Interview mit Claire Bayler von der Independent Socialist Group (ISG)
In Deutschland verstehen viele nicht, wie man für Trump angesichts seiner Lügen, seines Auftretens und seiner Politik stimmen kann. Wie erklärt sich sein Wahlsieg?
Trump hat diese Wahl nicht gewonnen. Die Demokrat*innen haben sie verloren. Während zweieinhalb Millionen mehr Wähler*innen für Trump gestimmt haben als im Jahr 2020, hat die Demokratische Partei sieben Millionen Stimmen verloren. Insgesamt wählten vier Millionen weniger Menschen.
Die Menschen waren unglaublich desillusioniert von den Konzern-Kandidat*innen, selbst nachdem die Demokrat*innen Biden durch Harris ausgetauscht hatten. Wenn den Menschen nur zwei Optionen für politische Parteien und Kandidat*innen zur Verfügung stehen, gilt die Logik des „kleineren Übels“ in beide Richtungen – es ist schwer, jemanden als kleineres Übel zu bezeichnen, der den anhaltenden Völkermord in Gaza ermöglicht. Im Wahlbezirk der Abgeordneten Alexandria Ocasio Cortez (AOC) aus der „Riege“ der sogenannten linken Demokrat*innen haben viele Menschen sowohl für sie als auch für Trump gestimmt. Ohne eine echte Arbeiter*innenpartei kann der oberflächliche Populismus einiger Kandidat*innen beider Parteien ein Echo finden.
Die Wirtschaft ist nach wie vor der wichtigste Faktor für die Wähler*innen. Die Menschen machen sich Sorgen, ob sie morgen noch einen Job haben und die Miete bezahlen können. Unter der Regierung Biden/Harris gab es eine Inflation von historischem Ausmaß, die sich unverhältnismäßig stark auf lebensnotwendige Güter wie Lebensmittel, Wohnung, Gesundheitsversorgung und Verkehrsmittel auswirkte. Während der Pandemie verabschiedeten sie Rettungsmaßnahmen für Unternehmen und Subventionen anstelle einer allgemeinen Gesundheitsversorgung, während Arbeiter*innen ihre Arbeit, ihr Zuhause oder ihr Leben verloren.
Harris musste in ihrer Wahlkampagne die Politik der letzten vier Jahre verteidigen, einschließlich der Milliarden für die Militärhilfe für Israel. Sie musste Trumps Rechtspopulismus entgegentreten, bot aber nur vage Versprechungen zur Verbesserung des Lebensstandards mit sehr wenigen konkreten Vorschlägen. Wie konnten die Wähler*innen aus der Arbeiter*innenklasse Vertrauen in sie haben, wenn sie von Unternehmensberater*innen umgeben war und massiv mit Unternehmensgeldern unterstützt wurde? Die Betonung ihrer Identität als farbige Frau konnte ihre lange Karriere als kapitalistische Politikerin nicht wettmachen.
Wie haben linke und unabhängige Kandidat*innen abgeschnitten?
Die Kampagne von Jill Stein (Grüne Partei) erhielt landesweit 0,5 Prozent der Stimmen. Ihre Kampagne stand eindeutig für eine Anti-Kriegs- und Anti-Konzern-Plattform, aber die Kampagnen von dritten Parteien und Unabhängigen sind vielen Wähler*innen gar nicht bekannt. Bemerkenswert ist, dass ihre Kampagne in Dearborn, Michigan, 18 Prozent der Stimmen erhielt.
Die unabhängige Kampagne von Dan Osborn für den Senat in Nebraska gegen die republikanische Amtsinhaberin Deb Fischer war eine sehr starke Kandidatur, die leider verloren wurde. Osborn erhielt 47 Prozent der Stimmen, übertraf aber deutlich die 39 Prozent von Harris bei den Präsidentschaftswahlen. Er setzt zu Recht den Kampf nach dem Wahltag fort, aber wir rufen Osborn auf, bei der Gründung einer Arbeiter*innenpartei – mit demokratischer Mitgliedschaft, Entscheidungsfindung und Rechenschaftspflicht – zu helfen, statt bei der eines Politischen Aktionskomitees, wie er angekündigt hat.
