Zur Verteidigung der marxistischen Philosophie

Carlo Rovellis Kritik an Lenin und das Verhältnis des Marxismus zu neuen wissenschaftlichen Entdeckungen

1909 veröffentlichte der russische Revolutionsführer Wladimir Lenin eines seiner weniger bekannten Werke, „Materialismus und Empiriokritizismus“. Es basierte auf einer neunmonatigen Forschungsarbeit, die er 1908 zu den wissenschaftlichen und philosophischen Debatten führender Wissenschaftler seiner Zeit durchgeführt hatte.

von Martin Powell-Davies, Socialist Party England und Wales

Lenins Buch zielte auf die damals angesagte Philosophie des „Empiriokritizismus“ ab. Diese Denkweise wurde vom österreichischen Physiker Ernst Mach entwickelt und dann von Aleksander Bogdanow, einem führenden Bolschewisten, unter dem Namen „Empiriomonismus“ adaptiert.

Die Entwicklung der Quantenphysik und von Einsteins Relativitätstheorie führten dazu, dass die von Lenin analysierten Debatten bald von neuen wissenschaftlichen Theorien und Erkenntnissen überholt wurden. Der Inhalt seines Buches verschwand von der Bildfläche – tauchte jetzt aber unerwartet wieder auf, unter dem Lichtkegel des Romans “Helgoland”, den der italienische theoretische Physiker und populärwissenschaftliche Autor Carlo Rovelli 2020 veröffentlichte.

Rovelli ist ein Wissenschaftler, der sich für Philosophie interessiert, insbesondere für die Betrachtung vergangener Ideen, die die heutigen Debatten über die seltsame Natur der „Quantenrealität“ bereichern könnten. In „Helgoland“ schreibt er, dass „die von Lenin und Bogdanov diskutierten Themen in der zeitgenössischen Philosophie wieder aufgetaucht sind“.

Rovellis Buch greift diese Debatten wieder auf, aber der Autor schlägt sich auf die Seite von Bogdanov. Er schreibt, dass Lenin „ein außergewöhnlicher Politiker“, aber „kein großer Philosoph“ war. Rovelli ist jedoch zu diesen Schlussfolgerungen gelangt, indem er erstens Lenin falsch interpretiert und zweitens einige der verwirrten Ideen übernommen hat, die Bogdanov vor über einem Jahrhundert angenommen hat.

Materialismus und Idealismus
Wenn es einen klaren roten Faden in Lenins Buch gibt, dann ist es sein Beharren darauf, dass es in der Philosophie zwei unterschiedliche, aber gegensätzliche Strömungen gibt – Materialismus und Idealismus. Vertreter*innen beider Strömungen sind sich darin einig, dass Menschen die Welt um sich herum mit ihren Sinnen wahrnehmen. Lenin erklärt jedoch, dass Materialist*innen glauben, dass unsere Sinne uns ein „Bild“ der realen objektiven Welt um uns herum vermitteln -auch wenn das manchmal unvollkommen sei. Idealist*innen hingegen glauben, dass Gedanken und Empfindungen die grundlegende, einzige Realität sind, die wir wahrnehmen.

Lenin argumentiert, dass jeder, der in dieser Frage „agnostisch“ ist, unweigerlich dem idealistischen Irrtum des „Solipsismus“ erliegt – dem Glauben, dass nichts außerhalb des eigenen Geistes mit Sicherheit existieren kann. Lenin ordnet Mach und Bogdanow dieser „agnostischen“ Kategorie zu – Schriftsteller, die versuchen, einen angeblich besseren „Mittelweg“ zwischen „einseitigem“ Idealismus und Materialismus zu finden. Tatsächlich, so argumentiert Lenin, stiften sie nur Verwirrung, getarnt durch eine clever klingende „neue“ Terminologie.

