten Gremiums eingeladen zu werden, damit deutlich gemacht werden kann, was von ihnen erwartet wird, und damit sie aufgefordert werden können, im Parlament im Interesse der Arbeiter*innen zu handeln?

Abgeordnete der Arbeiter*innen

Bei der Einreichung des Änderungsantrags zur Aufhebung der Begrenzung des Kindergeldes für zwei Kinder hat Kim Johnson die Unterstützung der Gewerkschaft des öffentlichen Dienst PCS erhalten. Die DWP-Gruppenvorsitzende4 Angela Grant sagt: “Wir fordern jeden Abgeordneten mit Gewissen auf, diesen wichtigen Änderungsantrag zu unterstützen”. Warum sollte man es nicht zur Bedingung machen, dass man Mitglied der PCS-Parlamentarier-Gruppe bleibt?

Johnson war Mitglied der “Socialist Campaign Group” von Abgeordneten und hat für ihren Wahlkampf Unterstützung von Unite, FBU, RMT, Aslef, BFAWU und CWU5 erhalten. Man sollte von ihr und anderen verlangen, dass sie sich für die Politik der Gewerkschaften einsetzt, z.B. für die Erfüllung der Forderungen der Eisenbahngewerkschaften in ihrem Streit und für die Unterstützung der Wiederverstaatlichung der Royal Mail, die kurz vor der Übernahme steht.

Vor der Wahl wurde aber auch berichtet, dass Johnson einer “Neuen Linken” angehört, die sich innerhalb der Socialist Campaign Group gebildet hat, zu der auch Clive Lewis und Nadia Whittome gehören, die “Abstand vom ‘giftigen Erbe’ Corbyns” nehmen wollen (New Statesman, 26. Februar 2024). Ein solcher Ansatz wird mit Starmer als Premirminister nicht im Interesse der Arbeiter*innen sein.

Es gibt bereits Abgeordnete, die ihre Sitze gewonnen haben, weil sie sich nicht den Zwängen von Starmers pro-kapitalistischer Politik und seinem rücksichtslosen Parteiapparat unterworfen haben. Die Gewerkschaften sollten Jeremy Corbyn und die vier anderen so genannten “Gaza-Unabhängigen” auffordern, in ihrem Namen zu handeln, ebenso wie die vier grünen Abgeordneten.

Schon jetzt, vor der Eröffnung des Parlaments, zeichnen sich die Felder ab, auf denen sich der Kampf unter dieser Regierung mit ihrem rekordverdächtig niedrigen Mandat – sie erhielt die Stimmen von nur 20 Prozent der Wählerschaft – entwickeln kann. Es gibt jede Menge potenzieller Krisen, die ausbrechen und Streiks, Proteste und Bewegungen provozieren können.

Damit bieten sich der Arbeiter*innenbewegung zahllose Gelegenheiten, ihre Interessen durchzusetzen und so das Vertrauen der Arbeiter*innenklasse in den Kampf zu stärken. Was Labour den Gewerkschaften “geben” wird, ist nicht entschieden. Was die Arbeiter*innenklasse der Labour-Regierung abzwingen kann, entscheidet sich erst noch.

  1. National Health Service, das britische Gesundheitswesen. ↩︎
  2. In Großbritannien eröffnet der Monarch/die Monarchin das Parlament mit einer Rede, welche u.a. das Regierungsprogramm der neuen Regierung darstellen soll und von dieser geschrieben wird. ↩︎
  3. “Feuern und Wiedereinstellen” wird eine Praxis von Unternehmen genannt, die darauf abzielt Arbeiter*innen zu entlassen und dann zu schlechteren Bedingungen wiedereinzustellen. ↩︎
  4. Gewerkschaftsgruppe im Ministerium für Arbeit und Rente ↩︎
  5. Verschiedene britische Gewerkschaften ↩︎