Gibt es Beispiele für Volksabstimmungen, die zeigen, dass die Menschen progressive Forderungen unterstützen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben?
Die Ergebnisse verschiedener Volksabstimmungen zeigen, dass ein zweites Trump-Regime nicht bedeutet, dass eine Mehrheit der Amerikaner*innen für rechtsextreme Ideen gewonnen ist. Mehrere Staaten stimmten über Maßnahmen zum verfassungsmäßigen Recht auf Abtreibung ab, weil das Roe v. Wade Verfassungsgerichtsurteil unter Biden/Harris gekippt wurde. Ein großer Teil der Wahlkampfstrategie der Demokraten, das „kleinere Übel“ zu wählen, besteht seit Jahrzehnten darin, das Abtreibungsrecht als Geisel zu halten. Sie weigern sich immer wieder, Bundesgesetze zu verabschieden, selbst wenn sie sowohl den Kongress als auch das Weiße Haus kontrollieren, wie in Teilen der Regierungen Biden/Harris und Obama.
In diesem November haben sieben Bundesstaaten – Arizona, Colorado, Maryland, Missouri, Montana, New York und Nevada – Verfassungsgesetze zum Recht auf Abtreibung verabschiedet, während drei davon in Florida, Nebraska und South Dakota abgelehnt wurden.
Aber selbst zwei der drei Niederlagen zeigen nicht, dass mehr Menschen Abtreibungsverbote als Abtreibungsrechte befürworten. In Florida stimmten 57 Prozent für Abtreibungsrechte (56 Prozent stimmten hier für Trump), aber der Staat verlangt sechzig Prozent für Verfassungsänderungen. In Nebraska verlor die Maßnahme der Abtreibungsbefürworter*innen sehr knapp (48,8 Prozent). Einige dieser Staaten gelten traditionell als „konservativ“, wie Missouri.
In ähnlicher Weise haben Arkansas und Missouri Maßnahmen zur Anhebung des Mindestlohns auf 15 Dollar pro Stunde und zur Verpflichtung der Unternehmer*innen, den Arbeiter*innen bezahlten Krankenurlaub zu gewähren, verabschiedet. Nebraska verabschiedete eine Regelung für bezahlten Krankenurlaub. Arizona lehnte eine Initiative zur Einführung eines niedrigeren Mindestlohns für Beschäftigte, die Trinkgeld erhalten, ab, während Massachusetts, ein traditionell „liberaler“ Bundesstaat, für die Beibehaltung eines solchen niedrigeren Mindestlohns stimmte.
Die Unterstützung für die Belange der Arbeiter*innenklasse lässt sich manchmal deutlicher an solchen Abstimmungen ablesen. Aber Unternehmen können immer noch Millionen ausgeben und Politiker*innen und Gerichte nutzen, um Maßnahmen zu blockieren, zu kippen oder rückgängig zu machen. Die Legislative von Massachusetts verabschiedete eine Steuersenkung, um die „Millionärssteuer“ auszugleichen, die von der Lehrer*innengewerkschaft vorgeschlagen und von den Wähler*innen im Jahr 2022 zur Finanzierung öffentlicher Schulen und des öffentlichen Nahverkehrs angenommen wurde. Auch wenn klar ist, dass die kapitalistische „Demokratie“ ihre Grenzen hat, ist es für die Arbeiter*innenklasse und Sozialist*innen nach wie vor entscheidend, die Kapitalist*innenklasse bei Wahlen herauszufordern, als Teil unseres Kampfes, die Gesellschaft und die Wirtschaft Milliardär*innen und Millionär*innen wie Trump, Biden und Harris aus den Händen zu nehmen.
Das Interview führte Wolfram Klein