Bogdanow versuchte, Machs Philosophie durch den Gedanken zu erweitern, dass Objektivität in der menschlichen Vorstellung der physischen Realität entsteht, wenn individuelle Ideen kollektiv als „sozial organisierte Erfahrung“ akzeptiert werden. Lenin warnt davor, dass Bogdanows Philosophie „in marxistischer Terminologie verkleidet und mit marxistischen Worten geschmückt ist. ‚Sozial organisierte Erfahrung‘ ‚kollektiver Arbeitsprozess‘ und so weiter sind marxistische Worte, aber es sind nur Worte, die eine idealistische Philosophie verbergen.“

Nach dieser Definition könnten unwissenschaftliche biblische Lehren über den Kreationismus und über das Alter der Erde, die von Millionen Gläubigen „kollektiv akzeptiert“ werden, als „objektive“ Wahrheiten eingestuft werden. Lenin warnt davor, dass Bogdanows Modell selbst in Idealismus verfällt, weil es nicht erkennt, dass „die physische Welt unabhängig von der Menschheit und der menschlichen Erfahrung existiert, [sie] existierte zu einer Zeit, als keine ‚Sozialität‘ und keine ‚Organisation‘ der menschlichen Erfahrung möglich war“.

Gibt es eine objektive Wahrheit?
Rovelli, der den Unterschied zwischen Lenins Denken und dessen durch den Stalinismus verfälschten Version nicht versteht, wirft Lenin sowohl politischen als auch philosophischen „Dogmatismus“ vor. Er schreibt, dass Lenin „den historischen Materialismus von Marx und Engels so darstellt, als wäre er zeitlos gültig“, was seiner Ansicht nach „nicht mit der Dynamik des wissenschaftlichen Denkens übereinstimmt“. Daduch wiederholt er jedoch dieselben falschen Kritikpunkte, die Bogdanow gegen Lenin vorgebracht hatte, als er falsche ultralinke politische Strategien verfolgte – wie etwa die Forderung, dass die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands ihre Vertreter*innen aus der Staatsduma (Parlament) zurückziehen solle.

In „Materialismus und Empiriokritizismus“ zeigt Lenin, dass Rovellis Vorwurf, marxistisches Denken widersetze sich Veränderungen im wissenschaftlichen Denken, nicht zutrifft. Im Gegenteil: Es begrüßt jeden wissenschaftlichen Fortschritt als einen weiteren Schritt hin zu einem vollständigen Bild der Natur der objektiven Realität, in der wir leben.

Lenin zitiert Engels, der erklärt, wie Marxist*innen glauben, dass die Natur der zugrundeliegenden Realität – die „Dinge an sich“ – offenbart werden kann, wenn unser Wissen vollständiger wird. Neue experimentelle Erkenntnisse bedeuteten natürlich, dass sich unsere Modelle der Natur der Realität ändern mussten. So hat die Quantentheorie beispielsweise gezeigt, dass die Natur der Realität komplexer ist, als man zu der Zeit, als Lenin schrieb, annahm, aber sie muss dennoch versuchen, die Natur der objektiven Realität genau zu beschreiben.

Lenin betont Engels’ Beharren auf dem „Kriterium der Praxis“ – „das Ergebnis unserer Handlungen beweist die Übereinstimmung unserer Wahrnehmungen mit der objektiven Natur der wahrgenommenen Dinge“. Er betont die dialektische Sichtweise des Marxismus – eine Sichtweise, die die Welt nicht (wie Kritiker*innen behaupten) als „ohne Klang und Farbe“ ansieht, sondern als eine Welt, die „reicher, lebendiger und vielfältiger ist, als sie tatsächlich erscheint, denn mit jedem Schritt in der Entwicklung der Wissenschaft werden neue Aspekte entdeckt“.

Für sich genommen mögen diese philosophischen Debatten abstrakt erscheinen. „Materialismus und Empiriokritizismus“ enthält jedoch auch Kapitel, in denen Lenin seine Philosophie auf die wissenschaftlichen Debatten der damaligen Zeit anwendet. Sie zeigen, dass Lenin in Bezug auf wissenschaftliche Theorien alles andere als „dogmatisch“ war. Im Gegenteil: Er erklärt, dass der Marxismus durchaus damit rechnet, dass sich wissenschaftliche Theorien ändern, wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse auftauchen.

Dialektischer Materialismus
Lenin schrieb zu einer Zeit, in der neue, ungeklärte experimentelle Beweise anerkannte wissenschaftliche Theorien in Frage stellten, wie zum Beispiel die Existenz des „Äthers“. Dies bezeichnete ein unsichtbares Medium, von dem angenommen wurde, dass es den gesamten Raum ausfüllt, und durchlässig für Licht und andere elektromagnetische Wellen ist. Lenin schrieb über diese „Krise in der modernen Physik“ und zeigte damit, dass er sich dieser Debatten durchaus bewusst war.

In der Darlegung seines allgemeinen Ansatzes zum wissenschaftlichen Denken bezieht sich Lenin auf Engels’ Schrift über die Wissenschaft, in der betont wird, dass der echte Marxismus, der dialektische Materialismus, einen mechanischen Ansatz ablehnt, der „feste Grenzlinien und Unterscheidungen“ auferlegt. Er fügt hinzu, dass neuere Erkenntnisse, unter anderem in den Bereichen Radioaktivität und Elektromagnetismus, gezeigt hätten, wie Dinge, die zuvor als völlig getrennt galten, in Wirklichkeit eng miteinander verbunden sind.

Lenin erkannte, dass die bis dahin geltenden Modelle der Wissenschaft nur innerhalb bestimmter Grenzen zutreffen würden, wenn man sie im Sinne eines solchen dialektischen Ansatzes begreift. Er verweist auf eines der damals neuesten Beispiele hierfür: die Arbeit von Larmor und Lorentz über die „Zeitdilatation“ und die „Längenkontraktion“, die erforderlich sind, um zu erklären, wie die Physik auf Objekte angewendet werden kann, die sich mit annähernder Lichtgeschwindigkeit bewegen. Diese trugen dazu bei, die Grundlage für Einsteins Spezielle Relativitätstheorie zu schaffen.

Einsteins Entwicklung der Relativitätstheorie bestätigt den dialektischen Ansatz der Entwicklung von Wissen, den Lenin oben skizziert hat. Es ist klar, dass die klassische Newtonsche Mechanik nur innerhalb bestimmter Grenzen ein genaues Bild der Welt um uns herum lieferte. Jenseits dieser Grenzen war ein neues, verfeinertes Modell der Realität erforderlich. Einsteins Theorien bildeten die Grundlage für dieses neue Modell. Die Newtonsche Physik konnte nicht länger als gleichwertige Erklärung der Realität angesehen werden.
Lenin ist weit davon entfernt, sich theoretischen Fortschritten in der Physik zu widersetzen, und er ist sich darüber im Klaren, dass der Marxismus eine Philosophie ist, die darauf besteht, dass die wissenschaftliche Theorie mit der Praxis übereinstimmen muss – und sich folglich ändern muss, wenn neue wissenschaftliche Entdeckungen dies erfordern. Weit davon entfernt, dogmatisch darauf zu bestehen, dass frühere Aussagen nicht revidiert werden dürfen, behauptet Lenin, dass „dies im Gegenteil vom Marxismus gefordert wird“.

Materie ist verschwunden“
Eine weitere neue Erkenntnis basierte auf der Arbeit des britischen Physikers J. J. Thomson, der Experimente zu „Kathodenstrahlen“ durchgeführt und daraus geschlossen hatte, dass diese aus negativ geladenen Teilchen bestehen müssen, die wir heute Elektronen nennen. Weitere Experimente des deutschen Physikers Walter Kaufmann deuteten (zutreffend, wie sich herausstellte) darauf hin, dass die Masse eines Elektrons tatsächlich von seiner Geschwindigkeit abhängt. Bis Einstein jedoch in der Lage war, diese Erkenntnis als „relativistische Masse“ zu erklären (zusammengefasst in seiner bekannten Gleichung E=mc2), kamen einige Wissenschaftler zu dem Schluss (fälschlicherweise, wie sich herausstellte), dass die Masse daher ausschließlich von elektromagnetischen Kräften abhängen müsse.

Dies wurde von einigen Wissenschaftlern als Beweis dafür interpretiert, dass Masse – und damit Materie – überhaupt nicht existiere. Einige Philosophen gingen sogar noch weiter und sagten, dass es daher keine Grundlage für den Materialismus geben könne.

Lenins Reaktion auf diese Behauptungen ist bezeichnend. Er argumentiert nicht gegen den (offensichtlichen) wissenschaftlichen Beweis der „Nullmasse“, sondern nur dagegen, dass dieser keine Grundlage für die falsche „idealistische“ Schlussfolgerung biete, dass Materie daher nicht existiere. Er schreibt, dass „das ‚Verschwinden der Materie‘ … nichts mit der erkenntnistheoretischen Unterscheidung zwischen Materialismus und Idealismus zu tun hat. Wenn die Physiker sagen, dass ‚die Materie verschwindet‘, meinen sie damit, dass die Wissenschaft ihre Untersuchungen der physischen Welt bisher auf drei ultimative Konzepte reduziert hat: Materie, Elektrizität und Äther; während jetzt nur noch die beiden letzteren übrig bleiben“. „So bizarr dies auch aus der Sicht des ‚gesunden Menschenverstands‘ sein mag – all dies ist nur eine weitere Bestätigung des dialektischen Materialismus“.

Zusammenfassend gesagt betont Lenin, dass neue Theorien, die die Existenz von „Materie“ – oder zumindest Materie in der zuvor beschriebenen Form – in Frage stellen, lediglich zeigen, „dass unser Wissen immer tiefer vordringt“, und einen weiteren Schritt „von der relativen Wahrheit zur absoluten Wahrheit“ in Richtung des Verständnisses der tatsächlichen Natur der objektiven Realität machen.
Lenin beschreibt, wie sich Eigenschaften der Materie, die zuvor als „absolut, unveränderlich“ galten (wie die Masse), nun als nicht so herausstellen. Er macht deutlich, dass dies für niemanden, der die wissenschaftlichen Entwicklungen auf dialektische Weise betrachtet, eine Überraschung oder Bedrohung darstellen sollte, da diese Betrachtung „auf die Abwesenheit absoluter Grenzen in der Natur besteht“. Woran der dialektische Materialismus festhält, ist hingegen die Existenz einer „objektiven Realität, die unabhängig vom menschlichen Geist existiert“, wie auch immer wir sie neu modellieren.

Angesichts der experimentellen Beweise für die weit vom „gesunden Menschenverstand“ entfernten Vorhersagen der Quantenmechanik und der Allgemeinen Relativitätstheorie hätte Lenin diese neuen wissenschaftlichen Theorien als weiterführende Erklärungen der Natur der objektiven Realität begrüßt.

Die Natur der Quantenrealität
Rovelli scheint zu glauben, dass Lenins Betonung der philosophischen Kluft zwischen „Materialismus“ und „Idealismus“ unnötig ist. In seinem Kapitel in “Helgoland” über Lenin und Bogdanow schreibt er, dass, wenn Materialismus „der Glaube ist, dass eine Welt jenseits unseres Verstandes existiert … dann … sogar der Papst ein Materialist ist“.

Es stimmt, dass der Fortschritt von Wissenschaft und Kultur im Vergleich zu Lenins Zeiten weniger Raum für philosophischen Idealismus lässt. Dennoch gibt es immer noch viele Millionen Menschen, die an religiöse Erklärungen der Evolution und anderer Aspekte der Wissenschaft glauben. Weitere Milliarden Menschen akzeptieren zwar die moderne Wissenschaft, halten aber gleichzeitig an ihrem religiösen Glauben und der Hoffnung fest, dass eine Art spirituelle Existenz außerhalb der materiellen Welt existiert. Diese individuellen Überzeugungen mögen zwar Trost spenden, können aber auch dazu verwendet werden, Vorurteile zu schüren und den Wunsch nach Veränderung zu dämpfen, in der vergeblichen Hoffnung, dass es einfachere, religiöse oder spirituelle Lösungen für die Probleme der Welt gibt.

Es wäre genauer gewesen, hätte Rovelli davon gesprochen, dass Materialist*innen glauben, dass es „nur“ eine Welt gibt, die jenseits unseres Verstandes existiert. Auf dieser Grundlage ist der Papst sicherlich kein Materialist.

Im wissenschaftlichen Bereich, heute noch mehr als zu Lenins Zeiten, wird die überwältigende Mehrheit der Wissenschaftler*innen, die die reale Welt um uns herum betrachten, unweigerlich eine materialistische Sichtweise annehmen, obwohl sie immer noch dem sozialen und wirtschaftlichen Druck ausgesetzt sind, der sich aus der kapitalistischen Produktion ergibt. Allerdings besteht nach wie vor insbesondere in den eher theoretischen Aspekten der Wissenschaft, wie der Quantenphysik, die Gefahr einer Art philosophischem „Agnostizismus“, wie er von Bogdanow und Mach zum Ausdruck gebracht wurde.

Es gibt einige Ähnlichkeiten zwischen den Debatten zwischen Lenin und Bogdanow und denen, die zwischen den theoretischen Größen Albert Einstein und Niels Bohr über die Interpretation der Quantenmechanik stattfanden. Bohr begnügte sich damit, sich auf abstrakte mathematische Beschreibungen zu konzentrieren. Einstein war der Meinung, dass die Physik noch weiter gehen müsse. Er begrüßte Bohrs Wahrscheinlichkeitsmodell, da man damit das Verhalten einer Ansammlung von Teilchen im Durchschnitt erklären konnte, betrachtete es dabei aber als eine „unvollständige Beschreibung“, die das Verhalten oder die Natur einzelner Teilchen noch nicht erklären konnte.

Obwohl die Quantentheorie heute Phänomene von subatomaren Teilchen bis hin zu Sternen erfolgreich vorhersagen kann, gibt es immer noch bedeutende wissenschaftliche und philosophische Debatten über die genaue Natur der Realität, die ihrer theoretischen Mathematik zugrunde liegt. Rovellis “Helgoland” skizziert eine Reihe alternativer Modelle, von denen einige nach Rovellis Ansicht „in eine implizite Form des Idealismus“ fallen.

“Helgoland” wurde zum Teil geschrieben, um Rovellis eigenes favorisiertes Modell der „Relationalen Quantenmechanik“ bekannt zu machen. Dieses besagt, dass jedes Objekt in Bezug auf seine Interaktion mit jedem anderen Objekt betrachtet werden muss und dass Teilchen für uns nur dann tatsächlich „existieren“, wenn wir mit ihnen interagieren oder sie „beobachten“. Die Relationale Quantenmechanik ist sicherlich nicht unumstritten, und einige Kritiker*innen werfen Rovelli vor, seine genauen Bedeutungen mit „neuen Worten“ zu verschleiern – was an Lenins Kritik an Mach und Bogdanow erinnert.

Natürlich sind Lenins wissenschaftliche Beschreibungen aus dem Jahr 1909 inzwischen zwangsläufig veraltet. So ist beispielsweise seine und Engels’ Kurzform zur Beschreibung der objektiven Realität als „Materie in Bewegung“ inzwischen eine zu stark vereinfachte Formulierung. Rovelli täte jedoch gut daran, Lenins Philosophie mit mehr Offenheit neu zu lesen, um zu sehen, wie sie in den heutigen philosophischen und wissenschaftlichen Debatten hilfreich sein könnte. Und auch wenn sich die wissenschaftlichen Vorstellungen von Raum und Zeit seit 1909 geändert haben mögen, so ist die Notwendigkeit, dass die Wissenschaft in der Lage sein muss, die Natur dieser Realität erfolgreich zu erklären, geblieben. Wie Lenin damals schrieb:

„Die menschlichen Vorstellungen von Raum und Zeit sind relativ, aber diese relativen Vorstellungen gehen in die absolute Wahrheit ein. Diese relativen Vorstellungen bewegen sich in ihrer Entwicklung auf die absolute Wahrheit zu und nähern sich ihr immer mehr an. Die Veränderlichkeit der menschlichen Vorstellungen von Raum und Zeit widerlegt die objektive Realität von Raum und Zeit ebenso wenig wie die Veränderlichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Struktur und die Formen der Materie in Bewegung die objektive Realität der Außenwelt widerlegt.“

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Sozialist*innen sich gerne an Marx’ „elfte These“ über Feuerbach erinnern, in der es heißt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern“. Eine solche Veränderung ist nicht nur dringend erforderlich, um die drängenden Probleme Armut, Ungleichheit, Krieg und Klimawandel anzugehen, sondern auch, um Zeit und Ressourcen bereitzustellen, damit die Menschheit ihr Verständnis für die Natur des Universums, in dem wir leben, vollständig entwickeln kann.

Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache auf www.socialismtoday.org